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des Reiches alle Hände voll zu tun gehabt hatte, die alte Marfa diesmal drei Jahre — für ihn drei Jahrhunderte — nicht wiedergesehen. Nun sollte ihm aber sein zustehender Urlaub in einigen Tagen bewilligt werden, und er hatte seine Vorbereitungen zur Abreise nach Omsk bereits getroffen, als sich die dem Leser bekannten Umstände abspielten.

      Michael Strogoff wurde also dem Zaren vorgestellt, ohne die geringste Ahnung, was seiner bei dem Herrscher bevorstand. Der Zar richtete nicht gleich das Wort an ihn, sondern betrachtete ihn eine Zeitlang schweigend und mit durchdringenden Blicken, während Michael Strogoff in gänzlich unbeweglicher Haltung verharrte. Hierauf trat der Zar, jedenfalls befriedigt von dieser Musterung, zu seinem Schreibtisch, winkte dem Polizeichef, sich zu setzen, und diktierte ihm mit leiser Stimme einen Brief, der bloss wenige Zeilen enthielt. Als der Brief abgefasst war, las der Zar ihn mit höchster Aufmerksamkeit noch einmal durch, unterzeichnete ihn, nachdem er seinem Namen die Worte: „Byt po szemu!“ die auf deutsch: „Also geschehe es!“ bedeuten und die sakramentale Formel der Kaiser von Russland darstellen, beigesetzt hatte. Der Brief wurde nun in einen Umschlag gesteckt, der durch ein Siegel mit dem kaiserlichen Wappen geschlossen wurde. Nun erhob sich der Zar wieder und befahl Michael Strogoff heranzutreten. Michael Strogoff trat einige Schritte vor und verharrte von neuem unbeweglich, bereit, Rede und Antwort zu stehen. Der Zar sah ihm noch einmal voll ins Gesicht — Auge in Auge. Dann fragte er kurz und schroff: „Dein Name?“

      „Michael Strogoff, Sire.“

      „Dein Rang?“

      „Kapitän im Kurierkorps des Zaren.“

      „Du kennst Sibirien?“

      „Ich bin Sibirier.“

      „Geborener?“

      „Zu Befehl, Sire!“

      „Wo?“

      „In Omsk.“

      „Hast du Verwandte in Omsk?“

      „Zu Befehl, Sire!“

      „Was für welche?“

      „Meine alte Mutter?“

      Der Zar setzte die Reihe seiner Fragen eine Weile aus. Dann wies er auf den Brief, den er in der Hand hielt, und sagte: „Hier diesen Brief übergebe ich dir, Michael Strogoff, mit dem Auftrage, ihn dem Grossfürsten, bloss ihm und keinem anderen, zu übergeben.“

      „Der Grossfürst wird ihn erhalten, Sire.“

      „Der Grossfürst ist in Irkutsk.“

      Ich werde nach Irkutsk gehen.“

      „Der Weg führt durch ein von Rebellen aufgewiegeltes, von Tataren überschwemmtes Land, und Rebellen und Tataren werden Interesse daran haben, diesen Brief in die Hände zu bekommen.“

      „Ich werde diesen Weg nehmen.“

      „Vor einem Verräter insbesondere, der sich vielleicht dir auf deiner Reise entgegenstellen wird, wirst du dich zu hüten haben, vor Iwan Ogareff.“

      „Ich werde mich vor ihm hüten.“

      „Wirst du über Omsk gehen?“

      „Das ist mein Weg, Majestät.“

      „Wenn du deine Mutter aufsuchst, so läufst du Gefahr, erkannt zu werden. Du darfst deine Mutter nicht aufsuchen!“

      Michael Strogoff zauderte zum zweiten Male. „Ich werde sie nicht aufsuchen,“ sagte er.

      „Schwöre mir, dass dich nichts zu dem Bekenntnis bringen soll, wer du bist, noch wohin du dich begibst!“

      „Ich schwöre es.“

      „Michael Strogoff,“ sprach der Zar nun weiter, indem er dem jungen Kurier den Brief in die Hand legte, „also nimm diesen Brief, von dem das Heil ganz Sibiriens und vielleicht das Leben des Grossfürsten, meines Bruders, abhängt.“

      „Dieser Brief wird in die Hände Seiner Hoheit des Grossfürsten gelangen.“

      „Du wirst also bis zu ihm dringen, koste es, was es wolle!“

      „Ich werde zu ihm dringen, oder man soll mich erschlagen.“

      „Du musst aber leben bleiben.“

      „Ich werde am Leben bleiben und werde zum Grossfürsten dringen,“ versetzte Michael Strogoff.

      Der Zar schien von der schlichten, ruhigen Sicherheit zufriedengestellt zu sein, mit der ihm Michael Strogoff geantwortet hatte. „So geh, Michael Strogoff,“ sprach er, „geh mit Gott für Russland, für meinen Bruder, für mich!“

      Michael Strogoff salutierte, verliess auf der Stelle das kaiserliche Kabinett und wenige Minuten später das Neue Palais.

      „Ich glaube, du hast eine glückliche Hand gehabt, General,“ sagte der Zar.

      „Ich glaube es auch, Majestät,“ versetzte General Kissoff. „Und dass Michael Strogoff alles tun wird, was in Menschenkräften steht, dessen dürfen sich Majestät versichert halten.“

      „Er ist ein Mann,“ sagte der Zar, „in der Tat ein Mann!“

      4. Von Moskau nach Nischni-Nowgorod

      Die Entfernung, die Miachel Strogoff von Moskau nach Nischni-Nowgorod zurückzulegen hatte, betrug 5200 Werst (5523 Kilometer). Da zwischen den Uralbergen und der Ostgrenze Sibiriens noch keine telegraphische Verbindung hergestellt war, so wurde der Depeschendienst durch Kuriere besorgt, von denen die schnellsten 18 Tage brauchten, um von Moskau nach Irkutsk zu gelangen. Aber dies war die Ausnahme, und in der Regel dauerte eine solche Durchquerung des asiatischen Russland vier bis fünf Wochen, obwohl alle Beförderungsmittel diesen Sendboten des Zaren zur Verfügung gestellt wurden. Als Mann, der Kälte und Schnee nicht fürchtete, wäre Michael Strogoff weit lieber in der rauhen Winterszeit gereist, wo er die ganze Strecke im Schlitten hätte fahren können. Zu dieser Zeit sind die vereinzelten Schwierigkeiten, die sonst das Weiterkommen verschiedentlich erschweren, auf den durch den Schnee geebneten Stätten teilweise vermindert. Kein Wasserlauf war zu überschreiten. Überall lag ja die Eisdecke, über die der Schlitten leicht und schnell dahingleitet. Höchstens sind zu dieser Zeit vielleicht einige Naturerscheinungen zu fürchten, wie anhaltender dichter Nebel, ausserordentlicher Frost, langes und entsetzliches Schneetreiben, dessen Wirbelstürme manchmal ganze Karawanen einhüllen und vernichten. Es kommt auch vor, dass Wölfe; von Hunger getrieben; die Ebene zu Tausenden beleben. Aber weit lieber hätte er sich diesen Gefahren unterzogen, denn die tatarischen Eindringlinge wären im strengen Winter grösstenteils in den Städten geblieben, ihre plündernden Nachzügler hätten nicht die Steppe durchstreift, jede Truppenbewegung wäre unausführbar gewesen, und Michael Strogoff wäre leichter hindurchgekommen. Aber ihm blieb zwischen Zeit und Stunde keine Wahl. Wie die Umstände auch lagen, er musste sie hinnehmen und sich auf den Weg machen.

      Dies war die Lage, die Michael Strogoff klar überschaute, und er rüstete sich, ihrer Herr zu werden. Zuvörderst befand er sich unter anderen Verhältnissen als ein gewöhnlicher Kurier des Zaren. Es war sogar erforderlich, dass niemand unterwegs ahnte, dass er in dieser Eigenschaft reiste. In einem vom Feinde besetzten Lande wimmelt es von Spionen. Wenn er erkannt wurde, war seine Sendung vereitelt. General Kissoff hatte ihm wohl eine bedeutende Summe eingehändigt, die auf seiner Reise genügen musste und ihm diese in gewissem Masse erleichtern sollte, aber er hatte ihm keinen schriftlichen Ausweis mitgegeben, mit der Bezeichnung: „Im Dienst des Kaisers“ — was sonst doch stets ein wirksamer Zauberstab war. Er hatte ihm nur ein „Podaroschna“ ausgestellt auf den Namen Nikolaus Korpanoff, Kaufmann in Irkutsk. Darin war Nikolaus Korpanoff ermächtigt, sich im Notfall von mehreren Personen begleiten zu lassen, und es war besonders darauf vermerkt, dass das Podaroschna auch in dem Falle Gültigkeit haben sollte, wenn die russische Regierung es allen anderen Nationalitäten verbieten sollte, sich aus Russland hinauszubegeben. Das Podaroschna war nichts anderes als die Befugnis, Postpferde zu nehmen; aber Michael Strogoff durfte sich seiner nur in dem Falle bedienen, wo diese Befugnis ihn nicht der Gefahr aussetzte, seine Eigenschaft zu verraten, das heisst, solange er auf europäischem

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