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Lill. Der Roman eines Sportmädchens. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Lill. Der Roman eines Sportmädchens
Год выпуска 0
isbn 9788711507292
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Seelenarzt beobachtete dies Körperspiel wie ein neues Problem der Wissenschaft. Er nahm es in stiller Andacht in sich auf: diesen selbstvergessenen, atemlosen Wirbel leiblichen Willens, bei dem diese junge Lill offenbar gar nicht mehr an die Zuschauer und an ihre Wirkung auf diese Männer und Frauen, sondern nur noch, wie in der Steinzeit, daran dachte, wer im Kampf die Stärkere sei — sie oder das ebenso wild herumflatternde andere Fräulein drüben . . .
Immer mehr verlor sich das Auge des Jrrenarztes in das Bild dieses schönen, gesunden, jungen Körpers — dieses von der Aufregung geröteten, hübschen, leidenschaftlichen Gesichts mit der weissen Stirnbinde um die zerzausten, blonden Bubiwellen. Diese langen Katzensprünge der grauen Maus des Balls entgegen, dies lauernde Ducken — dies Rennen wie ein Windhund . . . Der kleine Mann mit der hohen Schulter sah und sann: Merkwürdig, wieviel Freude der Mensch am eigenen Körper haben konnte . . .
„Die Bödiger macht’s, wie sie will!“ hörte er neben sich eine Damenstimme. Und eine zweite: „Aber die andere lässt sie wenigstens tüchtig laufen!“ Nun — natürlich lief die Lill. Hauptsächlich fegte sie ganz rückwärts, hinter dem letzten weissen Bodenstrich hin und her . . . Dann stand sie wieder weiter vorn, den dünnen Arm ohne die geringste Knickung im Ellbogen wagerecht seitlings langgestreckt. Sie trieb den Ball. Dr. Hormuth ertappte sich darauf, wie er selbst in jäher Spannung, gleich der anderen umher, dessen Flug folgte. Der Ball kam zurück. Der Irrenarzt sah wieder auf Lill. Auf das rastlose Spiel ihrer aufgeregt glänzenden Augen in die Luft hinaus — auf den wilden Gesichtsausdruck mit dem halb offenen Mund — ein leidenschaftlicher Satz in die Höhe . . . Es war ein träumerisches, selbstvergessenes Wohlgefallen, dem allem zuzuschauen . . .
Männerstimmen . . Einige Herren von hinten. Ein hagerer Tennisspieler, glattrasiert, mit blossem Stoppelkopf, in zitrongelbem Mantel, schob sich zwischen die Sitzreihen und stand da, unbekümmert, dass er anderen die Aussicht versperrte. Es wagte auch niemand, etwas zu sagen. Das war Herr von Orff. Der Crack gähnte breitbeinig, ein in die Provinz verirrter weltstädtischer Halbgott, und blinzelte gelangweilt auf den Tennisplatz, als sei das ein Kindergarten.
„Was wird denn da wieder zusammengestöpselt . . . Nettes Tempo . . . Die feiern wohl Grosspapas Geburtstag . . .“, sagte er. „Wer ist denn eigentlich das lange, blonde Mädchen, das da herumkraucht?“
„Ein Fräulein Bödiger!“ sagte einer aus seinem Gefolge. „Geht auf den Namen Lill.“
„Weiss ich! Aber sonst? Vater bei Kasse? Fabrik-Konzern? Villa im Grunewald? . . Gott . . Eigentlich ein niedliches Tierchen! Können kann sie ja nischt . . .“
„Im Hauptberuf Turnier-Reiterin!“
„So Kinder sollt’ man auch nicht auf Pferde setzen!“ sagte Herr von Orff und zündete sich eine kurze Pfeife an. Der kleine Herr im Schlapphut vor ihm stand heftig auf, mit einem Stich im Herzen, dass man ihn so kaltschnäuzig aus seinem Traumgesicht riss. Er drängte sich, im Gegensatz zu seiner sonstigen leisen und milden Art, unsanft an seinem Hintermann vorbei. Er und Robby Orff schauten sich eine Sekunde in die Augen, der Krüppel mit einem feindseligen, der Athlet mit einem Ausdruck der Befremdung, dass jemand ihm zu nahe kam. Dann merkte er, dass der andere verwachsen war. Er lächelte plötzlich angelsächsisch, sonnig, förmlich um Entschuldigung bittend, und gab ritterlich, wie früher gegen eine Dame, den Weg frei. Der Gelehrte trat an dem Sportsmann vorbei auf den Rasen hinaus. Er schaute noch einmal nach dem Tennisplatz zurück. Lill stand da, bückte den schlanken Oberkörper, wippte den Ball mit der Schlägerfläche vom Boden und fing ihn mit der Hohlhand. Sie schwatzte dabei und schüttelte sich vor Lachen, mit heissen Backen und zerflattertem Haar. Sie war offenbar schon nahe an ihrem zweiten heutigen Sieg. Die Herbstsonne schien hell auf ihr weissflimmerndes, kurzes Kleid.
Das Badestädtchen lag in warmem Mittagsgold. Blau, rot, weiss brannten die Astern im Kurgarten. Farbige Orchideen sprenkelten das Grün der Wiesenflächen. An den Villen in der langen Vorstadtstrasse kletterte feurig rot der wilde Wein. Herbst. Der kleine Herr im Schlapphut, mit der hohen Schulter, ging über das raschelnde Laub am Boden, in einer sonderbaren Stimmung — von Abschiednehmen und Immerwiederkehr der Dinge — als hätte man das alles schon erlebt — oder nichts erlebt . . . Es war ja schon wieder alles vorüber . . .
Da ragte vor ihm das stille, grosse, weisse Haus mit den vergitterten Fenstern, fernab von den Menschen, im einsamen, buntscheckig wie ein Hanswurst gefleckten Park. Seine Welt. Er trat ein. Auch hier Herbstsonne und Herbstfrieden hinter den hohen Mauern. Die meisten von den Seinen bei dem schönen Wetter im Freien, eifrig in dem weiten Gemüsegarten bei der Arbeit. Der Kaiser von China zupfte Unkraut. Der General mit den vielen Orden buddelte Kartoffeln. Der Prinz schaufelte im Schweiss seines Angesichts. Der reichste Mann der Welt pumpte sich Brunnenwasser in die Giesskanne. Selbst Napoleon hatte sich beruhigt und fuhr Mist.
Auf einer Bank sass die gläserne Dame, das Stielglas vor den Augen, und las die Zeitung. Der Jrrenarzt setzte sich neben sie, ohne dass sie sich um ihn kümmerte. Er schaute schweigend in den Garten hinaus. Über dem stand blassblau, hoch der Himmel, mit kleinen weissen Wölkchen . . . .
„Neuer Tobsuchtsanfall auf Nummer II. Eine Subcutane . . .“, berichtete der Assistent, der herangetreten war. „Sonst nichts Neues.“
„Ja — gut . .“, sagte der Dr. Hormuth in Gedanken . ., „das heisst — eigentlich natürlich nicht gut . . . Wie? . . . Das war zu erwarten? . . Nun ja . . . . Wissen Sie: Vorhin sagte mir das Fräulein von gestern: ,Das ist doch alles so furchtbar einfach.’ Aber ich finde das nicht . . .“
„Hat sich die Dame von dem Schrecken erholt?“ Der Assistent lachte.
„Die? Die springt herum und ist kreuzfidel und haut einen Ball über das Netz — immer hin und immer her — Sinn hat das nicht. Aber vielleicht ist das der Sinn des Lebens . . .“
„Herr Doktor: dunkel ist der Rede Sinn . . .“
„Ja. Es ist vieles dunkel. Gerade bei Sonnenschein.“ Der Jrrenarzt stand auf. „Sie glauben nicht, wie glücklich sich die Leute dort alle fühlen, in ihrer unbefangenen Leiblichkeit. Wie heisst’s im Faust: ,Von Körpern strömt’s — die Körper macht es schön’ . . .“
„Ja —, und mit den Körpern wird’s zugrunde gehn’ — geht es weiter!“
„Was geht nicht zugrunde? Wir hier, mit unseren kranken Seelen . . .“ Der kleine Jrrenarzt wandte sich nach dem Hause. „Man denkt doch über mancherlei nach, wenn man mal herauskommt! Nun bin ich ja wieder hier. Im Hafen. Sagen Sie mal: Wann hab’ ich eigentlich den Vortrag über: ,Die kranke Zeit’ in Berlin?“
„Ich weiss nicht ganz genau, Herr Doktor! Aber etwa in drei Wochen. So um die Mitte Oktober.“
„So: Ich will mich doch lieber mal gleich hinsetzen und mit der Ausarbeitung anfangen! Ich brauche heute eine wissenschaftliche Ablenkung — auf das Wesentliche! Melden Sie mir, wenn etwas Besonderes passiert . . .“
3. Kapitel
Draussen graute der Oktoberabend im rötlichen Stangengewimmel der Grunewald-Föhren. Zwischen ihnen, vereinzelt, lagen fern von Berlin die Häuser der Reichen. Lill kniete in dem würzig-warmen, elektrisch hellen Pferdestal, der rechts an Papas Villa angebaut war, wie links die Garage, und salbte noch einmal eigenhändig die festen, kurzen, runden Hufe ihres Turnier-Springpferdes „Zappelphilipp“. Das goldene Kerlchen sollte wie aus dem Ei gepellt vor den Richtern und dem Publikum erscheinen, gerade heute, an dem grossen Abend der Entscheidung. Sie sprang auf und hätschelte beschwörend ihren Liebling, einen kleinen nervigen Hengst mit feurigen Augen und drahtigen Beinen. Sie faltete die Hände vor der Brust:
„Zappelchen — das Geld ist uns schnuppe! Aber wenn wir ’ne Schleife kriegen . . .“, sagte sie und bot die letzte Trennungs-Mohrrübe auf dem Handteller. Der Rechtsanwalt Dr. Wendroth neben