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abwiesen, ohne, was das Alter und das Aussehen anbetraf, hier besonders wählerisch zu sein.

      Und nachdem Ellen Stein dreimal Annäherungsversuche hatte abwehren müssen, der eine konnte an Alter ihr Vater sein, er schob seinen Bauch nur schwerfällig durch das Gewühl und mimmelte etwas von „Schönes Kind“ und „Abendessen“ vorsichtig aus dicken Lippen. Der andere konnte ihr Sohn sein. Er begann damit, ob er ihr die Pakete tragen dürfe, ... (denn Ellen Stein hatte noch schnell vor Ladenschluss, bevor sie sich über die Absichten der englischen Arbeiterschaft nicht instruieren liess, etwas Schokolade und Teegebäck und ein paar besondere Raffiniertheiten, die man nur an einer Quelle bekam, gekauft, weil sie wusste, dass Ruth so etwas über alles liebte. Ganz gleich, was es war. Es musste nur eine Verpackung haben, auf der englisch, französisch, italienisch, russisch oder chinesisch stand, dann war sie schon begeistert und knabberte und knusperte mit spitzen Zähnen und seligem Gesicht daran herum, als beginge sie damit eine sakrale Handlung) ... Aber Ellen Stein konnte sich doch nicht der Meinung anschliessen, die jener Jüngling vertrat, dass diese paar kleinen Päckchen für ihre zarten Hände viel zu schwer wären. Der junge Mann sagte nebenbei sein Sprüchlein her, als ob er es aus dem Buch „Der scharmante Gesellschafter in allen Lebenslagen“, Kapitel acht: „Anknüpfung einer Damenbekanntschaft“, auswendig gelernt hätte.

      Und dem dritten verzieh Ellen Stein nicht, dass er, ein hübscher, geradegewachsener ostpreussischer Schnoesel mit Wasserscheitel, der Wunschtraum jedes Ladenmädchens, so wenig Geschmack hatte, seine unzarten Werbungen gegen ein ältliches und unauffälliges Wesen, wie sie es war, nutzlos zu verschwenden. Was versprach er sich nur davon?! Als aber dann noch ein junges, hageres, frierendes Ding, bei der die Schminke sich mit der hektischen Röte vermischte, mit einer Lederkappe mit zwei Schlaufen, wie die Ohren eines Wiesels, in einer Pelzboa und zu kurzem Röckchen, aus denen wie zwei Stearinkerzen zwei lange, dünne, weissbestrumpfte Knabenbeine zur Erde wuchsen, sie erst frech anblinzelte, dann, nachdem sie eine Weile neben ihr gegangen war, unauffällig leise mit der Zunge schnalzte, und endlich sogar irgend etwas zu zwitschern begann, zog es Ellen Stein doch vor (nicht angewidert, sondern mehr beschämt und tieftraurig darüber, wozu Menschen, und besonders ihre Schwestern, alles greifen mussten, um in einer Grossstadt ihr armseliges Leben zu fristen) — zog es vor, zog es vor ... sie wäre ja viel lieber noch etwas gegangen! ... ein vorüberfahrendes Auto anzuhalten. Es war auch Zeit ... vielleicht warteten Ruth und Fred schon bei ihr auf sie. Der Chauffeur wiederholte mit sehr unfreundlichem Gesicht, da die Entfernung zu kurz war — nur ein paar Minuten — Strasse und Hausnummer. Währenddessen könnten ihm die dicksten Fuhren durch die Nase gehen und nachher konnte man wieder bis halb elf warten, wenn die Theater aus waren, bis man wieder eine ordentliche Fuhre kriegt. Denn auch die Strasse hat ihre Gezeiten, ihre Ebbe und Flut, deren Rhythmus nur der kennt und beachtet, der von der Strasse zu leben hat. Der Zeitungshändler, die Prostituierte, der Chauffeur, der Taschendieb und der Schupomann, der Kokainverkäufer und der Schlepper. Und diese Ebbe und Flut sind fast in jeder Strasse und in jedem Stadtteil andere. Um Viertelstunden, ja um Stunden voneinander getrennt.

      Das Auto aber warf sich mit jener Ungeduld in das Gewühl seiner Konkurrenten jeglichen Kalibers, die eine Charaktereigenschaft des Grossstadtautos ist: es hat seinen Autoehrgeiz, schneller zu fahren als das andere. Aber zumeist und gerade hier ist es ja — und um diese Zeit vor allem — gezwungen, nach Zählen auf der Stelle zu marschieren. Aber sowie es fünfzig Meter freie Fahrt wittert, kurbelt es auch schon auf Prestissimo an und bringt seinen Eifer gerade noch zehn Zentimeter vor seinem Vordermann zu stehen, schnauft tief auf vor Ungeduld, und nimmt alsbald einen neuen Anlauf, um an jenem möglichst vorbeizufahren, der aber ebenso resultatlos verläuft, ... bis es plötzlich in eine Nebenstrasse abbiegt und nun zeigt, was es kann. Manchmal sausen die grossen hellen Spiegelfenster in all ihrer Buntheit des Lichts und der Seidenstoffe und Blumen und Lederwaren und Hüte, der Parfümflakons und der Pyramiden aus Schuhwerk dem da drinnen vorüber, wie mit dem zitternden Fächerschlag japanischer Gaukler die bunten Bälle durcheinanderwirbeln. Und dann maikäfert das Auto wieder eine Minute auf einem Fleck, und er betrachtet stieren Blicks und halb bewusst einen mit Lotterielosen beklebten Zigarrenladen, oder die triefenden Spiesse des Gitters eines melancholischen Vorgartens, der eigentlich kein Garten, sondern nur ein Stückchen eingefriedeter Erde ist, die die kaum glaubliche Tatsache erhärtet, dass, bevor es hier Granitplatten und Steine und Asphalt und Leitungsdrähte und Häuser und Kanalisationsröhren in den Schächten gab, dass da hier doch Erde, richtiger Erdboden, Sand, Wiesen oder Kiefernschonung war, und dass sich immer noch Erde unter all dem findet, und auch eines Tages — wenn auch wohl erst in Jahrhunderten! — wieder zum Vorschein kommen wird.

      Ja, selbst Ellen Stein erinnerte sich sogar noch so ganz dämmerhaft der Zeit, da hier noch Erde und kein Haus war; ja nichts von alledem, was hier jetzt — scheinbar für ewig — die Herrschaft übernommen hat. Sie war jetzt missgestimmt, Ellen Stein. Nicht etwa durch die kleinen Erlebnisse von vorhin, die die üblichen für eine alleingehende Dame in dieser Gegend und um diese Tageszeit waren, und die sie nicht einmal besonders tragisch nahm. (Ja sie dachte sogar manchmal: ‚was würde sein, wenn ...? Und was sind das wohl für Menschen? Man kann sicherlich nicht zehn Worte mit ihnen reden. Es gibt gewiss nicht einen Punkt, in dem man gleich denkt. Sie haben weder den Schlüssel zu meiner Welt, noch besitze ich ihn zu der Welt jener, die primitiv und berechnend zugleich ist‘.) Aber deshalb war sie jetzt nicht missgestimmt: nein, es war wohl eher jenes merkwürdige Gefühl, der zwecklosen Einsamkeit, das uns so leicht befällt, wenn wir allein in dem dämmerigen Kasten aus Glas und Metall und Leder dahingetragen werden, und mitten aus allem Lärm und Gewühl, die uns umgeben, plötzlich auf uns selbst zurückgeworfen sind. Zu zweien ist eine Autofahrt immer eine erfrischende Sache. So allein an einem Novemberabend aber, in dem dämmerigen Vogelkäfig des Taxi, ist es stets nur eine nachdenksame und leicht verstimmende Angelegenheit ... und so war Ellen Stein froh, wie sie vor ihrem Haus ... doch das hätte man nicht Herrn Brenneisen sagen sollen! ... also vor ihrer Luxuswohnung im Hause des Herrn Brenneisen (der Chauffeur hatte noch einen kleinen Umweg sich schnell geleistet, was bei dem niedrigen Fahrpreis sein gutes Recht war) endlich ausstieg.

      II. Johanna

      Nein, oben war noch nicht hell. Also war das Brautpaar, wie alle wohlerzogenen Menschen, unpünktlich; aber Ellen Stein kannte das auch genau, es war nicht eine Minute unpünktlicher, als es sein konnte. Besonders, da es wusste, dass keine anderen Gäste kämen. In zehn Minuten, spätestens einer Viertelstunde würde das Brautpaar also da sein. Natürlich war das Haus schon wieder abgeschlossen, denn der Portier hatte seine eigene Zeitrechnung. Überall sonst brannte noch das Licht drüben in den Fluren, er aber hatte wohl die Eigenheit seines Dorfes beibehalten, im Winter früh schlafen zu gehen. Aber die Treppenbeleuchtung war wenigstens in Ordnung und der Fahrstuhl auch ... warum auch nicht, die Mieter hatten ja eben erst für beides Reparaturkosten von turmhafter Höhe zahlen müssen. Jedesmal, wenn Ellen Stein des Abends auf den Lichtknopf drückte, hoffte sie, es würde einmal ihr altes weisses Treppenhaus aus der Rauchstrasse mit den hohen breiten Fenstern, den dünnen vergoldeten Gitterstäben des Treppengeländers, mit dem Gipsabguss der Herkulanerin auf dem Podest, und mit den Lorbeerbäumen in Kübeln, die dort überwinterten, (im Sommer standen sie hinten an der Gartentreppe) und dem grossen Kamelienbusch, der seit vierzig Jahren jeden Januar voller Blüten gewesen war, und auf den alle sehr stolz waren, würde einmal all das nun aus der Dunkelheit ihr entgegenspringen. Und immer wieder war es nur diese fatale Ansammlung von Holz- und Marmorplatten, die man Vestibül nannte, und von denen das Holz seinen Ton eingebüsst hatte, weil es nur auf Edelholz eingefärbt war. Und die Marmorplatten stumpf in der Politur geworden waren und schmuddelig, weil sie eben keine Marmorplatten waren, sondern nur so aussahen (man so duhn!, wie ein Lieblingswort Fontanes war). Das da war ja auch nichts gewesen, nur ruhig und hell und weiträumig; ... aber es war doch wenigstens kein „falscher“ Marmor.

      Auch oben war alles noch dunkel und still. Und als Ellen Stein aufschloss, während eben wieder die Treppenbeleuchtung abschnappte, um mit einem Schlag das Treppenhaus samt den Goldtapeten in ein erbarmungsvolles Dunkel zu hüllen, rief sie, halb noch draussen, halb im Korridor, schrill und missmutig ein paarmal: „Johanna!“ und murmelte, als sich nichts regte, ein: „Unerhört!“ hinterher. Vielleicht waren sie schon inzwischen dagewesen und wieder fortgegangen, kamen nochmal. Auch das Ehepaar Gross schien entflattert zu sein. Jedenfalls hatten sie kein Licht

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