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Kritische Fremdsprachendidaktik. Группа авторов
Читать онлайн.Название Kritische Fremdsprachendidaktik
Год выпуска 0
isbn 9783823302735
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Weiterhin können die jeweiligen Erzählstrukturen und -perspektiven Teil einer kritischen Sprachanalyse der Romane werden: So ist George der einzige der ausgewählten Romane, der von einem personalen Erzähler in der dritten Person erzählt wird. Die Ereignisse werden aus Sicht der Protagonistin dargestellt. Bei If I Was Your Girl und Symptons of Being Human handelt es sich um Ich-Erzählungen, die jeweils aus der persönlichen Perspektive von Amanda bzw. Riley erzählt werden. The Art of Being Normal ist insofern eine mehrperspektivische Narration, als dass sie abwechselnd von zwei Ich-Erzählern, nämlich von David/Kate bzw. Leo, erzählt wird. Welche Möglichkeiten und Grenzen der thematischen und sprachlichen Darstellung ergeben sich aus der jeweiligen Erzählperspektive? Welche ist am ehesten zur kritischen Reflexion gesellschaftlicher Machtverhältnisse geeignet?
Bedenkenswert ist darüber hinaus der (in den Printausgaben dokumentierte) biographische Kontext der Autor*innen. Während Alex Gino und Meredith Russo in den Nachworten zu ihren Erzählungen explizit auf ihre Identitäten als Transgender-Persönlichkeiten hinweisen, findet sich bei Jeff Garvin eine Anekdote über einen Gerichtsfall, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Toiletten Transgender-Jugendliche zu benutzen haben. Die Diskussion darüber wird als Ausgangspunkt für eine intensive thematische Recherche beschrieben. Zur Genderidentität des Autors finden sich an dieser Stelle keine Angaben.3 Lisa Williamson bezieht die Erfahrungen, die ihrem Roman zugrunde liegen, aus einer zweijährigen Tätigkeit beim Gender Identity Development Service (GIDS), einer Abteilung des National Health Service (NHS), die Jugendliche mit Herausforderungen in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität unterstützt. In unterschiedlichen Ausprägungen verarbeiten alle Autor*innen biographische Erfahrungen bzw. Erkenntnisse aus Beobachtungen oder Recherchen, die biographische Erfahrungen zur Grundlage haben. Lisa Williamson wäre im Vergleich zu Alex Gino und Meredith Russo als cisgender zu bezeichnen, während zu Jeff Garvin nur auf der Basis des Romans keine Aussage getroffen werden kann.
Dieser Hinweis ist deswegen wichtig, weil wir in unseren Seminaren wiederholt heftige Diskussionen der Studierenden darüber erlebt haben, welche*r Autor*in mit welcher Berechtigung wessen Stimme(n) hörbar macht. Die Studierenden haben sich teilweise mit großer Emotionalität und Vehemenz gegen Lisa Williamson als berechtigte oder glaubwürdige Autorin eines Romans mit Transgender-Charakteren ausgesprochen, während sie es gleichzeitig unproblematisch fanden, dass beispielsweise eine weibliche Autorin in einer Erzählung einem männlichen Charakter eine Stimme verleiht. Mit demselben Argumentationsansatz ließe sich die Legitimität von Jeff Garvin als Autor eines Romans mit einem genderfluiden Charakter anzweifeln. Zu dieser Frage kam im Kontext unserer Seminare allerdings bisher keine Diskussion auf, sodass wir diesbezüglich keine Beobachtungen wiedergeben können.
5. Diskussion im Rahmen eines kritischen Fremdsprachenunterrichts und einer Kritischen Fremdsprachendidaktik
Diese hier anekdotisch geschilderte Emotionalität ist einer der Gründe, warum wir die Diskussion von Jugendliteratur mit Transgender-Themen für besonders geeignet im Kontext eines kritischen Fremdsprachenunterrichts und einer darauf ausgerichteten Lehrer*innenbildung halten. Gender ist – neben class und race – eine der zentralen Kategorien der Cultural Studies und aus der Perspektive der kritischen Pädagogik explizit als eine derjenigen genannt worden, für welche die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen zu überdenken und zu transformieren sind (vgl. Abschnitt 3). Mit ihrem thematischen Fokus gehört Transgender-Literatur zu den risikoreicheren PARSNIP-Themen, aber sie hat dafür eine deutlich größere Chance, gesellschaftlich relevant oder persönlich bedeutsam zu sein. Auch dafür scheint uns die Vehemenz der studentischen Reaktionen einen Beleg zu liefern – wenngleich an dieser Stelle die kritische Arbeit erst ihren Ausgangspunkt nimmt. Anhand der Romane lassen sich sowohl gender- als auch literaturbezogene Normvorstellungen aufarbeiten und neu perspektivieren: Die Studierenden (bzw. im schulischen Kontext: die Schüler*innen) bringen ihre impliziten Geschlechternormen zum Ausdruck, wie sie – auch in den Bildungsinstitutionen Universität und Schule – gesellschaftlich vermittelt und perpetuiert werden. Gesamtgesellschaftliche Hierarchien und Machtgefüge werden dort reproduziert und beeinflussen die Handlungen und Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen. Im Rahmen eines kritischen Bildungsansatzes können sich die Lernenden dieser Mechanismen bewusst werden und sie zugunsten einer größeren Akzeptanz und Diversität aufbrechen (vgl. auch Mihan 2018: 214). Zugleich bringen die Studierenden bzw. Schüler*innen zum Ausdruck, wessen Stimme sie für repräsentationswürdig halten bzw. wer aus ihrer Sicht wessen Geschichte mit welcher literarischen Stimme erzählen darf. Auch hier beeinflussen gesamtgesellschaftliche Hierarchien und Machtgefüge ihre Wahrnehmung und Positionierung. Im Rahmen eines kritischen Ansatzes lassen sich die Limitationen von Standpunkten erkennen, denen zufolge literarische Darstellungen auf direkten persönlichen Erfahrungen gründen müssen. Ebenso lässt sich das ‚Prinzip der Vielstimmigkeit‘ (Gutenberg 2013: 113) würdigen, das sich beispielsweise auch in unerwarteten Text-Autor*innen-Beziehungen ausdrückt. Mit der Thematisierung von möglichen Konsequenzen oder Effekten, wenn beispielsweise The Art of Being Normal nicht erzählt worden wäre, lässt sich auch die Frage der gesellschaftlichen und/oder politischen Wirksamkeit von Literatur und deren Beeinflussung von öffentlichen Diskursen relativ niederschwellig und ohne größere literaturgeschichtliche Zusammenhänge diskutieren (vgl. Abschnitt 2).
Zugleich ist aber auch die Frage nach einer Bevormundung unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen aufzugreifen. Dieser Punkt ist möglicherweise ein blinder Fleck oder zumindest eine Ungenauigkeit einer kritischen Pädagogik oder eines kritischen Ansatzes für den Fremdsprachenunterricht: Wie genau, d.h. auf welcher Basis und aus wessen Perspektive, wird gesellschaftliche Benachteiligung bestimmt, gegen die mit einer kritischen Haltung angearbeitet werden soll? Wie werden Themen, die aus kritischer Perspektive grundsätzlich legitimiert scheinen, im Einzelnen ausgewählt oder hierarchisiert? Sind transgender-bezogene Gegenstände beispielsweise wichtiger als traditionelle Gleichstellungsthemen, weil Erstere binäre Heteronormativitätsvorstellungen überwinden, Letztere aber nicht? Darüber hinaus sind grundsätzliche kritische Einschätzungen gegenüber dem Ansatz einer kritischen Pädagogik (und in der Folge Kritischen Fremdsprachendidaktik) zu bedenken, die sich zum einen darauf beziehen, dass gesellschaftliche Strukturen trotz dieses Bildungsansatzes nur geringfügig verändert werden. Zum anderen beziehen sie sich auf Inkonsistenzen und Inkohärenzen des Ansatzes selbst, d.h. “[…] it is based on post-modern notions of knowledge, yet makes universal claims; it speaks a language of care, but adopts a totalitarian view of society […]” (Sowden 2008: 284). Während also allen gesellschaftlich vertretenen Stimmen eine prinzipielle Gleichwertigkeit eingeräumt wird, bedeutet deren Thematisierung im Unterricht nicht, dass damit automatisch Ungleichheiten überwunden werden. Vielmehr lassen sich auch in einem kritischen Ansatz systemstabilisierende Tendenzen ausmachen.
Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden. Für grundsätzliche Legitimation von Transgender-Themen im Rahmen einer heteronormativitätskritischen Haltung sei verwiesen auf Mihan (2018) oder auch schon Decke-Cornill (2004). Letztere (ebd.: 200) betont, dass die Nichtberücksichtigung von Texten außerhalb der heterosexuellen Matrix bedeuten würde, den Lernenden kulturelles Wissen vorzuenthalten, sie der Möglichkeit kritischer Reflexionen zu berauben, die Legitimität nicht normativer Identitätsentwürfe und Verhaltensweisen zu verleugnen und damit zu bestehenden Marginalisierungs- und Verleugnungsmechanismen beizutragen. Das Argument ähnelt Faircloughs (1992: 6) Annahme, dass die Vernachlässigung einer kritischen Komponente der sprachlichen Bildung gleichbedeutend mit einer Fehlfunktion des Bildungsangebots sei: „People cannot be effective citizens in a democratic society if their education cuts them off from critical consciousness of key elements within their physical