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Träume der Ellen Stein. Georg Hermann
Читать онлайн.Название Träume der Ellen Stein
Год выпуска 0
isbn 9788711517253
Автор произведения Georg Hermann
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Nebenbei hatten sich in den letzten Jahren die Beziehungen von Brenneisen zu seiner Hauptmieterin zwar nicht gebessert, trotzdem sie sich sogar auf der Treppe wieder grüssten, aber die offene Feldschlacht von einst, als der Mieterrat noch in Flor stand, war in einen Stellungskrieg übergegangen, der nur hin und wieder durch einen Briefwechsel unterbrochen wurde, wie jener durch den Abendsegen, damit die vorn in den Gräben nicht etwa vergässen, dass immer noch Krieg ist. Soviel von den Beziehungen des Herrn Brenneisen zu Fräulein Ellen Stein.
In Wahrheit waren sie durchaus einseitiger Art; denn Fräulein Ellen Stein war gar nicht gegen Herrn Brenneisen besonders voreingenommen, ja sie beschäftigte sich sogar innerlich sehr wenig mit ihm. Sie war vielmehr einfach kriegerisch gegen die ganze Welt gestimmt; doch auch das eigentlich nicht: Russland liebte sie zum Beispiel! ... sondern präziser: sie stand vor allem in einem gespannten Verhältnis zu dem Berlin von heute, dessen Repräsentant und Prototyp (wenigstens einer der herrschenden Gruppen!) für sie eben dieser Herr Brenneisen — man beachte das „dieser“ — war. Das war alles.
Und wenn er, Herr Brenneisen, weiter dachte, dass sie besonders stolz war, weil sie von je die allergrösste Wohnung in seinem Luxushaus „auf“ dem Kurfürstendamm innehatte, so irrte er sich schmählich. Im Gegenteil. Fräulein Stein empfand diese Wohnung, ebenso wie diese Gegend, und noch mehr deren Bewohner, als einen tiefen Abstieg und Verfall ihrer Person, und sie verzieh ihrer Mutter nichts weniger, als dass sie nach Vaters Tode ihr Haus in der Rauchstrasse unnötigerweise, weil sie behauptete, dass es ihr zu viel Mühe zu bewirtschaften mache, verkauft hatte, um trotz ihres, der Tochter, Widerspruch, hier in diese Pöbelgegend zu ziehen ... deren Segnungen sie nebenbei nur noch kurze Zeit geniessen konnte.
Ja, Ellen Stein liebte ihre alte Gegend und das Grün der Eichen, die vom Tiergarten aus nach ihren Schlafzimmerfenstern einst gewinkt hatten, derart, dass sie noch heute einen Umweg machte, wenn sie zufällig ihr Weg dort hätte vorüberführen können, weil sie festgestellt hatte, dass jedesmal es sie zwei Tage lang aufregte und verstimmte. Herr Brenneisen überschätzte sich also, wenn er sich von Fräulein Stein besonders gehasst und verfolgt glaubte. In Wirklichkeit lag er nur an der äussersten Peripherie ihres Wesens. Da gab es schon sehr andere Dinge in ihrem Dasein, die sie innerlich beschäftigten, auch wenn sie sich das nicht anmerken liess, und vor die sie, — wie das so geht! — wieder andere Dinge vorgeschoben hatte; wie ja der alte Spruch, schon lange bevor die Wissenschaft sich seiner annahm, im Leben der meisten von uns seine Geltung hat: Haut den Sack und meint den Esel.
I. Die Tante
Leute, die Ellen Stein von früher kannten, behaupteten, dass sie von je sehr klug und bildungsbeflissen, ja mehr als das, geistvoll und recht hübsch, oder zum mindesten doch sehr apart dabei gewesen wäre. Das erste hatte sich wohl modifiziert, aber kaum ganz verloren, aber das andere war spurenlos fast vergangen im Laufe von nicht zwei Jahrzehnten; so wie ungefähr die antike Kultur nach dem Einfall der Barbaren. Heute war Ellen Stein ein hageres, vermännlichtes, älteres Fräulein mit scharfen Zügen und einem graumelierten Haarknoten, der sich über einem glatt gebürsteten graumelierten Scheitel hochdrehte. Sie sah so aus, wie man sich die Pflicht vorstellt, wenn man jung ist. Grau, scharf und ohne Lächeln und mit hastigen und bestimmten Bewegungen, die maschinenmässig geregelt sind; und sie war so gekleidet, wie die Pflicht — die ja nun mal eine Frauensperson ist —, es nur sein kann. Also so, wie vor zwanzig Jahren ein älteres Fräulein zwar nicht aussah, aber wie man sich vorstellte, dass sie aussehen müsste. In ihrem dunklen Kleid, das sich auch im wärmsten Sommer nur um einige Nuancen auflichtete, und von dem ein Mann leicht glauben könnte, dass es immer das gleiche sei, trotzdem eine Frau sofort sehen würde, dass es nie das gleiche und immer ein anderes ist ... betonte sie aufdringlich, dass sie auf Kleidung keinen Wert legte und niemandem mehr gefallen wollte, ja es übelnähme, wenn es trotzdem der Fall wäre. Die Frauen aber sahen sofort (nicht ohne Neid), dass die Kostüme dieses Fräulein Stein aus dem teuersten Stall kämen; während die Männer — doch auf die kam es ja auch nicht an! — keinen Blick für so etwas hatten. Nebenbei hätte Ellen Stein sich wie ungewaschen gefühlt, wenn sie etwa billig oder gar unsolide — ein Wort, das Schüttelfrost bei ihr auslöste — angezogen gewesen wäre. So war sie also alles in allem gewiss kein angenehmer Mensch; aber ihre sämtlichen Bekannten waren sich darin einig, dass sie das wäre, was man einen: hochanständigen Menschen nennt. Auch wenn sie gern an ihnen Kritik übte, ohne dazu aufgefordert zu sein, und zwar mit einer Ironie, die unfassbar war und zu ihren verknitterten Zügen, die seit langem wohl das Lächeln verlernt hatten, das geistige Gegenspiel bot. Ebenso hatte — ausser Herrn Brenneisen, und der zählte ja nicht zu ihren Bekannten — noch nie jemand bei ihr Gemüt, Mitfühlen und Herzlichkeit vermisst, oder sie nicht verlässlich und hilfsbereit gefunden, wenn es darauf ankam. Sogar von der Familie wurde sie mit jener Achtung behandelt, die selbst die Familie jemand zukommen lässt, den sie einmal beerben will. Die Familie lächelte über ihre Schrullen, die darin bestanden, dass sie Nebensächliches, wie Sprachkurse und Vorträge, Museen, Goethe oder Politik und Friedensbewegungen blutig ernst nahm ... dass sie ihre Tagesarbeit systematisch eingeteilt hat ... und dass sie, ehe sie — sagen wir — eine Reise nach Spanien machte, viele Dutzende von Büchern über Land, Leute, Geschichte und Kunst und Geologie dieser langweiligen Halbinsel monatelang wälzte, und bei einer armen flüchtigen spanischen Sozialistin mit Augen wie leere Teller auf einer abgegessenen Tafel, vergeblich sich in den Gutturalen dieses Idioms zu vervollkommnen suchte ... in jenen Kehllauten, die, wie sie gern allen die es nichts anging, erklärte, sicher arabische Reminiszenzen sind ... verzieh ihr also, dass sie all das blutig ernst nahm, was keinen vernünftigen Menschen etwas anging, während sie für die wirklich-wichtigen Dinge, wie eine Kinopremiere im Kapitol, einen Grosskampftag der Boxer im Sportpalast, einen Fünfuhrtee im Esplanade und eine Modenschau bei Adlon, nicht zu haben war, ja nicht einmal dahin mitzuschleifen war, wenn ihre Schwester, Frau Bergheim oder ihre Nichte Ruth Bergheim, sie im Wagen dazu abholen kamen. Und dabei hing sie doch mit einer wahren Affenliebe an Ruth. Und war unglücklich, wenn das Kind sie drei Tage nicht besucht hatte.
Dennoch — so kompliziert sind die menschlichen Beziehungen — kann nicht verkannt werden, dass sowohl ihre Schwester, Frau Bergheim, und ganz besonders Ruth, doch insgeheim sehr stolz auf Ellen Stein und ihre Schrullen waren, weil jene den Mut hatte, inmitten einer Gesellschaft, die ganz anders geartet war, das Leben auf eigene Manier zu führen. Und weiter waren sie auch stolz darauf (vor allem Ruth!), weil Tante Ellen in sich noch die Tradition der Familie verkörperte, sie pflegte und der Gegenwart keine Konzessionen machte. Nicht einen, sondern drei Buick konnte sie sich anschaffen; — tut es nicht. Hätte hundertmal sich zum Beispiel neu einrichten können ... nein, sie lebt immer noch zwischen dem altmodischen Plunder von Eltern und Grosseltern, zwischen dem sie geboren ist. Und wenn Besuch da ist, lässt sie Kerzen brennen, weil sie das intimer findet, und elektrisches Licht zu hassen behauptet. Sie hat aus ihrer Wohnung ein Familienmuseum gemacht, was lächerlich und rührend zugleich ist. Hat sich selbst als Kustodin dieses Museums zur alten Tante gemacht, rein aus Pietät, was gar nicht nötig und durchaus vorzeitig war. Will aussehen wie fünfzig und ist noch nicht einmal vierzig. Vielleicht tut sie das auch nur, weil heute andere Frauen, die fünfzig sind, wie dreissig aussehen wollen. Man weiss es doch, wie alt sie ist, man kann es ja nachrechnen, auch wenn sie sich seit Jahren verbeten hat, dass man ihr zu ihrem Geburtstag etwas schenkt oder überhaupt Notiz davon nimmt. Wenn Ruth ihr mal sagt, dass sie heute gut und jung aussieht — und das tut sie manchmal — wird sie sogar grob.
Ebenso ist Tante