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gegen den Kaiser gerichtet, sondern gegen Russland, gegen dieses Land, auf dessen Wiedersehen die Verbannten nicht völlig Verzicht geleistet haben — und das sie wiedersehen werden . . .! Nein, niemals wird sich ein Russe mit einem Tataren verbünden, und wäre es bloss auf eine Stunde, um die moskowitische Macht zu schwächen!“

      Der Zar glaubte mit Recht an den Patriotismus derjenigen, die seine Politik zeitweilig des Landes verwiesen hatte. Die Milde war die Grundlage seiner Justizpflege, und solange es in seiner Hand lag, sie zu ermessen und zu üben, verbürgten ihm die erheblichen Vergünstigungen, die er bei der Ausführung der ehedem so schrecklichen Urteile walten liess, dass er auf falschem Wege sich nicht befinden konnte. Aber selbst wenn dem tatarischen Einfall diese mächtige Hilfe nicht zuteil wurde, blieben die Dinge noch immer äusserst ernst, denn es stand zu befürchten, dass ein grosser Teil der kirgisischen Bevölkerung sich zu den eindringenden Haufen schlagen würde.

      Die Kirgisen zerfielen in drei Horden, die grosse, die kleine und die mittlere, und zählten etwa 400 000 Zelte oder zwei Millionen Seelen. Von diesen verschiedenen Stämmen waren manche unabhängig, andere erkannten die russische Oberhoheit an oder diejenige der Khanate von Khiwa, Khokhand und Bochara, also der gefürchtetsten Häuptlinge von Turkestan. Die mittlere Horde, die reichste, war zugleich die bedeutendste, und ihre Lagerplätze nahmen den ganzen Raum ein zwischen den Wasserläufen des Sara-Su, des Irtysch, des oberen Ischim, des Hadisangund des Aksakal-Sees. Die grosse Horde, die die östlich von der mittleren Horde gelegenen Gegenden besetzt hielt, erstreckte sich bis zu den Gouvernements Omsk und Tobolsk. Wenn sich also diese kirgisischen Völker erhoben, so bedeutete das die Überflutung von Russisch-Asien und in erster Linie die Abtrennung Sibiriens östlich vom Jenissei. Allerdings waren diese Kirgisen in der Kriegskunst noch grosse Neulinge und plünderten lieber nächtlicherweile oder überfielen Karawanen, als dass sie regulären Kriegsdienst verrichteten. Wie Lewschin von ihnen gesagt hat: „Eine geschlossene Front oder ein tüchtiges Infanteriekarree widersteht einer zehnmal zahlreicheren Kirgisenmasse, und eine einzige Kanone kann ihrer eine schreckliche Menge vernichten.“ Das mochte wohl sein, aber vorerst musste solch tüchtiges Infanteriekarree in dem aufständischen Lande sein, und die Feuerschlünde mussten aus den Artillerieparks der russischen Provinzen die 2000 bis 3000 Werst Entfernung zurückgelegt haben. Bis auf die direkte. Linie Jekaterinburg—Irkutsk waren nun aber die häufig sumpfigen Steppen nicht leicht passierbar, und es würden ganz sicher mehrere Wochen verstreichen, bevor sich die russischen Truppen in die Lage gesetzt sehen konnten, die tatarischen Horden zurückzudrängen.

      Omsk war der Mittelpunkt des westlichen Sibirien, dessen Aufgabe es war, die Kirgisenbevölkerung in Respekt zu halten. Dort lagen die Grenzbezirke, die diese nur teilweise unterjochten Nomaden mehr als einmal verwüstet hatten, und im Kriegsministerium hatte man allen Grund zu der Annahme, dass Omsk bereits stark bedroht würde. Die Kette der Militärkolonien, nämlich jene Kosakenposten, die von Omsk bis Semipalatinsk staffelweise verteilt waren, musste an mehreren Punkten bereits überrumpelt worden sein. Nun stand aber zu befürchten, dass die über die kirgisischen Distrikte herrschenden „Grosssultane“ der Herrschaft der gleich ihnen muselmanischen Tataren entweder sich freiwillig gefügt hatten oder sich unfreiwillig hatten fügen müssen, und dass sich dem durch die Unterjochung wachgerufenen Hass jener andere Hass beigesellen würde, der aus dem Gegensatz zwischen griechisch-orthodoxer und muselmanischer Religion geboren wird. Seit langer Zeit suchten nämlich die Tataren Turkestans, und hauptsächlich diejenigen der Khanate von Bochara, Khokhand und Kundus, sowohl im Wege der Gewalt als durch Überredung, die kirgisischen Horden der moskowitischen Herrschaft abtrünnig zu machen.

      Nur ein paar Worte über diese Tataren. Das Volk der Tataren gehört, genauer gesagt, zwei unterschiedlichen Rassen an, nämlich der kaukasischen und der mongolischen Rasse. Die kaukasische Rasse vereinigt unter ein und derselben Bezeichnung die Türken und die Eingeborenen persischen Ursprungs. Die rein mongolische Rasse begreift die Mongolen, die Mandschu und die Tibetaner. Die Tataren, die damals das russische Reich bedrohten, waren kaukasischer Rasse und Hausten vorwiegend in Turkestan. Dieses geräumige Land war in verschiedene Staaten abgeteilt, die durch Khans beherrscht wurden, woher die Benennung Khanat rührt. Die hauptsächlichsten dieser Khanate waren: Bochara, Khiwa, Khokhand, Kundus und so weiter. Zu dieser Zeit war das bedeutendste und gefürchtetste dieser Khanate Bochara. Mit dessen Fürsten oder Häuptlingen hatte Russland schon wiederholt Kämpfe führen müssen. Teils aus persönlichem Interesse, teils um die Kirgisen unter ein anderes Joch zu beugen, hatten sie die Unabhängigkeit derselben gegen die Herrschaft der Moskowiter aufrechterhalten. Der gegenwärtige Fürst oder Häuptling, Feofar-Khan, wandelte in den Bahnen seiner Vorgänger. Dieses Khanat von Bochara erstreckte sich von Norden nach Süden zwischen dem 37. und dem 41. Breitengrad, und von Ost nach West zwischen dem 61. und 66. Längengrad, das heisst, über eine Fläche von etwa 10 000 Quadratmeilen. Man zählte in diesem Staate eine Bevölkerung von 2½ Millionen Einwohnern, ein Heer von 60 000 Mann Fussvolk (Sarbassen), das zu Kriegszeiten verdreifacht war, und von 30 000 irregulären Reitern. Im Schutze seiner Gebirge, bei der durch seine Steppen bewirkten Abgeschlossenheit bildete es ein furchtbares Staatswesen, und Russland würde sich gezwungen sehen, ihm ganz bedeutende Streitkräfte gegenüberzustellen.

      Feofar-Khan, ruhmsüchtig und blutdürstig, hatte sich an die Spitze des Aufstandes gestellt, dessen Seele Iwan Ogareff war. Unter seinem Einfluss hatte der Emir — so lautete der Titel, den die Khans von Bochara führten — seine Horden über die russische Grenze geworfen. Er war in das Gouvernement Semipalatinsk eingefallen, und die Kosaken, die sich an diesem Punkt in zu schwacher Anzahl befanden, hatten vor ihm zurückweichen müssen. Er war über den Balkasch-See vorgedrungen und hatte die kirgisischen Völker auf seinem Zuge mit sich fortgerissen.

      Wo weilte er in diesem Augenblick? Bis wohin waren seine Krieger zu der Zeit gedrungen, als die Nachricht von dem Einfall in Moskau eintraf? Bis zu welchem Punkte Sibiriens hatten die russischen Truppen zurückweichen müssen? Das zu sagen, war nicht möglich. Die Verbindungen waren unterbrochen. War der Draht zwischen Kolywan und Tomsk von Plänklerkolonnen des tatarischen Heeres zerschnitten worden, oder war der Emir bis in die Provinzen des Jenisseisk vorgedrungen? Stand das ganze westliche Unterland von Sibirien in Flammen? Erstreckte sich der Aufstand schon bis in die östlichen Regionen? Auch das liess sich nicht sagen. Der einzige Bote, der weder Kälte noch Feuer fürchtet, den weder die Strenge des Winters noch die Hitze des Sommers aufhalten kann, der mit der Geschwindigkeit des Blitzes fliegt, der elektrische Strom war nicht mehr durch die Steppe zu leiten, und den in Irkutsk eingeschlossenen Grossfürsten von der Gefahr zu benachrichtigen, die ihm durch Iwan Ogareffs Verrat drohte, war nicht mehr möglich. Bloss ein Kurier konnte den unterbrochener Strom ersetzen. Solcher Mann würde, um die 5200 Werst (5523 Kilometer) zu bezwingen, die zwischen Moskau und Irkutsk liegen, einer gewissen Zeit benötigen. Um sich durch die Kolonnen der Aufständischen und feindlichen Eindringlinge den Weg zu bahnen, würde er einen Mut und eine Intelligenz aufbieten müssen, die gewissermassen ans Übermenschliche streifen würden . . . Aber wer Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, der kommt weit in der Welt!

      „Werde ich solchen Mann mit Kopf und Herz auf dem rechten Fleck finden?“ Diese Frage stellte sich der Zar.

      3. Michael Strogoff

      Die Tür des kaiserlichen Kabinetts öffnete sich balb, und der Pförtner meldete den General Kissoff.

      „Der Kurier?“ fragte lebhaft der Zar.

      „Ist zur Stelle, Sire,“ antwortete General Kissoff.

      „Du hast den Mann, den wir brauchen, gefunden?“

      „Zu Befehl, Sire!“

      „Du kennst ihn?“

      „Von Person — er hat schon mehrere Missionen schwieriger Natur erfolgreich ausgeführt.“

      „Im Ausland?“

      „Sogar in Sibirien!“

      „Woher stammt er?“

      „Aus Omsk. Er ist Sibirier.“

      „Er besitzt Kaltblütigkeit Intelligenz, Mut?“

      „Jawohl, Sire, alles, was dazu gehört, um dort, wo vielleicht andere scheitern würden, mit Erfolg zu arbeiten.“

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