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1823

      Mein Bruder Heinrich war mehrmals gegenwärtig, wenn ich, als Primaner des Gymnasiums, meine prosodischen Arbeiten anfertigte. Ich hatte damals eine große Vorliebe für das klassische Metrum, und durch vieles Übersetzen und tägliche Übung eine außerordentliche Leichtigkeit in Anfertigung von deutschen Distichen erlangt. Obgleich Heinrich die Alten hochschätzte und bereits damals durch seine Gedichte einen großen Namen als Poet erworben hatte, so hatte er sich doch im deutschen Hexameter bisher nie versucht. Wir sprachen viel über diesen Gegenstand. Ich zitierte Goethes herrliche Elegien und forderte meinen Bruder auf, auch einmal in diesem Versmaße einen Gegenstand poetisch zu bearbeiten. Ich wiederholte mehrmals Goethes reizenden Vers, wo er auf den Nacken der Geliebten „mit fühlendem Auge und sehender Hand“ des Hexameters Maß skandiert hat.

      Endlich ging Heinrich an die Arbeit, und als ich an einem der nächsten Vormittage in sein Zimmer trat, kam er mir mit einem Blatt entgegen, freudig ausrufend: „Siehst du, auch ich bin unter die Hexameter gegangen.“ Er rezitierte mir einige Zeilen eines Gedichtes: „Trost für Dido“, wobei ich aber schon beim dritten Hexameter (keine kleine Satisfaktion für einen Primaner) dem bereits berühmten Dichter in die Rede fiel: „Um Gottes willen, lieber Bruder, dieser Hexameter hat ja nur fünf Füße.“ Und nun skandierte ich ihm mit wichtigster Schulweisheit den Vers vor. Als er sich vom Fehler überzeugt hatte, zerriß er leider das Papier mit den Worten: „Schuster bleib bei deinen Leisten!“

      Ein paar Tage nach dieser Begebenheit, wovon übrigens nicht mehr gesprochen worden war, stand eines Morgens früh, als ich eben erwachte, Heinrich vor meinem Bette. „Ach, lieber Max“, begann er mit kläglicher Miene, „was für eine schauerliche Nacht hab’ ich gehabt.“ Ich erschrak. „Denke dir, gleich nach Mitternacht, eben als ich eingeschlafen war, drückte es mich wie ein Alp; der unglückliche Hexameter mit fünf Füßen kam an mein Bett gehinkt und forderte von mir unter den fürchterlichsten Jammertönen und schrecklichsten Drohungen seinen sechsten Fuß. Ja, Shylock konnte nicht hartnäckiger auf seinem Pfunde Fleisch bestehen, als dieser impertinente Hexameter auf seinem fehlenden Fuß. Er berief sich auf sein urklassisches Recht und verließ mich unter schrecklichen Gebärden, nur mit der Bedingung, daß ich nie wieder im Leben mich an einem Hexameter vergreifen wolle.“

      [Am 30. September 1825 schrieb Heine an Moser: „Mein jüngster Bruder studiert fleißig die Alten und wird Mediziner werden.“]

      71. Varnhagen von Ense103

      April 1824

      Der junge Heine kam im Frühjahr 1824 von Göttingen zum Besuch nach Berlin zurück und mußte als noch Studierender unter andern zum Staatsrat Schultz wegen einer Aufenthaltskarte gehen. Dieser tat sehr streng, fragte genau nach seinen Absichten, warnte ihn vor Umtrieben, und warf ihm vor, daß er sich früherhin der preußischen Regierung durch seine Ansichten verdächtig gemacht. „Mein Gott!“ sagte Heine mit höflichster Emphase, „ich habe immer dieselben Ansichten wie die Regierung, ich habe gar keine!“ Schultz fühlte die Lächerlichkeit, der ihn jede weitere Einlassung aussetzte, brach kurz ab und ließ es gut sein.

      [Am 21. Januar 1823 schrieb Heine an Sethe, daß er „auch höheren Ortes schon hinlänglich angeschwärzt“ sei. Seine „Briefe aus Berlin“ und „Über Polen“ werden ihn dem Staatsrat Schultz nicht eben empfohlen haben.]

      72. Eduard Wedekind149

      23. Mai 1824

      [Tagebuch:] Heute mittag habe ich den Dichter Harry Heine gesehen; er wohnt in einem Hause mit M. [Mertens], wo ich vielleicht Gelegenheit haben werde, seine Bekanntschaft zu machen.

      [Eduard Wedekind, Jurist, zuletzt Anwalt in Uslar, versuchte sich auch selbst als Dichter, veröffentlichte mehrere Dramen und war eifriger Mitarbeiter der „Posaune“ in Hannover.]

      73. Eduard Wedekind149

      Ende Mai 1824

      [Mitteilung Strodtmanns nach Wedekinds Tagebuch:] Die erste Begegnung mit Heine fand im Ulrichschen (jetzt Marwedelschen) Garten statt, in welchem damals noch das, später nach den Anlagen am Schwanenteich versetzte Sandsteindenkmal für den Dichter Gottfried August Bürger, eine trauernde Germania im zopfigsten Rokokostile, stand. Heine besuchte fast jeden Abend diesen, von den Studenten kurzweg „der Ulrich“ genannten Wirtsgarten, auf dessen kiesbedeckten Gängen er bald mit diesem, bald mit jenem Freunde, im Eifer des Gesprächs häufig kleine Steinchen mit dem Fuße vor sich hinstoßend, auf und ab wandelte. Der erste Eindruck seiner Erscheinung war kein günstiger. „Sein Äußeres verspricht sehr wenig,“ schrieb Wedekind, als er ihn zum ersten Male erblickt hatte; „es ist eine kleine zwergartige Figur mit blassem, langweiligem Gesichte.“ Aber schon nach der ersten kurzen Unterhaltung mit ihm fügte er hinzu: „Wenn er spricht, ist sein Gesicht recht interessant.“ Auch Wedekind erzählt, in Übereinstimmung mit allen sonstigen Berichten, daß Heines Aussehen, je nach seinem körperlichen Befinden, beständig wechselte, und daß er damals viel an nervösen Kopfschmerzen litt. Einmal bat er ihn, eine Uhr, die auf dem Tische lag, wegzulegen, weil er das Ticken derselben nicht vertrüge; und auf die Frage, ob er immer oder nur zu Zeiten poetisch gestimmt sei, antwortete er: „Wenn ich mich wohl befinde, dann immer.“ – „Aus seiner Kränklichkeit“, heißt es ein andermal, „erklärt sich wohl seine so sehr abwechselnde Stimmung. Manchmal ist er ganz hypochondrisch, und dann springt er mit einem Male in den feinsten Witz um. Wenn er bei guter Laune ist, ist er äußerst witzig, und kommt man dann auf seine Liebe zu sprechen, so fängt er immer an zu parodieren.“ Und in einer nachträglichen Ergänzung zu seinen Tagebuchsnotizen bemerkt Wedekind: „Heine, bekanntlich klein und schmal, sah damals – je nach seinem Befinden – sehr verschiedenartig aus. In guten Momenten hatte er eine ungemein gewinnende Freundlichkeit, und am interessantesten war sein Gesicht, wenn er irgendeine gutmütige Schelmerei vorhatte. Dann blitzten die kleinen mandelförmigen Augen, deren Ränder oftmals gerötet waren, recht treuherzig listig.“ Auf die Frage, weshalb er, trotz seiner außerordentlichen Kurzsichtigkeit, keine Brille trage, erwiderte er: „Bah, das sieht so affektiert aus!“ „Wie mögen Sie das nur sagen,“ frug Wedekind neckisch, „da ich doch gerade eine Brille aufhabe?“ „Ach Gott, das habe ich gar nicht bemerkt!“ entschuldigte sich jener rasch mit dem harmlosesten Lachen.

      74. Eduard Wedekind149

      Mai 1824

      [Tagebuch:] Bei Heine sieht es höchst unordentlich aus; das Bett steht mit in der Stube, obgleich er eine sehr gute Kammer hat, und Bücher, Journale, alles liegt auf den Tischen umher, bunt durcheinander. Ich sagte ihm, daß ich einen Teniers herbringen würde, es abzukonterfeien.

      75. Eduard Wedekind149

      Mai/Juni 1824

      [Strodtmanns Bericht nach Wedekinds Tagebuch:] Zu den gemeinschaftlichen Bekannten Heines und Wedekinds, deren das Tagebuch [Wedekinds] gedenkt, gehörte vor allem der geistvolle Siemens, welcher vor einigen Jahren als Oberamtsrichter zu Hannover starb... und der liebenswürdige Spaßvogel G. Knille, der sich beständig mit Heine neckte. Wenn dieser, nervös abgespannt, sich häufig beim Eintritt ins Zimmer mit der stereotypen Phrase: „Laß mich, lieber Junge, ich bin krank!“ auf den nächsten Stuhl sinken ließ und in mürrisches Schweigen versank, war es immer Knille, der ihn nach einigen Redewendungen mit den gleichfalls stereotypen Worten ermunterte: „Sag’ mal, Heine, wie war das doch neulich? Wie lautete das hübsche Gedicht?“ Dann war unfehlbar die Wirkung, daß Heine, sich langsam erhebend und ihm die Hand auf die Schulter legend, alles Leids vergaß und freundlichst nachfragte: „Was meinst du, lieber Junge?“

      76. G. Knille194

      1824

      [Mitteilung Knilles an Strodtmann:] Heines Statur war kaum mittelgroß und schmächtig. Er hatte eine sanfte, überaus angenehme Stimme, mittelgroße, schalkhafte Augen voll Geist und Leben, die er im Eifer des Gesprächs halb zu schließen pflegte, eine schöne, leicht gebogene und scharf geschnittene Nase, keine

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