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hinten in einer Loge einen Stuhl. Vor ihm sass ein braungebrannter Herr mit Frau und Töchtern. Agrarier. Er staunte über diese Familie. Sie brachte es fertig, auf den ersten Blick ein Pferd vom anderen zu unterscheiden! Sobald ein neuer Gaul ganz im Hintergrunde erschien, stellten sie, ohne einen Blick in das Programm, einstimmig und halblaut fest, dass es sich um „Geisterkönig“ vom „Minnesänger“ aus der „Maus“ oder um „Rumpelstilzchen“ vom „Taugenichts“ aus der „Sachsenliesel“ handelte. Ludwig Hormuth erfuhr von ihnen, dass man sich mitten in der zweiten Abteilung befand. Er dankte und bemühte sich, ebenso interessiert zuzuschauen wie die andern. Aber er konnte deren Neugier nicht begreifen. Es war ja immer dasselbe: Jrgendein Herr — Reiterinnen schien es vorläufig nicht zu geben — jagte in einer Eile, als würde er verfolgt, über die Hürden. Manchmal warf er sie um. Manchmal nicht. Dann kam der nächste. Zugleich erschienen oben an der Querwand riesige, zu Namen aneinandergereihte Pappbuchstaben und geheimnisvolle Ziffern von Minuten und Sekunden. Und viele Leute schrieben sich das stirnrunzelnd in ihre Programmhefte und rechneten halblaut.

      Lill Bödiger sollte erst in der dritten Abteilung kommen. Gott mochte wissen, wann die dran war. Der kleine, blasse Mann in der Loge ertappte sich auf der Frage: Was tust Du denn eigentlich hier? Mit Deiner verwachsenen Schulter? Dir sieht doch jeder an, dass Du kein Sportsmann bist und sein kannst — obwohl das Publikum ringsum viel zu wohlerzogen und höflich ist, um darüber auch nur mit der Wimper zu zucken . . .

      Plötzlich stand er auf und schritt hinter den Zuschauerreihen dem Ausgang zu. Er kam an einer Art von Postschaltern vorbei, hinter denen Beamte sassen. Der Totalisator. Man konnte da auf die Springpferde wetten. Er wusste nicht, wie man das anfing. Er ging weiter. Seitlings lehnten einige Männer, mit dicken, umgehängten Ledertaschen, Notizbücher und Tintenstifte in den Händen. Auf einer Schiefertafel dahinter waren mit Kreide Pferdenamen und rätselhafte Zahlen angemalt. Da stand auch „Zappelphilipp“.

      Ein junger Herr trat heran und sagte nachlässig zu einem dicken Mann: „Legen Sie mir mal zehn Emmchen auf ,Pharao’!“

      Hier war es also ebenfalls möglich, zu setzen. Ludwig Hormuth empfand plötzlich eine unbezwingliche, herzklopfende Lust zu diesem Abenteuer. Er näherte sich dem Buchmacher, der ihn geschäftsmässig frug:

      „Was soll es sein, Herr?“

      „Ich möchte hundert Mark auf Fräulein Bödiger wetten!“

      Die Leute umher lachten. Er wusste nicht, warum. Der Buchmacher frug seinen Gehilfen am Tisch.

      „Fräulein Bödiger . . . August: Geht der ,Zappelphilipp’? Ja? Bitte — hier, mein Herr! . . . Danke!“

      „Na — Sie kriegen ja schön lange Odds!“ sagte der junge Sportfreund von vorhin. Der kleine Arzt wusste nicht, was das hiess und ob lange Odds eine Schmeichelei für Lill und ihr Pferd bedeuteten. Es schien ihm eigentlich nicht der Fall. Er kehrte auf seinen Platz zurück. Er fühlte sich auf einmal tief befriedigt. Innerlich gehoben. Aus der Vereinsamung erlöst. Mit Lill und dem Treiben umher und der ganzen Menschheit im Saal durch ein gemeinsames Band verflochten. Alles wegen eines Stückchens Papier in der Tasche. Er kannte sich selber nicht mehr. Aber er lächelte still. Er setzte sich erwartungsvoll zurecht.

      Denn nun begann die dritte Abteilung. Völlig anders als bisher. Es ritten hintereinander ein Dutzend Reiter und mehr in den Raum. Sie dachten nicht daran, zu springen. Sie lenkten ihre Pferde im Schritt hin und her, durcheinander, wie Kraut und Rüben. Der blasse Kleine Arzt sah Herren in Zivil, ein paar Husaren und Kürassiere in den bunten, schon sagenumwobenen Attilas und Überröcken der alten, grossen deutschen Armee, einen ausländischen Offizier in fremdartiger Uniform — aber eben nur Männer. Er war verstört. Sein Herz stand still. Er hielt es nicht aus. Er beugte sich vor und frug den Ostelbier vor ihm.

      „Verzeihen Sie: Sollte jetzt nicht auch eine Dame mitreiten?“

      „Ja. Die Bödiger!“ rief eine von den Töchtern vorn.

      „Aber sie ist ja nicht da!“

      „Die Lill?“ Das junge Mädchen schien sie zu kennen. „Dort drüben hält sie ja! Nun zieht sie weiter!“

      Ein schmalschulteriger hübscher junger Herr, die schwarze Melone über dem kühl sachlichen, gesammelten Gesicht, mit hohem Stehkragen und schwarzer Binde, ritt langsam heran. Er trug einen, in langen Schössen beiderseits herabfallenden schwarzen Taillenrock. Die dünnen, geschmeidig dem Pferdeleib angelegten Beine staken in langen, schwarzen Hosen. Die beiden, Herr und Tier, hielten vor jeder Hürde inne und betrachteten sie genau.

      „Sehr gut, dass sie ihrem Gaul noch einmal die Hindernisse zeigt!“ brummte der Agrarier. „Der Katze war die Angelegenheit gestern schon zu hoch!“

      „Das Tier ist nervös, weil die Bödiger nervös ist! Sie zeigt’s nur nicht!“ sagte das eine junge Mädchen.

      Lill war jetzt ganz nahe. Der Irrenarzt sah auf wenige Schritte das jugendliche, ein wenig herbe Profil mit dem halb offenen Mund, die dunkelblonden Haarwellen hinter dem Ohr, die allein, in dem Männeranzug, ihr Geschlecht verrieten, den gertenschlank im Sattel aufgerichteten Oberkörper. Lill blickte nicht herüber. Sie hatte kein Auge für das Publikum. Sie war nur damit beschäftigt, ihrem unruhig die Ohren spitzenden „Zappelphilipp“ Mumm für die grünen Tannengeflechte und losen Stangen der Hindernisse beizubringen. Dann legte sie leise die dünne, linke Wade an das Pferdehaar, verkürzte die linke Faust und sprengte in verhaltenem Galopp dem Ausgang zu. Die Glocke läutete. Die Bahn leerte sich.

      Dr. Hormuth begriff: Jetzt ging es erst los. Sein Herz hämmerte. Mit Ungeduld empfing er den ersten Reiter: einen langen Grafen in feuerrotem Parforcefrack und schwarzer Samtkappe, der stürmisch auf einem riesigen Gaul über die Hürden fegte. Es krachte hinterher ein bisschen . . .

      Dann ein schnurrbärtiger Stallmeister — ein schöner Mann. Er streifte zweimal mit den Hufen seines Schimmels die Hindernisse und ritt ab.

      Der Schwede in der Arena. Eine schnelle, ganz lautlose Angelegenheit. Kein Poltern von Holz in der Totenstille. Keine Strafpunkte. Höfliches Händeklatschen.

      „Die Bödiger ist aufgeregt!“ sagte vorn in der Loge sachkundig die eine der beiden jungen Ostelbierinnen. Der kleine, blasse Herr hinten hätte sie für die Bemerkung prügeln mögen. Aber auch der agrarische Papa zuckte umständlich seinen Bleistift zum Notieren.

      „Kinder — ich fürchte, jetzt gibt’s Holzauktion! Na ja — da haben wir’s schon . . .“

      Lill war losgeritten. Im Hui über die ersten Hindernisse. Hinter ihr prasselte allerhand zu Boden.

      „Umwerfen mit den Hinterbeinen: drei Fehler unter Brüdern!“ murmelte die etwas knarrende Stimme vom Lande.

      Lill schwenkte ein. Sie kam schräg über die Bahn. Auf eine neue Hürde zu.

      „Gut!“

      „Bravo!“

      „Immer feste! Ganz nett macht sie’s! Ganz nett!“ sprach beifällig der alte Kavallerist und Rennreiter. „Nun kommt sie an uns vorbei! Herrgott: Hintern Hoch! So!“

      Lill flog vor Dr. Hormuths starren, dunklen Augen über die Hürde. Sie duckte sich, mit hochgezogenen Knieklammern frei im Sattel vornüber wie eine Katze, die Fäuste hart an den Pferdeohren. Ihre Miene war wild und entschlossen. Nur noch zwei Sprünge. Das erste schwache Beifallklatschen. Eine jähe Bewegung . . .

      „Herrgott — das Luder von Gaul bricht aus . . . Hände ’ran . . .“ Der Ostelbier hob sich halb vom Stuhl.

      „Sie schmeisst ihn noch ’rüber, Papa!“

      „Nein! Er refüsiert! . . . Um Gottes willen . . . Sie fällt . . .“

      „Plumps — da haben wir’s . . . Solo über den Hals weg übers Hindernis!“

      Ein Gepolter. Stimmengewirr. Vereinzelte Rufe.

      ,,Da sitzt das arme Kind auf dem Sand! Macht fünf Fehler.“

      ,,Ach wie schade . . .“

      „Aber sie

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