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Der Kurier des Zaren. Jules Verne
Читать онлайн.Название Der Kurier des Zaren
Год выпуска 0
isbn 9788726642896
Автор произведения Jules Verne
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Wenn in diesem Abteil das Gesprächsthema so ziemlich ein und dasselbe war, so verhielt es sich ebenso in den anderen Wagen des Zuges; aber überall hätte der Beobachter bemerken müssen, dass die Reisenden in all ihren miteinander gewechselten Reden äusserst zurückhaltend waren. Sobald sie sich einmal auf das Gebiet von Tatsachen wagten, so gingen sie doch niemals so weit, Vermutungen über die Absichten der russischen Regierung anzustellen oder gar Kritik zu üben. Dies fiel denn auch einem Reisenden auf, der in einem Wagen an der Spitze des Zuges sass. Dieser Reisende — wahrscheinlich ein Fremder — hatte die Augen überall und stellte eine Frage über die andere, auf die alle sehr ausweichend geantwortet wurde. Jeden Augenblick neigte er sich zum Fenster hinaus, dessen Scheibe er heruntergelassen hatte zum heftigen Verbruss seiner Reisegefährten, und beobachtete unausgesetzt den Horizont zur rechten Hand. Er fragte nach den Namen der unbedeutendsten Örtlichkeiten, nach ihrer Lage, ihrem Handel, ihrer Industrie, ihrer Einwohnerzahl, der mittleren Sterblichkeitsziffer beider Geschlechter und so weiter, und all das schrieb er in ein Notizbuch, das schon mit Schriftzeichen bedeckt war. Dies war der Korrespondent Alcide Jolivet, und wenn er auch so viele unbedeutende Fragen tat, so hoffte er inmitten so vieler Antworten, die auf seine Fragen kamen, irgendeine interessante Tatsache zu erhaschen, an der „seiner Cousine“ gelegen sein könnte. Aber natürlich hielt man ihn für einen Spion, und man sprach vor ihm kein Wort, das, die Ereignisse des Tages verraten hätte. Da er nun sah, dass nichts zu erfahren war, was auf den tatarischen Einfall Beziehung hatte, so schrieb er in sein Notizbuch: „Die Reisenden sind von grösster Zurückhaltung. Lassen über politische Dinge so gut wie nichts verlauten.“
Während Alcide Jolivet seine Reiseeindrücke aufs peinlichste niederschrieb, war sein Kollege, der gleich ihm in diesem Zuge fuhr und zu demselben Zweck reiste, in einem anderen Abteil ebenfalls in fleissige Beobachtung vertieft. Sie hatten sich beide an diesem Tage auf dem Bahnhof nicht getroffen und wussten voneinander nicht, dass beide abgereist waren, um den Kriegsschauplatz zu besuchen. Nur hatte Harry Blount, der selbst wenig sprach, doch um so mehr horchte, bei seinen Reisegefährten nicht dasselbe Bedenken gegen seine Person erweckt wie Alcide Jolivet. So hatte man ihn auch nicht für einen Spion gehalten, und ohne sich zu scheuen, unterhielten sich die Leute in seinem Beisein und liessen sich mehr gehen, als eigentlich mit ihrer natürlichen Vorsicht vereinbar war. Der Korrespondent des Daily-Telegraph hatte daher erkennen können, wie sehr die Ereignisse die nach Nischni-Nowgorod fahrenden Handelsmänner beschäftigten und bis zu welchem Grade der Handel mit Zentralasien in seinem Fortgang bedroht war. So hatte er auch ohne Zögern in seinem Notizbuch die folgende berechtigte Bemerkung niedergeschrieben: „Die Reisenden sind äusserst beunruhigt. Es dreht sich alles nur um den Krieg, und sie sprechen darüber mit einem Freimut, der zwischen der Wolga und der Weichsel wundernehmen muss.“ Die Leser des Daily Telegraph wurden also in jedem Fall genau so gut unterrichtet wie die „Cousine“ von Alcide Jolivet.
Inzwischen lag es auf der Hand, dass die russische Regierung angesichts der ernsten Sachlage selbst im Innern des Reiches strenge Massregeln ergriff. Der Aufstand hatte sich noch nicht über die sibirische Grenze ausgedehnt, aber in den Wolgaprovinzen, die so nahe am Kirgisenlande gelegen waren, stand die Wirkung widriger Einflüsse schon zu befürchten. Die Polizei hatte die Spur Iwan Ogareffs nicht wieder auffinden können. Dieser Verräter, der, um seiner persönlichen Rachsucht Genüge zu tun, die Fremden herbeirief, hatte sich vielleicht mit Feofar-Khan zusammengetan, oder suchte er den Aufstand im Bezirk Nischni-Nowgorod anzufachen, das zu dieser Jahreszeit eine Bevölkerung von so viel verschiedenen Elementen in sich schloss? Hatte er nicht unter diesen Persern, Armeniern und Kalmücken, die zu dem grossen Markt herbeiströmten, Vertrauensmänner, die von ihm beauftragt waren, eine Bewegung im Innern wachzurufen? Zumal in einem Lande wie Russland waren alle diese Voraussetzungen möglich. Das weite Reich, das zwölf Millionen Quadratkilometer zählt, kann die Gleichartigkeit der Staaten Westeuropas nicht haben. Unter den verschiedenen Völkern, aus denen es sich zusammensetzt, bestehen notwendigerweise tief eingreifende Verschiedenheiten. Das russische Territorium, in Europa, Asien und Amerika, erstreckt sich vom 15. östlichen Längengrad bis zum 133. westlichen Längengrad, hat also eine Ausdehnung von über 200 Graden (annähernd 2500 Meilen), und vom 38. südlichen Breitengrad bis zum 81. nördlichen Breitengrad eine Ausdehnung von 43 Graden (etwa 100 Meilen). Man zählt über 70 Millionen Einwohner und spricht 30 verschiedene Sprachen. Die slavische Rasse herrscht zweifellos vor, sie umfasst aber ausser den Russen auch die Polen, Litauer und Kurländer. Hierzu kommen noch die Finnen, Esten, Lappen, Tschermissen, Tschuwaschen, Permjaken, Deutschen, Griechen, Tataren, die kaukasischen Stämme, die Mongolenhorden, Kalmücken, Samojeden, Kamtschadalen, Alëuten. Man wird begreifen, dass die Einheit eines solchen Riesenstaates nur schwer aufrechtzuerhalten ist, und dass dies nur ein Werk der Zeit und der Klugheit der Regierung sein kann.
Wie dem auch sei, Iwan Ogareff hatte es bisher verstanden, allen Nachforschungen zu entgehen und war höchstwahrscheinlich zur tatarischen Armee gestossen. Aber auf jeder Station, wo der Zug hielt, erschienen Polizeiinspektoren, und alle Reisenden mussten sich einer ziemlich peinlichen Untersuchung unterziehen; denn auf Befehl des Polizeichefs war man auf der Suche nach Iwan Ogareff. Die Regierung glaubte nämlich zu wissen, dass dieser Verräter noch nicht das europäische Russland verlassen habe. Jeder Reisende, der verdächtig erschien, hatte sich auf dem Polizeiamt auszuweisen. Der Zug fuhr inzwischen weiter, ohne sich irgendwie um den Zurückbleibenden zu bekümmern. Bei der russischen Polizei, die sehr rücksichtslos war, hatte es nicht den geringsten Zweck, sein Recht geltend machen zu wollen. Die Polizeibeamten hatten hier militärischen Rang und handelten militärisch. Dies war übrigens das Mittel, widerspruchslosen, unbedingten Gehorsam zu erzielen für einen Fürsten, der das Recht hatte, an die Spitze seiner Regierungserlasse die folgende Formel zu setzen: „Wir, von Gottes Gnaden, Kaiser und Selbstherrscher aller Reussen, von Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Zar von Kasan und Astrachan, Zar von Polen, Zar von Sibirien, Zar von Taurien und Cherson, Landesherr von Pskoff, Grossfürst von Smolensk, Litauen, Wolhynien; Podolien und Finnland, Fürst von Estland, Livland, Kurland und Semgallen, Bjelostok, Karelien, Tschugrien, Perm, Wjatka, Bulgarien und mehreren anderen Ländern, Landesherr und Grossfürst der Territorien von Nischni-Nowgorod, Tschernigoff, Rjäsan, Polozk, Rostoff, Jaroslawl, Bjelosersk, Udorien, Obdorien, Kondinien, Witebsk, Mstislawl, Machthaber, über die nordischen Regionen, Landesherr von Iberien, Kartalinien, Grusien, Kabarda, Armenien, Erb- und Oberlehnsherr der Tscherkessenfürsten, derer vom Berge wie der anderen, Erbe von Norwegen, Herzog von Schleswig-Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Oldenburg.“ Wahrlich ein mächtiger Herrscher, dessen Wappen einen zweiköpfigen, Zepter und Erdkugel haltenden Adler darstellte, umgeben von den Wappenschildern Nowgorods, Wladimirs, Kiews, Kasans, Astrachans, Sibiriens, umschlossen von der Kette des St. Andreasordens und überragt von einer königlichen Krone.
Bei Michael Strogoff war alles in Ordnung und infolgedessen war er auch vor allen Polizeimassregeln geschützt. Auf der Station Wladimir hielt der Zug einige Minuten — dies schien für den Korrespondenten des Daily-Telegraph genügend, um zugleich vom physischen und moralischen Standpunkt aus einen vollständigen Einblick in die alte Hauptstadt Russlands zu tun.
Auf dem Bahnhof Wladimir stiegen neue Reisende ein. Unter anderen trat in die Tür des Abteils, wo Michael Strogoff sass, ein junges Mädchen. Vor dem Kurier des Zaren war ein leerer Platz. Nachdem das junge Mädchen einen bescheidenen Reisesack aus rotem Leder — scheinbar ihr ganzes Gepäck — neben sich gelegt hatte, setzte sie sich hin. Dann senkte sie den Blick, ohne auch nur die Reisegfährten zu betrachten, mit denen der Zufall sie zusammengeführt hatte, und setzte sich zurecht zu einer jedenfalls mehrere Stunden währenden Reise. Michael Strogoff konnte nicht umhin, sein neues Gegenüber aufmerksam zu betrachten. Da sie so sass, dass sie nach rückwärts fuhr, bot er ihr seinen Platz an, der ihr vielleicht lieber war, aber sie dankte mit einer leichten Verbeugung. Dieses junge Mädchen mochte 16 bis 17 Jahre alt sein. Ihr wahrhaft reizender Kopf zeigte den slavischen Typus in vollendeter Reinheit — einen etwas strengen Typus, durch den ihr beschieden war, einmal eher schön als lieblich zu werden, wenn erst noch einige weitere Jahre ihren Zügen Festigkeit verliehen haben würden. Unter einer Art Spitzentuch, das sie über dem Kopf trug, kam eine Fülle goldblonden Haares hervor. Ihre Augen waren braun mit einem sammetnen Blick von unendlicher Weichheit. Ihre gerade Nase hob sich mit leicht beweglichen Flügeln