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Pierre hatte es gelesen, gestern im France Soire, aber glatt vergessen. Er wollte Brune was Böses sagen, aber der ging zu Petit, und dort stand der Vizepräsident. Morgen nenn ich ihn auch einen Trottel, gleich in der Früh in der Kantine, dachte Pierre. Morgen krieg ich dich, Brune, für den Trottel, fluchte er.

      Wenn es ein Morgen gab.

      Es dauerte fast zehn Minuten, bis Trudeau wieder aus dem Wagen herauskam.

      »Okay«, sagte er dann. »Robert und Petit, ihr geht bis zu dem Citroën dort. Hüpft ein wenig herum, daß er euch sehen kann. Macht so, als ob ihr hinter dem Wagen in Stellung gehen wollt. Er kann euch dort sehen aber kaum treffen, wenn ihr flink seid.« Die beiden trabten zu dem Citroën. »Du zieh die Schuhe aus, Pierre«, sagte Trudeau. »Was ist«, meinte er dann, »hast du Löcher in den Sokken?«

      Pierre hatte keine Löcher in den Socken, soweit er wußte. Aber warum er jetzt …

      »Monsieur Président«, hörte er den Chefinspektor. »Ich geh jetzt wieder rein und versuche, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Obwohl ich glaube, daß er erst abends ausbrechen will, müssen wir jetzt schon vorbereitet sein. Dieser junge Inspektor« – Trudeau deutete auf Pierre – »wird mit mir kommen. Es gibt da einen Platz vor der Ecke im Schalterraum, wo en in Stellung gehen kann. Wenn er geschickt ist. Während ich vorausgehe und dann mit dem Gangster verhandle, werden alle auf mich schauen. Er kann sich dann unbemerkt zu dieser Stelle schleichen.« Pierre schlüpfte nun aus den Schuhen. Das war es also. Er fühlte den Arm Trudeaus um seine Schultern und sie gingen zum Bankeingang. Daß jedes Blutvergießen tunlichst zu vermeiden sei, hörte Pierre den Vizepräsidenten noch sagen. Tunlichst!

      »Du bist das Trumpfas im Spiel, Pierre«, sagte der alte Trud, langsam und bedächtig, »das Trumpfas. Fragt sich nur, ob du zum Stechen kommst. Die Chance ist, daß du so nahe dran bist, an dich denkt keiner, verstehst du? Sie gehen zum Ausgang und erwarten die Konfrontation bei der Tür. Bevor sie dorthin kommen, müssen sie an dir vorbei. Das ist unsere Chance. Schieß nur, wenn du ganz sicher bist, keine Geisel zu treffen. Und ziel auf den Kopf! Vergiß die Waffengebrauchsvorschriften. Das biegen wir alles hinterher. Schieß ihm in den Schädel und triff ordentlich, dann ist alles okay, aber schieß in den richtigen Schädel, um Gottes willen. Verstehst du?«

      Pierre verstand. War ja nicht schwer, Papa Trud zu verstehen, wenn er so redete.

      »Ich bin es wieder, Herr Rote Armee, Inspektor Trudeau. Wir haben Ihren Aufruf erhalten. Der Inhalt wird jetzt geprüft im Ministerium. Sie verstehen …« Der Chefinspektor ging wieder langsam tiefer in die Schalterhalle. Bei Schalter vier hatte er zu sprechen begonnen.

      Pierre kauerte bei Schalter zwei.

      »Ich muß Sie allerdings darauf aufmerksam machen, daß wir mit Ihnen nur verhandeln, solange …«

      Pierre schwang sich über das Schalterpult und ließ sich zu Boden fallen. Es hatte fast keinen Lärm verursacht.

      »… solange keiner der Geiseln irgend etwas geschieht. Wenn Sie auf diese unschuldigen Menschen schießen, Rote Armee, wird die Polizei die Bank stürmen, verstehen Sie?«

      Pierre kroch auf allen vieren vorwärts, er gewann ordentlich an Boden.

      »Wir müssen Sie auf die Folgen aufmerksam machen, Sie haben dann keine Chance. Seien Sie deshalb vernünftig. Können Sie mich hören? Verstehen Sie, was ich sage?« Trudeau sprach laut, aber doch irgendwie beruhigend im Ton. Pierre zwängte sich unter ein Tischchen weiter nach vorn. Er hatte noch circa zehn Meter zu kriechen, dann war er dort, wo ihn Trud haben wollte.

      »Wenn Sie schießen, wird gestürmt!«

      Es war die plötzliche Schärfe im Ton, die Pierre zusammenzucken ließ. Da schrien auch schon ein paar Weiber gellend, es war schaurig anzuhören. »Zurück, sind Sie wahnsinnig«, schrien sie. »Wollen Sie, daß wir alle umkommen. Zurück!« Trudeau war stehengeblieben, dort, wo das Megaphon noch auf dem Pult lag.

      Pierre hatte den Lärm ausgenützt, er lag jetzt genau dort, wo er sollte. Der alte Trud ist wirklich wahnsinnig, dachte er. Wenn das nur gutgeht.

      Nun schrien auch ein paar Männerstimmen. »Verschwinden Sie sofort, Sie Polizeischwein«, hörte Pierre. »Sie riskieren unser Leben. Hau endlich ab, Idiot, wahnsinniger.«

      »Ich geh schon, ich geh ja schon.« Das war wieder Trudeau. »Aber das mußte gesagt werden. Sie müssen verstehen.« Er sprach wieder ruhig und fast gemütlich und Pierre spürte, wie sich in seiner Brust irgendein Krampf löste. Er hörte noch, wie Trudeau zurückging, redend und brummend, irgendwelches Zeug, das beruhigend klingen sollte. Dann hörte er die Eingangstür und es wurde ganz ruhig. Pierre merkte, daß sein Atem stoßweise ging und sein Herz klopfte.

      Flach auf dem Boden, so wie er jetzt lag, konnten sie ihn nicht sehen, solange sie auf den Bürosesseln kauerten. Kritisch wurde es, wenn eine der Geiseln aufstehen sollte, aus irgendeinem Grund. Pierre war nicht sicher, aber es stand zu befürchten, daß man stehend auf Höhe der Mauerecke seine Beine sehen konnte. Wenn eine Geisel dann wieder die Nerven verlor und hysterisch zu schreien begann, konnte alles mögliche passieren. Pierre hatte kein Schußfeld zu dem Mauervorsprung von dort, wo er lag. Der Gangster könnte ihm von der Ecke aus eine Salve in die Beine schießen, ohne daß Pierre irgendeine Chance hatte.

      Er sah unter den Bürotischen und - sesseln nur die Beine von vier Geiseln, durchwegs Frauen. Die anderen Geiseln waren hinter der Mauerecke, wo der Stiegenabgang zum Saferaum war. Wahrscheinlich hatte der Gangster die männlichen Geiseln näher zu sich beordert, um sicherer zu sein, daß keiner davonrannte. Für Pierre war jetzt nichts zu tun als ruhig zu liegen und abzuwarten. Sollte der Gangster mit Geiseln die Bank verlassen wollen, müßten sie rechts von Pierre vorbeikommen. Dorthin zu dem schmalen Durchgang durch das Schalterpult hatte Pierre gute Sicht gegen die hellen Glasscheiben im Hintergrund. Und freies Schußfeld. Darin bestand die Chance, die sich der Chefinspektor ausgerechnet hatte. Das Risiko war, daß Pierre vorzeitig entdeckt wurde. Blieb also wirklich nichts anderes übrig, als still dazuliegen, den Hustenreiz zu unterdrücken und die acht Damenbeine anzustarren, aus einer Entfernung von circa sechs Metern. Einem der Beine fehlte ein Schuh. Ein Beinpaar war ständig in leichter Bewegung, wahrscheinlich war die Dame nervös, Pierre konnte von Zeit zu Zeit ihr Unterhöschen sehen. Es war blau und es stand »Sonntag« darauf, eines von diesen Wochen-Set-Dingern. Heute war Freitag. In jeder anderen Situation hätte ihn das amüsiert. Christin hatte gern diese Art von Unterwäsche getragen: Sieben reizende Dinger, in rosa oder blau, in allen Farben eben, und auf allen war der Wochentag gedruckt, von Montag bis Sonntag, praktisch. Man brauchte nur jeden Tag das passende aussuchen. Ein Verkaufsschlager, damals als er Christin kennenlernte. Irrtümer waren fast ausgeschlossen, wenn man den Kalender im Kopf hatte – jeder Tag sein eigenes Höschen – Gebot unseres hygienischen Zeitalters. Sicher kam die Idee von Amerika. Christin war damals ganz begeistert. Pierre erinnerte sich an die ersten Schwierigkeiten: Wenn Christin ihre Tage hatte, bevorzugte sie dunkle und stärkere Höschen. Das war eben so. Dann kam der ganze Zeitplan durcheinander. Wegen der »Monatshöschen«. Wahrscheinlich ging es der Geisel sechs Meter vor ihm ebenso. Pierre hätte sie gern gefragt, aber das war jetzt nicht möglich. Wahrscheinlich auch später nicht.

      Ja Christin, wenn sie ihre Tage hatte und die dunklen Höschen trug, ohne Aufschrift, das waren problematische Tage, auch für Pierre. Und immer schlimmer wurde es. Es war jetzt gespenstisch still in der langen Schalterhalle. Nur undeutlich und wie aus einer anderen Welt vernahm man den Straßenlärm von draußen. Eine Frau unter den Geiseln wimmerte manchmal oder weinte kurz auf. Immer die gleiche, soweit Pierre feststellen konnte. Sonst war es still wie in einer Kirche.

      Still wie in einer Kirche.

      Pierre Cousteau sah zwei dunkle Flecken am Fußboden, unter seinem Gesicht, gleich darauf einen dritten. Erst jetzt merkte er, daß er schweißnaß war und es von seiner Stirn tropfte. Und dann hörte er plötzlich wieder diese Stimme in seinem Gehirn, wie damals, vor Jahren. »Bleib ruhig, Liebling, ich bin bei dir«, sagte diese Stimme. Er bekam die Gänsehaut, wie damals immer, und wurde wütend. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Und er wehrte sich gegen dieses sonderbare Gefühl, das er nun so lange nicht mehr gespürt hatte. Es war einfach lächerlich und undenkbar,

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