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in das Bankinnere, lief ein paar Schritte und ließ sich neben dem Schalterpult fallen. Es war das erste Mal seit zehn Jahren, daß Pierre nicht das tat, was der Chefinspektor anordnete.

      Es fiel ihm ein, daß er ja schon einmal da gewesen war. Natürlich, damals war er auch im Hauptdienst und weil vom C-Referat keiner mehr da war, schickten sie ihn her, von der Dienstführung. Jemand wollte einen falschen Scheck einlösen. Pierre hatte damals den Mann »gepflückt«, alles war ganz glatt gegangen und ganz unauffällig. Das war etwa bei Schalter zehn gewesen, dort, wo jetzt der Chefinspektor stand und das Megaphon auf das Schalterpult stellte. Die Halle hatte vierzehn Schalter. Seltsam, sie war ihm damals viel kleiner vorgekommen. Jetzt wirkte die Halle unendlich lang. Das kam wahrscheinlich davon, weil sie leer war. Sonst wimmelte es hier von Menschen. Kunden und Angestellten. Pierre kroch weiter vor, er mußte jetzt etwa bei Schalter vier sein, die Numerierung begann beim Eingang. Er sah eine Handtasche liegen, rechts von ihm, und weiter vorn lag ein Damenschuh. Verloren wahrscheinlich in der allgemeinen Panik, als der Gangster die Menschen zusammentrieb.

      Eine aufgeregte Männerstimme rief jetzt, er sei der Sprecher des Herrn von der Roten Armee-Fraktion Er hätte den Auftrag zu sagen, der Inspektor solle sofort verschwinden. Der Mann stotterte vor Angst und Aufregung: »Sofort verschwinden sollen Sie! Keine Polizei im Bankraum!« Die Rote Armee werde die Bedingungen später bekanntgeben. »Sie sollen jetzt verschwinden, sonst wird geschossen!« schrie der Mann, er bekam eine ganz hohe Stimme.

      »Schon gut«, hörte Pierre den alten Trud sagen, jetzt ohne Megaphon. »Sagen Sie dem Herrn Rote Armee …« Ein paar Weiber kreischten jetzt hysterisch, es hörte sich scheußlich an in der leeren Halle.

      »Zurück!« schrie der Mann, »um Gottes willen, gehen Sie nicht weiter, er schießt …«

      Trudeau mußte jetzt etwa bei Schalter zwölf sein. Pierre er innerte sich, daß dort die Halle nach links breiter wurde, in einen quadratischen Raum mündete.

      Pierre richtete sich langsam am Schalterpult so weit auf, daß er gerade darübersehen konnte. Er erkannte deutlich die Ecke, hinter der sich der Gangster mit dem Großteil der Geiseln aufhalten mußte. Sieben oder acht Frauen konnte er sehen, die mit dem Rücken zur Ecke auf Sesseln saßen. Sie hatten die Köpfe gesenkt und hielten die Hände vor den Gesichtern.

      Der Chefinspektor redete ruhig und gütlich wie ein Vater zu seinem vertrottelten Sohn.

      »… unbewaffnet …«, hörte Pierre, »… ich bin ein alter Mann und unbewaffnet. Von mir droht keine Gefahr, Sie sollten mich ansehen. Macht keinen Unsinn. Ich komme in einer halben Stunde wieder …« Pierre sah, daß Trud noch zwei Schritte vorwärts ging. Wieder kreischten ein paar Frauen. »Ich geh ja schon«, sagte Trudeau, »bin ja schon weg. Die Rote Armee soll die hysterischen Weiber rausschmeißen. Hörst du mich, Herr Rote Armee? Laß die Weiber raus, die stören ja nur … Ich geh jetzt.« Tatsächlich drehte er sich langsam um. »In einer halben Stunde oder so …«, sagte er noch.

      Von Chefinspektor Trudeau sagten alle, er hätte in seinen vierzig Dienstjahren niemals auf einen Menschen geschossen. Allerdings meinten einige, die Älteren, er habe dies manchmal bereut. Doch Pierre waren Papa Truds Worte noch in deutlicher Erinnerung aus den ersten Tagen, als er seinen Dienst im Referat A angetreten hatte. Der so tolerante Chefinspektor bekam bei seinen Routine-Vorträgen ganz schmale Augen, wenn er sagte: Ein Kriminalbeamter … Nein, das waren nicht seine Worte. Ein Flic, so sagte er, ein Flic, der einen Arrestanten mißhandelt, nur »um ein Geständnis zu bekommen«, so einer ist ein Idiot. Und Idioten brauche ich nicht in meinem Referat. Ihr müßt mit den Gehirnen arbeiten, nicht mit Faust und Ellenbogen. Wenn einer frech wird, das ist was anderes. Aber niemals um ein Geständnis zu erreichen, versteht ihr, niemals.

      Es wäre ein Armutszeugnis für einen Flic, sagte der alte Chefinspektor dann hinterher, ein Armutszeugnis, wenn ein Kriminalbeamter – diesmal sagte er tatsächlich Kriminalbeamter – kein anderes Mittel zur Beweisführung finden könnte.

      »Dreschen ist Scheiße«, sagte der alte Trud, »und außerdem nach der Strafprozeßordnung verboten.« Und schließlich, man müsse auch verlieren können. In allen Sparten des Lebens gäbe es Siege und Niederlagen. Warum also nicht bei der Kieberei. »Beim Kampf gegen das Verbrechertum«, verbesserte sich der Chefinspektor schnell. »Wenn es nicht anders geht, laßt den Kerl laufen. Vielleicht ist er das nächste Mal dran.«

      Pierre duckte sich wieder hinter das Schalterpult. Er sah dem alten Chefinspektor entgegen, der langsam näher kam, die Hände in den Taschen. Das Megaphon hatte er auf dem Schalterpult stehen lassen, Pierre wunderte sich, ob es Absicht war. Aber wahrscheinlich hatte es der alte Trud nur vergessen. Er war vielleicht noch sechs Meter entfernt, als sich ihre Augen trafen. Pierre sah das belustigte Zucken in diesem alten Gesicht, das ihm so vertraut war. Na ja, am Boden hockend mit zwei Pistolen in den Händen, mußte es wirklich ein Bild wie aus einem amerikanischen Kriegsfilm sein. Pierre sah den leisen Wink aus den Augen des Chefinspektors und verstand: Er sollte wieder rauskommen. In Hockestellung kroch er dem Alten bis zum Eingang nach. Er kam sich ziemlich blöd vor dabei und die Oberschenkel schmerzten.

      Draußen vor dem Eingangstor summte es wie in einem Hornissennest. Die uniformierten Kollegen hatten inzwischen Ordnung gemacht, die Schaulustigen zurückgedrängt und die Zufahrtswege frei gemacht. Der Dienstwagen des Vizepräsidenten stand etwa zwanzig Meter links vom Eingang. Der alte Trud schneuzte sich umständlich und fingerte eine Gauloise aus der Westentasche.

      »Alle Ausgänge sind jetzt doppelt gesichert«, meldete der Major. »Die Scharfschützen sind angefordert.«

      Trudeau nickte. Er winkte Pierre, mitzukommen und ging zum Auto des Vizepräsidenten. Der Chefinspektor winkte auch noch Petit und Brune heran, die Gruppeninspektoren, und den Major. Es gab also so etwas wie eine erste Lagebesprechung beim Vizepräsidenten, der nun aus dem Auto stieg und irritiert herumschaute. Sie standen nun beisammen bei dem Auto, der Vizepräsident gab dem Chefinspektor die Hand und auch dann dem Major, den anderen nickte er zu. Alle schauten nun dem Chefinspektor auf den Mund und Pierre hatte wieder dieses Gefühl, daß keiner recht wußte, was zu tun sei. Und daß alle hofften, dem alten Trud würde was einfallen und er würde endlich sagen, wie es weitergehen sollte.

      »Meine Herren«, sagte Trudeau, seine Stimme klang ganz ruhig und fast ein wenig müde, ganz so wie an den Tagen, wenn er den Frührapport abwickeln mußte. »Meine Herren, es ist jetzt acht Uhr fünfzig.«

      Na und, dachte Pierre enttäuscht, acht Uhr fünfzig, das weiß doch jeder, der eine Uhr hat, und er ertappte sich dabei, wie er einen Blick auf seine Armbanduhr warf. Natürlich war’s acht Uhr fünfzig. Und alle Herumstehenden sahen kurz auf ihre Uhren, wie nach einem hypnotischen Befehl. Auch der Vizepräsident. Lächerlich, dachte Pierre wütend.

      »… und wir müssen uns auf einen langen Einsatz gefaßt machen. Der Täter ist allein, ein Einzelgänger, soweit ich das beurteilen kann. Er wollte sicherlich nicht die Bank berauben und dann schnell abhauen. Unsere erste Annahme, Herr Vizepräsident …«, Trudeau sprach ihn direkt an, »… war falsch. Wir dachten, der Bankräuber hätte durch den Bankalarm und das rasche Eintreffen der Streifenwagen das Gebäude nicht mehr verlassen können, dann spontan und verzweifelt die Geiseln genommen, um doch noch irgendwie rauszukommen. Diese erste Einschätzung der Lage stimmte nicht. Vielmehr ist der Täter …«, wieso weiß er das alles, dachte Pierre. Wieso kann er das wissen, wieso sagt er das alles so bestimmt? »… vielmehr ist der Täter vorbedacht und schon in der Absicht, möglichst viele Geiseln zu nehmen, in die Bank eingedrungen. Er hat also einen fixen Plan, durch Pression und mit Hilfe der Geiseln wieder rauszukommen. Mit dem ganzen Geld der Bank, das im Saferaum liegt. Er hat bisher überhaupt nichts getan, um an das Geld heranzukommen, das in den Kassen ist. Es geht ihm ums Ganze. Nach meiner Einschätzung wird sein Ausbruch erst bei Dunkelheit erfolgen. Das ist gegen zwanzig Uhr. Es wird also ein langer Tag.«

      Er hat nicht mehr gesehen als ich, der alte Trud. Nicht viel mehr. Wieso, verdammt, weiß er das alles, dachte Pierre. »Wieso«, sagte der Vizepräsident, er machte ein Gesicht, als ob er eben eine Kröte gegessen hätte, »wieso …« Da schrie eine Frau gellend auf, das Eingangstor der Bank wurde aufgerissen, die Frau schrie hysterisch, sie war sichtlich hochschwanger. Einen Bogen Papier hielt sie in einer

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