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„Aber jetzt habe ich hier zu bestimmen,“ und damit ist Johannas letzter Trumpf unter den Tisch gefegt. Johanna aber ist so erstaunt darüber, dass sie sich immer noch nicht rührt.

      „Also,“ meint Ellen salzig, „dann werde ich das Silber morgen selbst putzen.“

      Das trifft die alte Johanna an ihrer verwundbarsten Stelle. Zielt so mir nichts, dir nichts auf ihre Achillesverse, denn das Silberputzen ist ihr verbrieftes Reservat seit langen Menschenaltern. „Von Putzen red’ ja keiner,“ sagt sie weinerlich und geht zum schwarzen Palisanderschrank herüber, um ihn aufzuschliessen. Und nun greift sie hinein und bringt Leuchter, Körbe, Bestecke. Aber Ellen ist immer noch nicht zufrieden.

      „Ich habe Ihnen schon hundertmal gesagt,“ spricht sie, im Tone einer Lyzeumslehrerin, während sie mit ihren Händen auf dem Tisch herumfährt, „die Obstbestecke kommen links oben hin, Johanna. Immer wieder legen Sie sie, patsch, mitten auf den Teller.“

      Johanna ist darüber sehr unglücklich oder stellt sich so. „Einem alten Hund bringt man keine Kunststücke mehr bei,“ seufzte sie.

      Aber dann beschliesst Johanna noch einen letzten Vorstoss in Sachen des Silbers zu machen. „Na, könnten wir nicht doch lieber das Alfenid nehmen?!“ meint sie, hält in ihrem gerechten Schmerz inne und sieht Ellen wie ein Kind, das um etwas bettelt, von der Seite an.

      „Nein“ — sagt Ellen schroff, so schroff, dass es ihr selbst leid tut, denn diese alte Person ist ja doch ein Kind. Ein dummes kleines Mädchen, das noch nicht zehn Jahre alt ist und dabei nächstens vierundsechzig wird. Und welchen Sinn hat es, einem Kind weh zu tun?! „Ich glaube nebenbei“ — und Ellen stimmt den Ton unvermittelt auf Intimität herab — „in diesem Fall hätte selbst Mutter das Familiensilber mal ’rausgerückt. Für wen sollte sie es sich denn eigentlich aufheben, wenn nicht für ihr einziges Enkelkind? Etwa für Herrn Brenneisen? Sie hätte ja gewiss gern mehr Enkel von der Sorte gehabt, aber es sind nun mal nicht mehr geworden.“ Am liebsten hätte Ellen Stein in diesem Augenblick Johannas dicken Arm, an den sie — man soll doch die Girandolen nicht einfach in die Mitte stellen, sondern einen Leuchter rechts und einen links! —, an den sie zufällig stiess, gestreichelt. Was hat das für einen Sinn, so einem alten treuen Menschenkind weh zu tun.

      Aber Johanna ist nicht nur ein Kind, sondern auch eine echte Bauerntochter. Sie vergisst nicht — und sie trifft dann, gerade wenn es nicht vermutet wird, den anderen um so tiefer, weil sie sich dabei ganz dumm stellt und sehr bieder. „Ja, auf die Art,“ sagt sie, und lächelt Ellen mit gesenktem Kopf überm Tisch an, als meine sie es sehr gut mit ihr, „gerade auf die Art wäre das deiner Mutter auch nicht recht gewesen.“

      Ellen stellt eine alte Porzellanschüssel, die sie in Händen hält, sehr unsanft auf den Tisch zurück. Und wenn sie dabei nicht mitten durchbricht, so liegt das vielleicht nur daran, dass altes Porzellan doch fester und härter ist, als das von heute. „Also, Johanna,“ sagt sie, sehr scharf und mit ganz dünnen und gezerrten Lippen, „das verbitte ich mir von Ihnen: das ist ...“

      Aber Ellen Stein kam gar nicht mehr dazu, eine Gemeinheit zu sagen, denn Johanna weiss genau, dass es ihre Position nur verschlechtert, wenn sie etwa versuchen würde, ihren Sieg auszunützen. Sie war die Schwächere, das brachte das Leben so mit sich. Im Laufe der letzten zehn Jahre, seit dem Tode der Madame, hatte sie gelernt, bei allen Zusammenstössen mit Ellen im richtigen Augenblick — aber das war ihre Kunst: immer erst im allerletzten — zu bremsen und abzulenken. „Na findest du das eigentlich recht,“ sagt sie, nun plötzlich tief besorgt um das Wohl all derer, die ihr von Gott anvertraut sind, „dass man so ’n Kiek-in-die-Welt schon heiraten lässt? Ich werde das aber Greten auch sagen. Ich nehme kein Blatt vor den Mund. In dem Alter hat man zu meiner Zeit überhaupt noch jar nich alles wissen dürfen ... Des kommt mir jrade so vor,“ — setzt sie hinzu, als sie merkt, dass Ellen noch nicht auf diese Wendung des Gesprächs eingehen will, „gerade so, als ob Grete das Kind nich mehr zu Hause haben will, weil es da zu viel sieht ... und damit sie wieder die junge Frau spielen kann.“ Aber als Ellen immer noch nicht anbeisst, sondern mürrisch am Tisch nur herumwirtschaftet, wirft Johanna noch ein letztes Mal ihre Angel aus: „Aber so war das immer mit ihr, auch wie sie noch bei uns im Haus war. Ich bejreife den Mann nich, wie er das zulässt.“

      Ellen Stein weiss nicht recht, ob sie den Köder annehmen soll; aber dann schnappt sie doch zu. Gibt sich aber den Anschein, als ob sie ihn eigentlich gar nicht beachtet hätte. „Liebe Johanna,“ sagt sie spitz, „ich denke, das sind doch Gretchens Privatdinge. Ich würde es mir ja auch verbitten, wenn sich jemand“ — sie gibt diesem jemand einen unmissverständlichen Ton: Distanz halten! — „jemand von denen um meine privatesten Privatdinge bekümmern wollte.“ (Johannas Ich duckt sich und lässt das über sich weggehen; es weiss: nun ist es vorüber.) „Ausserdem aber“ — und das sagt der bittere Stolz der Einzelgänger — „habe ich mich schon seit vierzehn Jahren daran gewöhnt, das nicht zu begreifen, was andere tun. Wenn mein Leben so sinnlos wäre, wie das meiner Schwester, und das der meisten Menschen, würde ich mich längst aus dem Fenster gestürzt haben.“

      Johanna hält die Gelegenheit für günstig, um philosophisch zu werden, und zugleich Ellen dabei etwas zu schmeicheln. Aber sie fängt es falsch an. „Na ja“ — mimmelt sie — „du hast, Jott sei Dank, deine Bicher; un wenn de reisen willst, denn reiste; un wenn de zu Hause bleiben willst, kannste auch zu Hause bleiben ... Aber wat hat unsereener, der bald doppelt so alt is, und der keene Bicher hat, un nich reisen kann, un immer noch unter fremde Leute sein muss?!“

      Ellen kämpft einen Augenblick mit sich. Jetzt nur keine Szene! Sie müssen jede Minute da sein. Und dann sehen sie vielleicht verheulte Gesichter. Aber vielleicht löst das doch auch endlich kurz und schmerzlos mal alle Schwierigkeiten. „Sie wissen, dass ich solche Reden nicht liebe, Johanna,“ sagt sie mit einer unbeirrbaren Sachlichkeit. „Wenn Sie sich jedoch zu alt fühlen, und Ihnen der Dienst bei mir zu schwer ist, können Sie morgen gehen. Es wird für Sie gesorgt sein, solange Sie leben. Ich finde zwar, besser, wie Sie es haben, können Sie es nicht haben; — aber ich will Ihnen da keine Schwierigkeiten machen.“

      Johanna starrt sie ganz dumm aus ihren kleinen, schon etwas getrübten Augen an (und dabei hat sie es doch so gut gemeint!). „Na, wat soll ick denn wo anders?“ schluckt sie endlich. „Sowat hat mir die jnädige Frau nie jesagt.“ Und jetzt kommen ihr die dicken Tränen. „Pfui, so etwas kannst du einem auch nur immer sagen.“

      Ellen Stein fühlt, dass dieser Ausfall pariert ist, und es bleibt für sie keine Zeit mehr zu einem zweiten. Also abgeblasen! „Schön, Johanna, dann werden wir weiter zusammenbleiben, und hoffentlich“ — (wozu lügt man? denkt sie) — „hoffentlich noch recht lange. Aber das Gefühl, das Sie hier denken, dass ich Sie ausnütze, wäre mir uner ...“ Aber Ellen Stein sagte nicht mehr: unerträglich! — denn ihr letzter inspizierender Blick hatte auf dem Tisch vieles entdeckt, was ihr peinliches Missfallen erregte. „Aber haben Sie denn keinen englischen Jam mehr, Johanna?“ ruft sie empört und schnuffelt — ein Tschin, dem ein Bissen verdächtig vorkommt — an einem Kristallschälchen. „Man blamiert sich doch. Den deutschen kann man doch wirklich keinem Menschen vorsetzen! Und die Biskuits! Bringen Sie sofort die holländischen! Ebensogut hätte man auch ein Stück Pappe mit Zucker hinstellen können. Und Papierservietten! Das ist wirklich der Comble! Herrgott, wir sind doch hier immer noch bei Steins und immer noch nicht bei Peitel Topfflechter. — Nicht die grossen, die kleinen Damasttücher bitte!“

      Johanna steht scheinbar wie begossen da. Aber sie notiert sich jedes Wort innerlich. „Gott für wen denn?“ sagt sie mehr für sich, während sie die Servietten kunstvoll wie kleine Miniaturschwäne zusammenfaltet, „mit dem Bräutjam kann man doch auch keine Bilder herausstecken, habe ich mir sagen lassen. Weest du Ellen, wenn ich so viel Geld hätte, wie Gretchen und ihr Mann, denn dürfte mir so einer überhaupt nicht über die Schwelle kommen. — Is er denn nu schon Arzt, oder will er erst eener werden? Des könnte für Ruth doch mindestens ein Professor sein.“ Johanna mischte geschickt ihren Ton von unverfälschter Biederkeit mit ihrem philosophischen, so geschickt, dass selbst Ellen Stein nicht ahnte, was dahinter sich verborgen hielt. „Nicht wahr, Ellen, mit Frau Professor, da kann man sich heutzutage überall sehen lassen. Aber: Frau Doktor! — des ist ja jetzt einfach jede.

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