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Träume der Ellen Stein. Georg Hermann
Читать онлайн.Название Träume der Ellen Stein
Год выпуска 0
isbn 9788711517253
Автор произведения Georg Hermann
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Und deshalb hat sie auch Fifi, den alten maroden Sprengwagen von Hund, immer noch nicht vergiften lassen, nur weil Ruth mit ihm vor sechzehn Jahren lieber als mit all ihren Puppen gespielt hat. Und sie lässt Lora schreien, trotzdem, oder weil er seit dreissig Jahren sie damit im Arbeiten stört. Er sieht jetzt wie ein halb gerupfter Hahn aus, ist nur Krallen, Schnabel und Bösartigkeit. Aber er schreit immer noch.
All das — angefangen bei den griechischen Vasen, dem Arabischen und den Koransuren und der Friedensgesellschaft, dem Spanischen und dem Kommunismus, dem Goethe-Fimmel und der Flaubert-Sammlung (und dabei hat sie doch gar nicht zu Ende studiert!) ... bis zu ihrem Pflichtgefühl Johanna, Fifi und Lora und auch ihrer Schwester, Ruths Mutter, gegenüber, über die alle sich Tante Ellen keinerlei Illusionen macht ... aber auch gar keine! ... und die sie völlig durchschaut und doch nicht fallen lässt, ... findet Ruth furchtbar lächerlich, und doch imponiert es ihr gewaltig. Irgendwie ist ihr die Tante Ellen zugleich Vorbild und abschreckendes Beispiel. Ein komisches, antiquiertes Überbleibsel aus vergangenen Tagen; und doch das, was sie gern erreichen möchte und nie erreichen kann. Ganz heimlich ist Ruth Bergheim nämlich verliebt in sie, und fühlt sich mit ihren neunzehn, die die Reife und Selbständigkeit und Erfahrung in allen menschlichen Sensationen von ehedem fünfunddreissig vorweggenommen haben, doch sehr zu ihr hingezogen ... zu dieser Tante Ellen (besonders jetzt, da sie sich Knall und Fall mit Doktor Fred Meirowitz verlobt hat. Sonntag wird Empfang sein). Ebenso empfindet sie es aber, dass sie nicht zu ihr hinüber kann. Denn — was niemand so auf den ersten Blick sehen wird — unter dem Firnis einer snobistischen Lebenslust, die eine lachende Unverwüstlichkeit und echte Sportliebe erträglich machen, steckt bei Ruth ein durch die Zustände im Elternhaus tief zerquältes Menschenkind, das doch zu schwach ist, um anders zu sein, als es ist, oder durch die Umgebung wurde. Und dass wieder, leider ein Familienerbteil von dem alten Grosspapa Stein, viel zu klug ist, um all das nicht selbst zu fühlen.
Tante Ellen wiederum hängt an ihrer Nichte mit all ihren ungenützten Gefühlen von Mütterlichkeit und mit einer geheimen Bewunderung, weil jene ein Dasein lebt, das sie zu leben kaum je den Mut fand, und dieses Dasein als selbstverständlich und zu ihr gehörig nimmt. Trotzdem häkeln sie sich natürlich und bewitzeln einander, wo sie sich sehen. Nur damit sie sich ihrer eigentlichen Gefühle füreinander nicht bewusst werden brauchen. Das ist nun schon seit einigen Jahren so und wird heute, am 23. November 1927 auch nicht viel anders sein. Immerhin sieht Ellen Stein diesem Besuch heute — nur eine Tasse Tee nach dem Abendbrot! — mit sehr gemischten Gefühlen und nicht ohne Bangen entgegen. Denn sie weiss von dieser Verlobung mehr als Ruth, und ahnt mehr, als ihr selbst lieb ist. Eigentlich wollte sie sogar noch abtelephonieren. Was sollte sie da noch? Ihre Rolle war doch ausgespielt; und ändern könnte sie doch nichts mehr; würde sich nur wieder durch unvorsichtiges Reden den Mund verbrennen. Und das bisschen Freude, das sie an dem Kind hätte, durch solchen Familienstunk (denn ihre Schwester liebte es nicht, dass man ihre Kreise störte, ... dann wurde sie brutal!) auch noch verlieren. Wenn Ruth erst verheiratet wäre, würde sie sich ja doch von ihr entfernen. Hoffnungslos in anderer Richtung hin. Schade!
All das hatte sich Ellen Stein lange überlegt, und trotzdem hatte sie doch lieber dem jungen Russen abtelephoniert, bei dem sie seit einem Vierteljahr russisch nahm, aber nicht recht weiter kam, weil er von einer Stunde dreiviertel von seinen Onkeln und Vettern und Tanten und Basen erzählte, die alle entweder Minister, Generäle oder Gouverneure und Hofdamen waren und beim Zar oder bei der Zarewna (Ça dépend) sehr in Gunst gestanden hätten, und von denen dann jeder auf eine andere raffiniert-grausame Art ums Leben gekommen war. Er gehörte eben wie alle russischen Emigranten einer sehr vornehmen und sehr weitverzweigten Familie an. So vornehm und so weitverzweigt, dass man gar nicht begriff, wie er jetzt so allein sein und so tief herunterkommen konnte. Also er würde statt heute abend um neun, morgen früh um neun kommen, der Herr Jwanoff Maljukin. Und dann ... ja ... dann gab es noch von sieben bis acht den Vortrag: „Der englische Arbeiter nach dem Kriege.“ Aber den mochte sie deshalb doch nicht versäumen.
Es war nebenbei ein sehr interessanter Vortrag. Nur dass er, wie alle Vorträge, zu wenig bei den Hörern voraussetzte und deshalb eigentlich aufhörte, bevor er angefangen hatte. Das, was man gern hören wollte: ‚Was ist los mit dem englischen Arbeiter? Was wird geschehen? Und wo steht er im Kampf gegen den Kapitalismus?‘ verschwieg der Vortragende, weil er es selbst nicht wusste, legte aber Wert darauf, alle englischen Worte englischer als der Engländer auszusprechen. Kurz, der Vortrag unterschied sich nicht viel von den hundertfünfzig Vorträgen, die an diesem Tag in Berlin gehalten wurden; ebenso, wie dieser Novembertag sich nicht viel von anderen Novembertagen früherer Jahre, und sehr wenig von denen dieses Jahres unterschied. Das heisst: die Wetterberichte behaupteten, dass man noch nie einen so kalten November gehabt hätte, aber gerade als sie das feststellten, hörte es schon wieder mit der Kälte auf, und der Schnee wurde zu Wasser und Schlamm, den die Autos in Fächern weit um sich spritzten, wobei sie, spasshaft, wie sie von Natur sind, nach den Strümpfen der Damen zielten. Aber nach wenigen Stunden, als die Strassenreinigung eingesetzt war, hatten sie auch dieses kleine Vergnügen nicht mehr, und die Strasse lag so grau wie immer im November, und Bürgersteig und Asphalt trocknete langsam in den amüsanten Ornamenten der Vorsatzpapiere bei einem scharfen Wind auf, der — eine Eigenart von Berlin! — an jeder Strassenecke aus einer anderen Richtung blies. Die Menschen jedoch waren gut und schlecht angezogen, je nach der Gegend; und sie gingen nach Hause oder ins Kino oder ins Sechstagerennen, in die Gesellschaft, in die Bar, ins Café, in die Kneipe, in die Kaschemme, auf Arbeit oder auf Einbruch, ins Theater oder ins Varieté, je nach dem Geldbeutel. Pärchen trafen sich und lächelten sich entgegen, und dieses Sich-schon-weitem-entgegenlächeln war vielleicht ihr Poetischstes an diesem Abend. Das andere war nur Amüsement oder Stumpfsinn und schlechte Laune, Missverständnisse und Nörgelei. Um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche flammten in buntem Wechsel die Giebelreklamen und die gleichen Leute, die noch nie einen Blick von länger als einer halben Sekunde auf den ausgestirnten Augusthimmel hatten verweilen lassen, blieben hier einen Augenblick doch stehen und waren sehr begeistert davon; andere ergötzten sich mehr an den Spiegelungen, in dem noch teilweise feuchten, von tausend Gummirädern blankpolierten Asphalt, die kaleidoskopartig wechselten, und sagten dabei: „Lesser Ury.“ Alle aber waren stolz darauf, dass soviel Menschen und soviel Autos und Trams und Omnibusse sich in verschiedenen Richtungen durcheinanderschoben, vorwärtsstrebten, hielten, wieder anrückten und im Karussell um den Kirchenbau tanzten, nach den Taktschlägen der Verkehrsschutzleute und zu der Jazzmusik der Autohupen; und dass bei diesem Weltstadtspielen der Erwachsenen eigentlich doch viel weniger Menschen zu Schaden kamen, als man erwartete, und die meisten mit heilen Knochen dort landeten, wo sie hin wollten. Erst im Theater oder im Café gaben sie mit der Garderobe die Sensation der Strasse ab. Jeder Mann sah dabei jede Frau an, wie der Jäger einen Hasen, der in der Ackerfurche davonhoppelt. Wenn er ihn nicht gerade heute erlegte, nun so könnte er es ja ein anderes Mal tun. Und sie richteten