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weiten Pelz, der sie umhüllte, ihre Gestalt beurteilen konnte. Ibwohl es noch ein sehr junges Mädchen war, machte doch die Bildung ihrer hohen Stirn, die bestimmte Form des unteren Teiles ihres Gesichts den Eindruck grosser moralischer Energie — ein Umstand, der keineswegs Michael Strogoff entging. Augenscheinlich hatte in vergangenen Tagen das junge Mädchen schon zu leiden gehabt, und ohne Zweifel lag auch die Zukunft nicht in rosigen Farben vor ihr, aber nicht minder erschien es gewiss, dass sie zu kämpfen verstanden hatte und auch weiterhin gegen die Schwierigkeiten des Lebens anzukämpfen entschlossen war. Ihr Wille musste fest und lebhaft, ihre Ruhe unerschütterlich sein, selbst unter Umständen, wo auch ein Mann in Gefahr geraten wäre, nachzugeben oder die Geduld zu verlieren.

      Diesen Eindruck machte das junge Mädchen auf den ersten Blick. Michael Strogoff, selbst eine energische Natur, musste das Charakteristische eines solchen Gesichtes sogleich erkennen, und während er achtgab, dass seine unausgesetzte Betrachtung ihr nicht lästig fallen möge. musterte er seine Reisegefährtin aufmerksam. Das Kostüm der jungen Reisenden war zugleich von höchster Einfachheit und höchster Sauberkeit. Sie war nicht reich, das war leicht zu erkennen, aber man hätte vergebens an ihrer Kleidung irgendein Anzeichen von Nachlässigkeit gesucht. Ihr ganzes Gepäck befand sich in einem mittels Schlüssels verschlossenen Reisesack, den sie, wegen Mangels an Raum, auf die Knie genommen hatte. Sie trug einen langen Pelz von dunkler Farbe, der keine Ärmel hatte und mit blauem Saum anmutig ihren Hals umschloss. Unter diesem Pelz bedeckte eine Tunika von gleichfalls dunkler Farbe einen bis an die Knöchel reichenden Rock, dessen Stoss mit wenig bemerkbarem Spitzenbesatz verziert war. Halbschuhe aus fein bearbeitetem Leder mit starken Sohlen, die in der Voraussicht einer langen Reise genommen worden zu sein schienen, wärmten ihre kleinen Füsse. Michael Strogoff meinte an mehreren Einzelheiten in dieser Kleidung den Schnitt der livländischen Tracht zu erkennen und glaubte mithin, dass sein Gegenüber aus den baltischen Provinzen sein müsse. Aber wohin fuhr dieses junge Mädchen allein, in einem Alter, wo der Schutz eines Vaters oder einer Mutter, die Begleitung eines Bruders unerlässlich zu sein scheinen? Kam sie nach bereits langwieriger Reise aus den Provinzen Westrusslands? Begab sie sich bloss nach Nischni-Nowgorod, oder lag das Ziel ihrer Reise jenseits der östlichen Grenzen des Reiches? Erwartete sie bei der Ankunft des Zuges ein Verwandter, ein Freund? War es nicht eher wahrscheinlich, dass, wenn sie aus dem Zug stieg, sie ebenso verlassen in der Stadt dastehen würde, wie sie es jetzt im Wagen war, wo niemand — sie wenigstens musste es glauben — sich um sie zu bekümmern schien? Wohl, so mochte es sein!

      Tatsächlich erschienen die Gewohnheiten, die man in der Verlassenheit sich aneignet, sehr deutlich in dem Benehmen der jungen Reisenden. Die Art, wie sie in den Wagen kam, wie sie sich für die Reise zurechtsetzte, wie sie durch ihr Hinzukommen die anderen durchaus nicht störte, wie sie auch während der Fahrt niemand im geringsten aus der Ruhe brachte oder lästig fiel, alles deutete darauf hin, dass sie es gewohnt war, allein zu sein und nur auf sich selbst zu zählen. Mit Interesse betrachtete Michael Strogoff sie; aber da er selbst zurückhaltend war, so suchte er keine Gelegenheit herbeizuführen, sie anzusprechen, obwohl noch mehrere Stunden hingehen mussten, ehe der Zug Nischni-Nowgorod erreichte. Nur einmal, als der Nachbar des jungen Mädchens — jener Handelsmann, der so unklug Seife und Schals untereinanderbrachte — eingeschlafen war und seine Nachbarin mit seinem fettigen Kopf, der von einer Schulter zur anderen schwankte, zu belästigen drohte, weckte ihn Michael Strogoff barsch auf und gab ihm zu verstehen, dass er gerade und still zu sitzen hätte, wie es sich gehörte. Der Kaufmann — ein grober Kerl — brummte etwas über „Leute, die sich um Dinge kümmern, die sie nichts angingen“. Aber Michael Strogoff warf ihm einen so unliebsamen Blick zu, dass der Schläfer sich gegen die andere Seite lehnte und die junge Reisende von seiner unangenehmen Nachbarschaft befveite. Diese sah einen Augenblick den jungen Mann an — und ein stummer, bescheidener Dank lag in ihrem Blick.

      Aber es ereignete sich ein Vorfall, der Michael Strogoff einen richtigen Begriff von dem Charakter des jungen Mädchens gab. Zwölf Werst vor der Einfahrt in Nischni-Nowgorod erhielt bei einer scharfen Kurve der Strecke der Zug einen heftigen Stoss. Eine Minute darauf lief er auf der Böschung eines Dammes. Die Reisenden verloren den Kopf, alles schrie und rannte durcheinander in den Wagen — das war die erste Wirkung des Ereignisses. Ehe noch der Zug hielt, wurden die Türen aufgerissen, und die Reisenden hatten in ihrem Entsetzen nur einen Gedanken: aus dem Wagen hinaus und draussen Rettung suchen! Michael Strogoff dachte zunächst an seine Reisegefährtin. Aber während die Reisenden in seinem Abteil nach aussen drängten, schreiend und sich quetschend, war das junge Mädchen ruhig sitzengeblieben, und ihr Antlitz hatte sich durch eine leichte Blässe kaum merklich verändert. Sie wartete. Michael Strogoff wartete auch. Sie hatte keine Bewegung gemacht, um auszusteigen. Sie rührte sich nicht einmal. Beide blieben sitzen, kaltblütig und gefasst. Eine energische Natur, dachte Michael Strogoff.

      Inzwischen war alle Gefahr beseitigt. Ein Radreifensprung des Gepäckwagens hatte den Stoss und dann das Halten des Zuges veranlasst, aber es hatte nicht viel daran gefehlt, so wäre er, einmal aus dem Geleise geschleudert, von der Höhe des Dammes in einen Sumpf gestürzt. Eine Stunde Verspätung war die Folge. Als endlich die Strecke frei gemacht worden war, fuhr der Zug weiter und um ½9 Uhr traf er auf dem Bahnhof von Nischni-Nowgorod ein. Ehe noch jemand aussteigen konnte, erschienen die Polizeiinspektoren an den Türen und untersuchten die Reisenden. Michael Strogoff zeigte sein Podaroschna auf den Namen Korpanoff. Ihm wurden keine Schwierigkeiten gemacht. Auch die anderen Reisenden in diesem Abteil, die alle nur bis Nischni-Nowgorod fuhren, erschienen zu ihrem Glück nicht verdächtig. Das junge Mädchen zeigte keinen Pass vor, da in Russland ein Pass nicht mehr verlangt wird, sondern einen mit besonderem Siegel versehener Schein, der von besonders eigentümlichem Inhalt sein musste. Der Inspektor las ihn aufmerksam durch, musterte scharf die Person, deren Personenbeschreibung er enthielt, und fragte dann: „Du bist aus Riga?“

      „Jawohl,“ antwortete das junge Mädchen.

      „Du willst nach Irkutsk?“

      „Jawohl.“

      „Auf welchem Wege?“

      „Über Perm.“

      „Schön,“ sagte der Inspektor. „Sorge dafür, dass dein Schein auf dem Polizeiamt in Nischni-Nowgorod gestempelt wird.“

      Das junge Mädchen verneigte sich zustimmend. Als Michael Strogoff dieses Zwiegespräch hörte, empfand er zugleich eine Regung des Erstaunens und des Mitleids. Wie, das junge Kind wollte allein nach dem fernen Sibirien reisen, und das jetzt, wo zu den sonstigen Gefahren noch all die Fährnisse hinzukamen, die ein vom Feind besetztes aufständisches Land bietet! Wie sollte sie dorthin gelangen? Was sollte aus ihr werden? Nach beendeter Untersuchung wurden die Wagentüren geöffnet, aber ehe Michael Strogoff eine Bewegung nach ihr hin hatte machen können, war die junge Livländerin zuerst ausgestiegen und sogleich in der Menge, die die Gänge des Bahnhofs füllte, verschwunden.

      5. Ein Erlass in zwei Paragraphen

      Nischni-Nowgorod, Unter-Nowgorod, am Zusammenfluss der Wolga und der Oka gelegen, war die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Dort musste Michael Strogoff die Eisenbahn verlassen, die damals nicht weiter als bis dorthin ging. Demnach verloren, je weiter er vordrang, die Verkehrsmittel zuerst an Schnelligkeit, nachher an Sicherheit. Nischni-Nowgorod, das zu gewöhnlicher Zeit bloss 30 000 bis 35 000 Einwohner zählte; beherbergte damals weit über 300 000; seine Bevölkerung hatte sich also verzehnfacht.

      Diesen — nur vorübergehenden — Zuwachs verdankte die Stadt der berühmten Messe, die während voller drei Wochen in ihren Mauern abgehalten wurde. Vordem genoss Markajew die Vorteile dieses Zusammenlaufs von Kaufleuten, seit 1817 war die Messe aber nach Nischni-Nowgorod verlegt worden. Die für gewöhnlich ziemlich düstere Stadt zeigte also ein ausserordentliches Leben. Zehn verschiedene Rassen von Handelsleuten, europäische sowohl als asiatische, lebten dort brüderlich miteinander unter dem Einfluss von Handelsgeschäften.

      Obwohl Michael Strogoff den Bahnhof zu stark vorgerückter Stunde verliess, herrschte doch noch grosser Zusammenlauf von Menschen in diesen beiden durch den Lauf der Wolga geschiedenen Städten, die Nischni-Nowgorod, in sich schliesst und deren obere, auf steilem Fels erbaute durch eines jener Befestigungswerke verteidigt wird, die man in Russland „Kreml“ nennt. Wenn Michael Strogoff zum Aufenthalt

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