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Der Kurier des Zaren. Jules Verne
Читать онлайн.Название Der Kurier des Zaren
Год выпуска 0
isbn 9788726642896
Автор произведения Jules Verne
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Zu welcher Zeit?“
„Vor zwei Jahren. Nach sechsmonatiger Verbannung wurde er durch Eure Majestät begnadigt und kehrte nach Russland zurück.“
„Und seit dieser Zeit ist er nicht wieder nach Sibirien gekommen?“
„Doch, Sire, diesmal jedoch freiwillig,“ versetzte der erste Chef der Polizei. Dann setzte er mit leicht gesenkter Stimme hinzu: „Es gab eine Zeit, Sire, wo man aus Sibirien nicht zurückkehrte, wenn man den Weg dahin gefunden hatte.“
„Nun, solange ich lebe, ist Sibirien ein Land und wird ein Land bleiben, aus dem man wiederkehrt!“
Der Zar war berechtigt, diese Worte mit wahrhafter Hoheit zu sprechen, denn er hatte durch seine Milde oft bewiesen, dass die russische Justiz auch Gnade kannte. Der erste Chef der Polizei gab keine Erwiderung, aber dass er kein Freund halber Massregeln war, war klar. Seiner Meinung nach sollte kein Mensch, der zwischen Gendarmen das Uralgebirge überschritten hatte, jemals den Fuss wieder rückwärts setzen. Solcher Grundsatz galt nun aber unter dem neuen Regiment nicht mehr, und das beklagte der erste Chef der Polizei aufrichtig. Wie? Keine Verbannung auf Lebenszeit mehr für andere Verbrechen als solche gegen gemeines Recht? Wie? Politische Verbannte kamen aus Tobolsk, Jakutsk, Irkutsk wieder? Fürwahr, diesem ersten Chef der Polizei, der an die selbstherrlichen Entscheidungen, die von Gnade nie etwas wussten, sattsam gewöhnt war, konnte solche Herrscherweise nicht behagen. Aber er schwieg, denn er wartete auf neue Fragen aus dem Munde des Zaren. Diese liessen auch nicht lange auf sich warten.
„Iwan Ogareff“, fragte der Zar, „ist zum zweiten Male nicht wieder nach Russland zurückgekehrt nach dieser Reise in die sibirischen Provinzen, über deren eigentlichen Zweck nichts bekannt geworden ist?“
„Er ist nach Russland zurückgekehrt.“
„Und seit seiner Rückkehr hat die Polizei seine Spuren verloren?“
„Nein, Sire, denn ein Verbannter wird wirklich gefährlich erst vom Tage seiner Begnadigung an.“
Des Zaren Stirn zog sich einen Augenblick in Falten. Vielleicht durfte der erste Chef der Polizei fürchten, zu weit gegangen zu sein — trotzdem die Verbohrtheit in seine Ideen in keiner Weise der grenzenlosen Hingabe, die er gegen seinen Herrn im Herzen trug, Abbruch tat. Aber der Zar, für dergleichen verblümte Vorwürfe gegen seine innere Politik nicht zugänglich, setzte die Reihe seiner Fragen kurz und bündig fort.
„Wo hielt sich Iwan Ogareff zuletzt auf?“
„Im Gouvernement Perm.“
„In welcher Stadt?“
„In Perm selbst.“
„Was trieb er dort?“
„Dem Anschein nach war er ohne Arbeit, und seine Aufführung gab zu Verdacht keinen Anlass.“
„Unter Polizeiaufsicht stand er nicht?“
„Nein, Sire.“
„Zu welcher Zeit hat er Perm verlassen?“
„Etwa im März.“
„Um sich wohin zu begeben?“
„Das ist nicht bekannt.“
„Und seitdem weiss niemand, was aus ihm geworden ist?“
„Niemand.“
„Nun, ich weiss es!“ antwortete der Zar. „Nachrichten, Winke, ohne Unterschrift, die den Weg nicht durch die Polizeibüros genommen haben, sind an mich gerichtet worden, und in Anbetracht der Dinge, die jetzt jenseits der Grenze vorgehen, habe ich allen Grund zu glauben, dass diese Nachrichten genau sind.“
„Ist der Sinn dieser Worte, Sire,“ rief der erste Chef der Polizei, „dass Iwan Ogareff die Hand bei diesem Einfall von Tataren im Spiel hat?“
„Jawohl, General, und ich will dir, was dir nicht bekannt ist, sagen. Iwan Ogareff hat, nachdem er dem Gouvernement von Perm den Rücken gewandt, das Uralgebirge überstiegen, hat sich nach Sibirien in die Kirgisensteppen begeben und hat dort, nicht ohne Erfolg, die nomadischen Völker aufzuwiegeln versucht. Er ist dann weiter nach Süden gegangen, bis hinunter ins freie Turkestan. Dort hat er in den Khanaten von Bochara, Khokhand und Kundus Häuptlinge willig gefunden, ihre tatarischen Horden in die sibirischen Provinzen zu werfen und in ganz Asien einen gemeinsamen Aufstand gegen das russische Reich zu entflammen. Die Bewegung ist im geheimen genährt worden, aber sie ist wie ein Blitzschlag hereingebrochen, und jetzt sind die Verbindungswege und Verkehrsmittel zwischen West- und Ostsibirien abgeschnitten. Zudem will Iwan Ogareff, von Rachedurst getrieben, sich an dem Leben meines Bruders vergreifen.“
Der Zar war warm geworden beim Reben und ging mit grossen Schritten auf und ab. Der erste Chef der Polizei gab keine Antwort, aber abseits für sich sprach er, dass damals, als die russischen Zaren gegen einen Verbannten niemals Gnade walten liessen, solche Pläne wie diejenigen Iwan Ogareffs niemals hätten zur Ausführung kommen können. Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Dann trat der erste Chef der Polizei zu dem Zaren, der sich in einen Sessel geworfen hatte, und sagte: „Majestät haben zweifellos Befehle erteilt, dass dieser Aufstand schleunigst unterdrückt werde?“
„Ja,“ versetzte der Zar. „Das letzte Telegramm, das nach Nischni-Udinsk gelangen konnte, hat die Truppen der Gouvernements Jenisseisk, Irkutsk, Jakutsk, auch die der Provinzen Amur und vom Baikalsee alarmieren müssen. Gleichzeitig marschieren die Regimenter von Perm und Nischni-Nowgorod und die Grenzkosaken in Gewaltmärschen nach dem Uralgebirge. Leider werden sie aber mehrere Wochen Zeit brauchen, ehe sie sich den Kolonnen der Tataren werden gegenüberstellen können.“
„Und der Bruder Eurer Majestät, der Grossfürst, der zur Zeit im Gouvernement Irkutsk eingeschlossen ist, hat mit Moskau keine Verbindung mehr?“
„Nein.“
„Aber aus den letzten Telegrammen muss ihm doch bekannt sein, welche Massregeln von Eurer Majestät getroffen worden sind, und welche Hilfe er von den Irkutsk zunächst gelegenen Gouvernements erwarten darf?“
„Das weiss er,“ erwiderte der Zar, „aber was er nicht weiss, ist dies: dass Iwan Ogareff neben seiner Rebellenrolle die Berräterrolle spielt, und dass er in ihm einen persönlichen und blutdürftigen Feind hat. Dem Grossfürsten hat Iwan Ogareff zuzuschreiben, dass er in Ungnade fiel, und was von noch grösserem Ernst ist, der Grossfürst kennt den Menschen nicht. Iwan Ogareffs Plan ist, sich nach Irkutsk zu begeben und dort unter falschem Namen dem Grossfürsten seine Dienste anzubieten. Wenn er dann sein Vertrauen gewonnen hat, und wenn die Tataren in Irkutsk eingedrungen sein werden, wird er die Stadt und mit ihr meinen Bruder ausliefern, dessen Leben damit bedrohtv ist. Das sind die Dinge, die ich aus meinen Berichten weiss — das ist es, was der Grossfürst nicht weiss — und das ist es, was der Grossfürst wissen muss!“
„Nun denn, Sire, ein kluger, mutiger Kurier . . .“
„Auf ihn rechne ich.“
„Und beeilen soll er sich,“ setzte der erste Chef der Polizei hinzu, „denn, geruhen Sire, mir die Bemerkung zu erlauben, diese sibirische Erde ist ein günstiger Boden für Rebellionen.“
„Meinst du, General, dass die Verbannten mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen könnten?“ rief der Zar, der angesichts solcher Andeutung des Polizeichefs die Herrschaft über sich verlor.
„Majestät geruhen zu entschuldigen,“ stotterte der erste Chef der Polizei, denn wirklich war dies der Gedanke, den ihm sein unruhiger und misstrauischer Geist eingegeben hatte.
„Ich traue den Verbannten doch mehr Patriotismus zu,“ erwiderte der Zar.
„Es gibt andere als politische Verbannte in Sibirien,“ bemerkte der Polizeichef.
„Die