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Der Kurier des Zaren. Jules Verne
Читать онлайн.Название Der Kurier des Zaren
Год выпуска 0
isbn 9788726642896
Автор произведения Jules Verne
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
So lief denn Michael Strogoff in der Stadt herum und suchte sich, ohne sich allzusehr zu beunruhigen, irgendeine Herberge, um dort zu nächtigen. Aber daran war ihm eigentlich nicht viel gelegen, und hätte ihm der Hunger nicht stark zugesetzt, so würde er wahrscheinlich bis zum Morgen in den Strassen von Nischni-Nowgorod herumgeirrt sein. So war er also mehr auf der Suche nach einem Abendessen als nach einem Nachtlager. Indessen sollte er beides in der „Stadt Konstantinopel“ antreffen.
Dort bot ihm der Herbergsvater ein einigermassen passendes Zimmer an, das zwar nicht viel Mobiliar aufzuweisen hatte, dem aber weder die Jungfrau Maria im Bilde, noch einige Heilige im Porträt fehlten, denen goldene Bortenstoffe als Rahmen dienten. Eine mit gesäuerter Fleischmasse gefüllte Ente, die in einer dicken Mehltunke schwamm, Gerstenbrot, Buttermilch, Staubzucker mit Zimt vermischt, ein Krug Kwas, bekanntlich ein in Russland sehr gebräuchliches Bier, wurden ihm alsbald aufgetragen, und so viel brauchte er gar nicht, um satt zu werden. Aber er ass sich satt und weit satter sogar als sein Tischnachbar, der als „Altgläubiger“ der Raskolnikensekte das Enthaltsamkeitsgelübde abgelegt hatte, infolgedessen die Kartoffeln aus seiner Schüssel tat und sich stark hütete, Zucker in seinen Tee zu tun.
Nach eingenommenem Abendbrot setzte Michael Strogoff, statt in sein Zimmer hinaufzugehen, mechanisch seinen Spaziergang durch die Stadt fort. Aber obgleich sich die lange Dämmerzeit noch erheblich ausdehnte, zerteilte sich bereits die Menge, die Strassen wurden allmählich öde und leer, und jeder suchte seine Wohnung wieder auf. Warum hatte sich Michael Strogoff nicht bequem ins Bett gelegt, wie es nach einem ganzen, in der Bahn verlebten Tage doch wohl am Platze war? Dachte er etwa an das junge Mädchen aus Livland, das ein paar Stunden lang seine Reisegefährtin gewesen war? Da er nichts Besseres zu tun hatte, war er mit seinen Gedanken bei ihr. Befürchtete er, dass ihr, ohne Halt und Stütze in dieser geräuschvollen Stadt, Schimpf und Schande widerfahren könnte? Ja, das befürchtete er — und mit solcher Befürchtung hatte er recht. Hoffte er etwa, ihr zu begegnen und ihr im Notfall seinen Schutz angedeihen zu lassen? Nein. Sie zu treffen war schwierig, und sie zu schützen — besass er dazu ein Recht?
„Allein,“ sprach er bei sich, „allein inmitten dieser Horden! Und was bedeuten die Gefahren schliesslich neben jenen anderen Gefahren, die ihr die Zukunft vorbehält! Sibirien! Irkutsk! Was ich für Russland und den Zaren versuchen will, will sie vielleicht auch tun. Sie! Für — für wen? Wofür? Sie ist befugt, die Grenze zu überschreiten! Und das Land drüben ist im Aufstand! Tatarenbanden jagen durch die Steppen!“ Michael Strogoff hielt eine Weile inne und überlegte. „Ohne Zweifel ist ihr der Gedanke“, sagte er bei sich, „zu dieser Reise vor dem Einbruch der tatarischen Horden gekommen. Vielleicht weiss sie selber nicht einmal, was vorgeht . . . Aber nein, diese Kaufleute haben doch in ihrer Gegenwart von den Wirren, die in Sibirien herrschen, gesprochen — und sie hat gar nicht ausgesehen, als ob das sie wundere, sie hat nicht einmal nach Erklärung gefragt. Aber dann wusste sie doch — und ist doch gegangen, trotzdem? Das arme Kind! Es muss doch also ein mächtiger Beweggrund sein, der sie treibt. Aber so mutig sie sein mag — und mutig ist sie ganz gewiss — werden unterwegs doch die Kräfte sie im Stich lassen und, von Gefahren und Hindernissen gar nicht zu reden, wird sie die Strapazen solcher Reise doch nicht ertragen können — Irkutsk wird sie nun und nimmer erreichen können!“
Michael Strogoff ging inzwischen immer aufs Geratewohl weiter; da er aber die Stadt genau kannte, konnte es ihm keine Verlegenheit bereiten, seinen Weg wiederzufinden. Nach einem etwa halbstündigen Marsch setzte er sich auf eine an einer grossen Holzbude, die in der Mitte von vielen anderen auf einem sehr grossen Platz stand, angebrachte Bank. Fünf Minuten sass er etwa dort, als ihn eine Hand kräftig packte: „Was treibst du hier?“ fragte ihn ein grosser Mann, den er nicht hatte kommen sehen, mit rauher Stimme.
„Ich ruhe mich aus,“ versetzte Michael Strogoff.
„Denkst wohl gar die Nacht hier auf der Bank zu verschlafen?“ rief der Mann wieder.
„Warum nicht — wenn es mir passt?“ erwiderte Michael Strogoff in einem für den einfachen Handelsmann, der er sein musste, etwas zu scharf markierten Ton.
„Dann tritt näher, dass man dich sieht,“ sagte der Mann.
Michael Strogoff besann sich, dass es vor allem nötig sei, die Klugheit nicht ausser acht zu lassen, und wich instinktiv zurück. „Mich braucht niemand sich anzusehen,“ antwortete er und brachte mit Kaltblütigkeit zwischen den Mann, der ihn angesprochen hatte, und sich einen Zwischenraum von einem Dutzend Schritte. Nun kam es ihm, als er ihn schärfer ansah, ganz so vor, als ob er es mit einer Art von Zigeuner zu tun habe, wie man sie auf allen Messen antrifft, mit denen man aber nicht gern in physische oder moralische Berührung kommt. Und wie er dann aufmerksam auf den Schatten sah, der sich zu verdichten anfing, bemerkte er neben der Holzbude einen grossen Wagen, die gewöhnliche Reisewohnung dieser „Tsingari“ oder „Tsiganen“, die sich in Russland überall, wo es ein paar Kopeken zu verdienen gibt, scharenweise anfinden.
Unterdessen hatte der Zigeuner ein paar Schritte vorwärts getan und schickte sich an, Michael Strogoff energischer auf den Leib zu rücken, als sich die Tür der Hütte öffnete. Ein Weib, kaum sichtbar, trat rasch vor und rief in einer ziemlich rauhen Mundart, die Michael Strogoff als ein Gemisch von Mongolisch und Sibirisch erkannte: „Schon wieder ein Spion! Lass ihn und komm essen! Die Papluka wartet.“
Michael Strogoff konnte sich des Lächelns über den Titel, mit dem man ihn beehrte, nicht erwehren. Er, der gerade die Spione wie Gift fürchtete, sollte ein Spion sein!
Aber in derselben Sprache, wenn auch der Akzent des Mannes, der sich ihrer bediente, von dem Akzent des Weibes stark verschieden war, erwiderte der Zigeuner mit ein paar Worten, die den Sinn hatten von: „Du hast recht, Sangarre, zudem werden wir morgen ja über alle Berge sein.“
„Morgen?“ versetzte halblaut das Weib mit einer Stimme, aus der eine gewisse Verwunderung herausklang.
„Jawohl, Sangarre,“ versetzte der Zigeuner, „morgen — und Väterchen selber ist es, der uns schickt, wohin wir gehen wollen!“ Darauf traten Mann und Weib in die Hütte, deren Tür behutsam geschlossen wurde.
„Gut,“ sagte sich Michael Strogoff, „wenn dieses Zigeunerpack nicht verstanden sein will, wenn sie in meiner Gegenwart sprechen, so rate ich ihnen schon, sich einer anderen Sprache zu bedienen.“ In seiner Eigenschaft als Sibirier, und weil er seine Kindheit in der Steppe verlebt hatte, verstand Michael Strogoff, wie gesagt, fast alle von der Tatarei bis zum Eismeer hinauf gebräuchlichen Mundarten. Was die genau Bedeutung der zwischen dem Zigeuner und seiner Gefährtin gewechselten Worte sein mochte, beschäftigte ihn nicht weiter — inwiefern konnte ihr das auch kümmern?
Da die Stunde schon stark vorgerückt war, fiel es ihm nun ein, nach der Herberge zurückzukehren, um sich dort ein bisschen auszuruhen. Er ging dem Laufe der Wolga entlang, deren Fluten unter der düsteren Masse zahlloser Fahrzeuge verschwanden. Die Richtung des Flusses machte ihm nun den Ort kenntlich, den er soeben verlassen hatte. Diese Ansammlung von Wagen und Buden befand sich genau auf dem grossen, weiten Platz, auf dem alljährlich der Hauptmarkt von Nischni-Nowgorod abgehalten wurde — hieraus erklärte sich die Anwesenheit