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meine Mutter [1855] in Paris war, erinnerte sie ihren Bruder an die Jacke und erzählte ihm ihre Begegnung mit dem Matrosen.

      „Über dieses Thema werde ich dir ein Gedicht machen, und du sollst herzlich darüber lachen.“

      Leider wurde dieses Gedicht nicht mehr geschrieben, der Tod ließ ihm keine Zeit dazu!

      3. Betty Heine88

      1805?

      [Mitteilung ihrer Enkelin Maria:] Eines Tages – es war ein heißer Sommertag – studierte Heine in seinem Zimmer bei offenen Fenstern. Die Sonne schien so warm, und die hellen Strahlen liebkosten seine braunen Locken. Die Hitze wurde unerträglich. Harry legte die Feder beiseite, klappte seine Bücher zu und schritt nachdenkend zum Fenster. Sehnsuchtsvoll blickte er hinaus ins Freie. Plötzlich kam ihm der Gedanke, auf das Gesims des Fensters zu klettern und sich außerhalb desselben der Länge nach hinzustrecken. Gesagt, getan. Die Hitze überwältigte ihn, und er schlief ein.

      Seine Gedanken, seine Träume führten ihn in das Reich der Phantasie, und unruhig wandte er sich zur Seite. Das Gesims war nur zwei Fuß breit, und mit Schrecken beobachteten die Vorübergehenden den schlafenden Knaben. Man benachrichtigte die Mutter, die händeringend auf die Straße eilte. Federbetten wurden ausgebreitet, Kissen und Decken herbeigeholt, denn man befürchtete das Kind könne jeden Augenblick auf die Straße fallen und sich den Kopf zerschmettern! Ihn wecken? Unmöglich; die leiseste Berührung konnte ein Unglück herbeiführen; man fürchtete ins Zimmer zu treten: das Geräusch der knarrenden Tür hätte ihn wecken können. Beobachtend standen die Leute auf der Straße und starrten zum zweiten Stock hinauf. – Jetzt bewegt er einen Arm – – hieß es, und die katholische Bevölkerung schlug ein Kreuz. Jetzt wandte er den Kopf – – die arme Mutter war nicht mehr Herr ihrer Sinne, und trotz aller Mahnungen wollte sie hinauf zu ihrem Sohn, um ihn zu retten oder mit ihm hinunterzustürzen.

      Ängstlich, mit klopfendem Herzen stieg sie die Treppe hinauf – sie legte die Hand ans Schloß – es glückte, sie öffnete leise die Tür. Mit verhaltenem Atem stand sie auf der Schwelle. Leise zog sie die Schuhe aus und schlich ans Fenster. Unten staunte die Menge regungslos.

      Sie streckte den Arm aus – sie wagte nicht, ihn zu umfassen – sie erhob den Blick gen Himmel, als ob sie dort oben um Hilfe flehte. – Mit festem Arm zog sie den Knaben an sich, durchs Fenster hinein, an ihre klopfende Brust.

      Unten jauchzte das Volk und schrie: „Es lebe Madame Heine! Hoch!“

      „Mutter, warum wecktest du mich? Engel umgaben mich, ich träumte, in einem Zauberhaine zu sein, Vögel sangen liebliche Melodien, und ich dichtete die Worte dazu.“

      „Bist du mir böse?“ fragte er die weinende Mutter, deren Angst sich endlich in Tränen auflöste. Sie konnte weder schelten noch strafen, sondern küßte ihn innig. Zugleich wurde das Bewußtsein in ihr wach, daß das Kind zum Dichter geboren sei.

      Meine Großmutter hat uns diese Begebenheit oft erzählt.

      4. Charlotte Embden-Heine74

      1805?

      [Mitteilung ihrer Tochter Maria:] Schon als Kind war meine Mutter des Dichters Liebling, und des Morgens in aller Frühe, wenn die andern Mitglieder der Familie noch im tiefen Schlummer lagen, spielten Heinrich und Charlotte miteinander. Sie suchten Reime. Eines Tages quälte sich das kleine Mädchen vergebens, sie konnte die gewünschten Worte nicht finden. Sie wandte sich an den Bruder: „Dir ist es leicht, Reime zu finden, mir wird es sehr schwer, wir wollen lieber ein anderes Spiel spielen. Ich werde eine Fee vorstellen, wir bauen einen Turm, ich bewohne ihn; du bleibst draußen stehen, singst und findest Reime.“

      Beinahe hätte dieses Spiel meiner Mutter das Leben gekostet.

      Sie bauten einen Turm! Im Wagenschauer standen viele leere Kisten, die beiden Kinder arbeiteten unermüdlich, bis sie eine Kiste auf die andere gehoben hatten und ihr Gebäude zehn Fuß Höhe erreicht hatte. Dessenungeachtet fanden sie, daß der Turm noch immer nicht hoch genug war. Die Kleine kletterte hinauf bis an die letzte Kiste und sprang hinein. Die Fee verschwand, da die Kiste höher war als das Kind. Sobald Heinrich seine Schwester nicht mehr erblickte, wurde ihm bange, er lief nach Hause und rief um Hilfe. Charlotte versuchte sich zu befreien, die Kisten fingen an zu schwanken, und furchterfüllt kauerte sie, leise weinend, in einer Ecke. Um recht schön zu erscheinen, hatte sie ihr bestes Kleid angezogen und beim Hineinspringen bedeutend zerrissen. Sie fürchtete die Folgen, da meine Großmutter eine strenge Frau war und jeden Ungehorsam unerbittlich bestrafte.

      Das Ende dieser Geschichte erzählte uns meine Mutter mit folgenden Worten: „Als man mir zu Hilfe eilte, blieb ich still und stumm in meiner Ecke sitzen, doch als ich das Klagen und Weinen meines Bruders hörte, rief ich ihm zu: ‚Ich lebe, aber mein Kleid ist zerrissen.‘ Nicht ohne Schwierigkeit wurde ich aus meinem sogenannten Turm hervorgeholt, und Heinrich umarmte mich stürmisch, überglücklich, sein Schwesterchen unbeschädigt wiederzusehen.“

      1855, zwei Monate vor seinem Tode, als ich ihn zum letzten Male sah und wir von den glücklichen Tagen unserer Kindheit sprachen, erzählte er mir, daß er nie den freudigen Eindruck vergessen habe, den er damals als achtjähriger Knabe empfand.

      [An diese Kinderspiele erinnert auch Heines Gedicht: „Mein Kind, wir waren Kinder.“]

      5. Joseph Neunzig194

      1806?

      Die beiden Kinder [Harry und Charlotte] standen an einem Sonnabend auf der Straße, als plötzlich ein Haus zu brennen begann. Die Spritzen rasselten herbei, und die müßigen Gaffer wurden aufgefordert, sich in die Reihe der Löschmannschaften zu stellen, um die Brandeimer weiterzureichen. Als an Harry die gleiche Aufforderung erging, sagte er bestimmt: „Ich darf’s nicht, und ich tu’s nicht, denn wir haben heut Schabbes!“ – Schlau genug wußte der acht- bis neunjährige Knabe jedoch ein anderes Mal das mosaische Gebot zu umgehen. An einem schönen Herbsttage – es war wieder ein Samstag – spielte er mit einigen Schulkameraden vor dem Pragschen Hause, an dessen rebenumranktem Spalier zwei saftige reife Weintrauben fast bis zur Erde herabhingen. Die Kinder bemerkten dieselben und warfen ihnen lüsterne Blicke zu, aber der Vorschrift gedenkend, nach welcher man an jüdischen Feiertagen nichts von Bäumen abpflücken darf, wandten sie bald der verführerischen Aussicht den Rücken und setzten ihr Spiel fort. Harry allein blieb vor den Träubchen stehen, beäugelte sie nachdenklich aus geringer Entfernung, sprang dann plötzlich bis an das Spalier heran, biß die Weinbeeren eine nach der andern ab und verzehrte sie. „Roter Harry“ – diesen Spitznamen hatten ihm seine Kameraden wegen der rötlichen Farbe seines Haares erteilt, die später mehr ins Bräunliche überging – „Roter Harry!“ riefen die Kinder entsetzt, als sie sein Beginnen gewahrten, „was hast du getan!“ – „Nichts Böses“, lachte der junge Schelm; „mit der Hand abreißen darf ich nichts, aber mit dem Munde abzubeißen und zu essen hat uns das Gesetz nicht verwehrt.“

      [Neunzig, später Arzt in Gerresheim bei Düsseldorf, war einer von Heines Schulkameraden und Universitätsfreunden. Was Heine unter seinem Namen Harry bei der Schuljugend zu leiden hatte, erzählen seine „Memoiren“.]

      6. Betty Heine74

      1807?

      [Mitteilung ihrer Enkelin Maria:] Heinrich setzte seine Studien fort und war immer einer der ersten unter seinen Mitschülern; seine Mutter, eine große Verehrerin der schönen Künste, wollte, daß ihr Sohn ihrem Beispiel folge.

      Man engagierte einen Zeichenlehrer, der arme Mann wohnte entfernt von der Bolkerstraße und war so müde, wenn er ankam, daß er sogleich einnickte. Heine hatte bedeutende Anlagen zum Zeichnen, wurde der Sache aber bald überdrüssig und suchte den Lehrer zu entfernen. Eines Tages zeichnete er einen Eselskopf auf einen Bogen Papier, befestigte das Blatt auf dem Rücken des Lehrers, der nichts bemerkte und ruhig weiterschnarchte. Beim Fortgehen wurde er von allen Gassenbuben verfolgt und verhöhnt, bis eine alte Frau ihn mitleidsvoll von diesem Aushängeschild befreite. Empört kehrte

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