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bei dir.« Es war die Stimme Christins, die er in seinem Schädel hörte.

      II

      Christin Maginot wurde 1953 geboren, in einem kleinen Dorf namens Orbey im Oberelsaß. Sie war das fünfte Kind, und ihr Vater, der alte Pierre Maginot, war Bauer und Totengräber zugleich. Sie war schon fast zwei Jahre alt, als ihm zum erstenmal der Gedanke kam, daß mit seinem fünften Kind etwas nicht stimmte.

      Denn daß sie als Baby fast niemals geschrien hatte, ganz anders als seine vier älteren Kinder, durchwegs Buben, daß sie immer freundlich lächelte, wenn jemand an die Wiege herantrat, war ihm nicht besonders auffallend erschienen. Mit zwei Jahren aber sprach sie immer noch kein Wort, obwohl sie alles zu verstehen schien. Dann war die Sache mit den Stubenfliegen. Die kleine Christin verscheuchte sie nicht mit ärgerlichen Handbewegungen, wie ihre Geschwister es taten. Sie breitete im Gegenteil ihre kleinen Ärmchen aus und ließ die Fliegen daran herumkrabbeln, schien sich darüber auch noch zu freuen und lächelte ihr sonnigstes Lächeln. Und ihre Augen wurden dunkel und traurig, wenn Pierre Maginot ihr die Fliegen verscheuchte. Ihm kam seine einzige Tochter also damals schon sehr komisch vor, aber mit seiner Frau konnte er darüber nicht reden. Denn seit sie nach Christins Geburt aus dem Wochenbett war, wurde sie krank und immer schwächer. Und sie starb fast auf den Tag genau, als Christin zwei Jahre alt geworden war.

      Christin mußte die erste Klasse wiederholen, weil sie trotz intensiver Bemühungen von Madame Leclerc, das war die Lehrerin, nicht imstande war, die einfachsten Rechnungen zu lösen. Solange bei den Ziffern die Fingerchen reichten, ging es ja noch. Aber zweistellige Zahlen zu begreifen, ging über ihre Kräfte, da half kein Zureden und kein Schimpfen, Christinchen lächelte lieb und hilflos, es war jede Mühe vergebens. Dann passierte die Geschichte mit dem Bullen, des Nachbarbauern Jungstier, der böse und gefährlich war und deshalb geschlachtet werden sollte. Als das Vieh einmal über den Weidenzaun setzte und die Kinder in panischer Angst davonrannten, ging Christin Maginot auf den Stier zu, redete mit ihm und – was für ein Wunder – der Bulle wurde ganz friedlich und ließ sich von dem kleinen Mädchen sogar streicheln und folgte ihm wie ein braves Hündchen in den Stall. Das ganze Dorf redete davon, damals.

      Vier Wochen durfte Christin täglich zweimal den Stier besuchen, ihn tränken und Futter vorwerfen, denn er war stets friedlich, wenn er das Kind nur von weitem spürte. Und der Nachbarbauer hoffte doch noch, er könnte den teuren Bullen erhalten und das Vieh würde zur Vernunft kommen. Aber wenn Christin nicht in der Nähe war, wurde es immer ärger mit dem Stier und er brüllte und attackierte alles, was sich in seine Nähe getraute. Schließlich schlachtete der Bauer dieses gemeingefährliche Biest, an einem Vormittag, als Christin in der Schule war; und als das Mädchen am Nachmittag den Stall leer fand und im Hof die blutigen Fleischteile hängen sah, rannte es heim und weinte drei Tage lang oder vier. Christin Maginot weigerte sich ab diesem Tag, Fleisch zu essen und dabei blieb es. Sie aß weder Fleisch noch Wurst und zuerst die Familie und dann das Dorf gewöhnten sich daran. Das war eben Christin Maginot, die »nicht ganz beisammen war im Kopf«.

      Mit vierzehn konnte Christin leidlich lesen und schreiben. Sie ging bei der Dorfschneiderin in die Lehre, hatte flinke, geschickte Hände und wurde mit jedem Monat hübscher. Die Burschen im Dorf pfiffen und schnalzten mit den Zungen, wenn sie das Mädchen sahen.

      Gustave, ihr ältester und Lieblingsbruder, hütete und beschützte sie und gab ihr manchmal auch kräftige Ohrfeigen, wenn sie spät nach Hause kam. Denn der alte Pierre Maginot war zu dieser Zeit schon fast immer betrunken und kümmerte sich um nichts mehr, ausgenommen um seinen Weinkeller. Dann kam die Zeit, in der Christin wöchentlich zwei- und auch dreimal abends zur Kirche ging und dort im Chor probte. Denn Christin konnte singen, daß einem die Augen feucht wurden. Beim Ave Maria am Sonntag in der Messe sang sie Oberstimme und die Gläubigen bekamen eine Gänsehaut. Ein junger Dorfpfarrer war da, der prächtig Orgel spielen konnte. Eines Tages nach einer Maiandacht kam Christin spät heim und sagte zu Gustave, daß sie nie mehr im Leben in die Kirche gehen werde. Gustave sprach lange mit ihr und ging dann ins Dorfwirtshaus und betrank sich. Zur Sperrstunde war er so voll und wütend, daß er schrie, er ginge jetzt geradewegs zur Pfarre und erwürge den Dorfpfarrer, dieses Schwein. Er tat es aber dann doch nicht. Christin war konsequenter. Sie ging tatsächlich nicht mehr zur Kirche. Ein Jahr später, es war wiederum im Mai, wurde Christin wieder einmal sehr sonderbar. Sie aß fast nichts und starrte stundenlang zum Fenster hinaus. Ihre Augen wurden ganz hell und ihr hübsches Gesicht eigenartig verzückt, als ob sie geradewegs in den Himmel sehen könnte. Ihre Brüder hatten längst aufgehört, sich über sie zu wundern, nur Gustave schüttelte sie manchmal und schrie ihr in die Ohren, als ob er sie aufwecken müßte. Sie weinte dann manchmal, so wie wenn man ihr etwas Wundersames weggenommen hätte, aber sie war Gustave niemals wirklich böse, er blieb ihr Lieblingsbruder. Als der Zirkus ins Dorf kam, nahm sie Gustave zur Abendvorstellung mit, um sie auf andere Gedanken zu bringen, wie er sagte.

      Christin war wie ausgewechselt an diesem Abend, sie fand alles großartig, besonders die Tiere. Der Zirkus blieb nur einen Tag und Christin wurde wieder traurig und starrte zum Fenster hinaus. Eine Woche später schickte Madame Duval, das war die Schneidermeisterin, ein Lehrmädchen zum Hof der Maginots und ließ fragen, warum Christin nicht zur Arbeit gekommen war, ob sie etwa krank sei. Christin aber war wie jeden Morgen mit dem Fahrrad ins Dorf gefahren. Einen Tag lang suchte Gustave sie und am nächsten Tag der Dorfgendarm. Christin war verschwunden.

      Das Fahrrad fand man in Ronceray bei einer Tankstelle. Der Tankwart erinnerte sich an ein hübsches rothaariges Mädchen, das sich angeregt mit einem Fernlastfahrer unterhalten hatte. Der Dorfgendarm von Orbey fluchte damals ordentlich, er hatte eine Menge zu schreiben, eine Abgängigkeitsanzeige und eine überörtliche Personenfahndung. In Strasbourg, wo der Zirkus gerade gastierte, suchten Polizeibeamte alle Wohnwagen und das Zelt ab. Christin Maginot blieb verschwunden.

      Die Zeit verging und nach einem Jahr oder so sprach kaum noch jemand von der sonderbaren Christin im Dorfe Orbey. Der junge Pfarrer war versetzt worden, in eine andere Gemeinde, das war, weil die Leute soviel tratschten. Der Dorfgendarm war überzeugt, daß die grenzdebile Christin Maginot – so sagte er – längst Opfer eines Verbrechens geworden und irgendwo in einem finsteren Wald eingescharrt war, wo niemand sie finden konnte. Das sagte er auch meistens im Dorfwirtshaus und Gustave Maginot hörte davon und wurde wütend, und wenn er betrunken war, sagte er laut, er wisse genau, daß seine Schwester noch lebe und daß es ihr gut gehe. Im Ausland. Und der Gendarm sei selber grenzdebil. Dieses wiederum wurde dem Gendarmen hinterbracht und eines Tages sagte der Gendarm dem Gustave höchst amtlich, wenn er Nachricht von seiner abgängigen Schwester habe, müsse er dies melden, das wäre Bürgerpflicht.

      Gustave meinte mürrisch, er habe keine Nachricht erhalten, keinen Brief oder Telegramm oder so. Wie sollte er diesem Gendarmen auch erklären, daß er nachts manchmal aufwachte und die Stimme seiner Schwester hören konnte, wie sie sagte, daß sie ihn gern habe und er sich keine Sorgen machen müsse. Der Gendarm hätte dann herumgeredet, die Maginots wären allesamt grenzdebil, oder wie das Wort hieß. Immerhin, Gustave war sich seiner Sache ziemlich sicher. Als der alte Maginot im Sterben lag, sagten alle im Dorfe Orbey, er habe sich zu Tode gesoffen und ein neuer Totengräber müsse nun her, einer, der auch manchmal nüchtern wäre. Den Gustave scherte das wenig. Er machte die Arbeit seines Vaters, auch die Totengräberei, aber es starben ja wenig Leute in Orbey, einer oder zwei im Monat, keine Hetze also. Gustave wollte den Totengräberposten ohnehin nicht. Er war so gut wie verlobt mit Madeleine, die mit ihrer Familie vor sechs Monaten nach Pittsburg, USA, ausgewandert war und ihm wöchentlich Briefe schrieb, er solle bald nachkommen. Die anderen Brüder gingen alle ihre eigenen Wege und es war ausgemacht, daß der Hof nach dem Tod des Alten verkauft und der Erlös dann aufgeteilt werden sollte. Durch vier, denn Christin war immer noch vermißt. Dann starb der alte Maginot tatsächlich und Gustave hob die Grube aus am Friedhof und für Freitag war das Begräbnis angesetzt. Niemand dachte damals an Christin. Mit Ausnahme von Gustave, der im Schlaf manchmal die Stimme seiner Schwester hörte. Sie sagte, sie wäre rechtzeitig beim Begräbnis. Die Kirchenglocken läuteten an diesem Freitag und das halbe Dorf stand um das offene Grab. Der neue Pfarrer war ein älterer Herr und hielt die Grabrede, als plötzlich Christin da war, neben ihren Brüdern stand. Sie war ganz in Schwarz und so schön, daß einem die Luft wegblieb. Alle wunderten sich sehr, bis auf Gustave vielleicht,

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