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in anthropologischer Perspektive ging es zunächst um die Herstellung von Recht und Gerechtigkeit und um die Unterstützung von Lernen –, doch hat sich im Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gezeigt, dass für ein funktionales Rechts- und Erziehungssystem spezialisierte juristische und pädagogische Berufsgruppen notwendig geworden sind. Auf Seiten der Jurisprudenz hat sich die spezialisierte juristische Berufsgruppe der Anwälte und in der Folge auch die der Fachanwälte und auf Seiten der Pädagogik die spezialisierte pädagogische Berufsgruppe der Lehrer herausgebildet. Entsprechend der systematisch-begrifflichen Ausdifferenzierung, die hier zu Grunde gelegt wird, ist der Lehrer demnach ein unterrichtender Erzieher. Ähnlich der Systematik im Bereich der ärztlichen Praxisfelder wird beim Lehrer eine Form pädagogischen Handelns, nämlich das Unterrichten, zum Hauptbetätigungsfeld, das auch durch institutionelle Rahmenbedingungen (Schule und Schulsystem) abgesichert ist. Genau genommen wäre ein Lehrer ein Facherzieher für Schulpädagogik mit entsprechendem Tätigkeitsschwerpunkt (Grund-, Mittel-, Real-, Förderschule, Gymnasium und Berufsschule). Wenn also im Folgenden von Erzieher gesprochen wird, dann in diesem skizzierten Sinne und in dem Verständnis, dass diese Begrifflichkeit die Ausdifferenzierungen der pädagogischen Berufe (Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Sonder- und Heilpädagogik u. a.) miteinschließt. So wie es üblich ist, vom Arzt zu sprechen und dann auch die Orthopäden, Neurologen, Dermatologen usw. mit zu meinen, so sprechen wir allgemein vom Erzieher und beziehen die Lehrer, die Sozialpädagogen, die Sonder- und Heilpädagogen usw. mit ein. Dass dieser Zugang prinzipiell möglich ist, liegt unter anderem auch in dem Sachverhalt begründet, dass die erzieherisch-professionelle Grundoperation, nämlich das Zeigen, in allen pädagogischen Handlungsfeldern zum Ausdruck kommt und damit das Pädagogische der Interaktionsfigur abbildet (Berdelmann/Fuhr 2020). Der diesbezüglich häufig »erhobene Einwand, das Erziehen sei so vielfältig und unabsehbar reich in seinen Gestaltungen und Besonderheiten, wird hinfällig, wenn die operative Basis überall dieselbe ist« (Prange 2000, 233). Fehlen aber die zeigenden Bemühungen des Erziehers, um Themen so zur Darstellung zu bringen, dass sie auch von den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen angeeignet werden können, kann auch nicht mehr von Erziehung gesprochen werden. Die Zeigegeste ist in der Lage, die unterschiedlichen Bereichspädagogiken und Subdisziplinen der Pädagogik im Kern zu vereinen und deutlich zu machen, was genau erzieherisches Handeln ausmacht.

      Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist für praktische Wissenschaften neben der Zentralwertbezogenheit bereits ein weiteres charakteristisches Merkmal angeklungen: Die Disziplinentwicklung – also die Entwicklung hin zu einer Wissenschaft – folgt der Praxis nach. Das heißt für das hier in Rede stehende Beispiel, dass lange bevor systematische Kenntnisse vom kranken Menschen zur Verfügung standen, schon mehr oder weniger erfolgreiche Bemühungen um die Kranken und Verletzten praktiziert wurden. Die Krisenhaftigkeit des menschlichen Lebens zwingt zur Handlung, was bedeutet, dass ein kranker oder verletzter Mensch in der Frühzeit unserer Menschheitsgeschichte nicht warten konnte, bis evidenzbasiertes medizinisches Wissen und ärztliches Können zur Verfügung standen – er musste versorgt werden. Erst durch das aufgrund der Krise erzwungene Tätig-Sein entwickelte sich dieses allmählich zu einer professionellen Praxis: Man wusste dann durch Erfahrung so langsam, was wirkt. Zudem entstand ebenso allmählich ein systematisches Wissen über den Gegenstand und seine kunstfertige Behandlung, die als Theorie der Praxis begriffen werden kann. Für praktische Wissenschaften gilt also, dass die Praxis immer älter ist als die Theorie. Mit Bezug auf unser Beispiel bedeuten diese Ausführungen, dass die professionelle ärztliche Praxis (Profession) und die korrespondierende medizinische Wissenschaft (Disziplin), wie wir sie heute kennen, ihren Ursprung in den vor-professionellen und vor-disziplinären heilkundlichen Bemühungen um den leidenden Menschen (Patienten) haben. Das Primat der Praxis (vor der Theorie) ist damit konstitutiv für praktische Wissenschaften und deren professionelle Praxen. Dieser Sachverhalt ist auch für die Rechtswissenschaften und die Theologie mit ihren auf ihre eigentümlichen Zentralwerte bezogenen Interventionspraxen evident: Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit sowie die Frage nach Sinn und letztendlicher Wahrheit sind Fragen, die das Wesen des Menschen ausmachen. Sie hatten lange vor einem Rechtsstaat, vor der Etablierung von Religionen und der Wissenschaften zentrale Bedeutung für die Lebenspraxis der Menschen. Gleiches gilt auch für die Pädagogik als Disziplin, die in gewisser Weise das die Erziehung begleitende systematische Bewusstsein darstellt. Die Praxis des Erziehens ist allerdings ebenso immer älter als deren Reflexion.

      Damit kommen wir zu einem weiteren Merkmal praktischer Wissenschaften: das der Kunstfertigkeit ihrer professionellen Praxis. Das spezielle Können einer praktischen Wissenschaft gleicht mehr einer Kunstfertigkeit und das diesbezügliche Wissen mehr einer Kunstlehre als einer standardisierbaren Tätigkeit mit entsprechend eindeutiger Wissensbasis. Dieser Tatbestand findet sich auch schon in der Bezeichnung »Praxis« repräsentiert. Die Begriffe von Theorie und Praxis bezogen sich ursprünglich auf die Gestaltung unterschiedlicher Lebensweisen. Für Aristoteles (vgl. 2006) existierten drei gleichberechtigte Wissenschaftsarten, die er als die praktische, die poietische und die theoretische Wissenschaft benannte. Im Blick auf die praktische Wissenschaft ist ihre Abgrenzung zur Poiesis bedeutend. Poietisches lässt sich als »Machen« beschreiben, das seinen Sinn durch das Ergebnis erfährt. Poiesis beschreibt ein Wissen und ein Können, das eindeutig zu vermitteln ist und gewissermaßen in einem Meister-Schüler-Verhältnis weitergegeben werden kann. Wenn ich zum Beispiel tanzen lernen will, dann werde ich mir sicherlich jemanden suchen, der gut tanzt und mir diese Fertigkeit so zeigt, dass ich sie mir ebenfalls aneignen kann. So spricht man ja auch von einem Gesellenstück als ein herzustellendes Werkstück im Rahmen der Gesellenprüfung am Ende der Ausbildung. Gleiches gilt auch für das so genannte Meisterstück als Ausweis dafür, dass man es zu einem Meister in seinem Fach bzw. in seinem Handwerk gebracht hat. Poietisches Wissen und Können zeichnen sich also durch ein hohes Maß an Standardisierbarkeit, Eindeutigkeit und Berechenbarkeit mit Blick auf den zu behandelnden Gegenstand ab – sei es nun die Installation von Wasserleitungen, das Tapezieren von Wänden, der Anschluss der Telefonanlage oder die Reparatur des Autos.

      Die Praxis dagegen ist kein Agieren oder Machen, sondern ein Handeln, das seinen Sinn schon in sich trägt und daher eher prozesshaft ist. Selbstverantwortliche Menschen handeln sinnvoll und sozial – also auf andere Menschen hin ausgerichtet. In diesem Verständnis stellen Praxis und Theorie ergänzende Aspekte der Wissenschaft dar. Wir sprechen deshalb im Blick auf die Pädagogik von einer praktischen Wissenschaft. Wissen und Können, das sich im Rahmen einer Praxis vollzieht, ist eher mehrdeutig und weniger standardisierbar und berechenbar. Ein solches Wissen und Können bezieht sich auf einen Gegenstand, der im Grunde erst durch den Menschen selbst hervorgebracht und durch ihn veränderbar wird. Immer wenn Menschen handelnd in Erscheinung treten, erweisen sich ihre Ausdrucksgestalten als mehrdeutig, weniger klar bestimmt und in vielen Fällen interpretationsbedürftig. So kann zum Beispiel die gefühlsmäßige Reaktion auf ein gleiches Ereignis bei den beteiligten Personen ganz unterschiedlich ausfallen. Oder, wir kennen das alle, was uns heute ärgert, lässt uns morgen vielleicht völlig kalt. Da der Mensch seiner Lebenspraxis fortwährend gewollt und bewusst oder ungewollt und unbewusst Sinn oder gar Bedeutung unterstellt, gestaltet sich das Unterfangen, den Gründen des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns nachzugehen, als ein außerordentlich ungewisses. Dies gilt zumindest dann, wenn man von einem Reiz direkt auf eine Reaktion schließen will, ohne die höchst individuelle, von der lebensgeschichtlichen Erfahrung abhängige, sinn- und bedeutungsstiftende Modulation des Reizes durch den Menschen zu berücksichtigen. Und es gilt sowohl für den Menschen selbst als auch für diejenigen, die in einem professionellen Verhältnis zu diesem stehen. So wissen wir nie, auch wenn wir den Tag gut geplant haben, was uns so erwartet und welchen Verlauf dieser nehmen wird. Wenn es gut geht, können wir am Ende des Tages Auskunft darüber geben, wie es gelaufen ist. Als Menschen sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wir in eine ungewisse Zukunft hineinleben müssen. Und für die professionellen Praktiker stellt sich dieses konstitutive Merkmal menschlicher Lebenspraxis noch einmal in einer verschärften Form dar.

      Als professionelle Praktiker sind wir herausgefordert, den jeweiligen Einzelfall, mit dem wir in einem professionellen Verhältnis stehen, vor dem Hintergrund unseres disziplinären wissenschaftlichen Wissens zu deuten und hieraus Interventionsstrategien abzuleiten. Das macht den Kern interventionspraktischen Wissens und Könnens aus: die konstitutive Vermittlungsleistung zwischen Einzelfall und allgemeinem Wissen. Eine

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