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Sie hörte es genau.

      Mit ihren achtundachtzig Jahren war Jettchen Evers schon einiges gewohnt: Der „Fliegende Holländer“ zum Beispiel, den sie und Fienchen, ihre Schwester, in Arrest genommen hatten. Dann dieser Henry, der sie und Fienchen quasi entführt und ihre Enkelin Tomke fast getötet hatte. Und die ein oder andere Geschichte, die sie besser für sich behielt, gab es ja auch noch.

      Tomke schimpfte immer wieder mit ihr und meinte, sie beide seien zu leichtsinnig. Das hielt Jettchen Evers natürlich für Quatsch. Sie und Fienchen waren, wie sie waren, Ostfriesinnen eben.

      Andererseits natürlich wollten sie das nicht wahrhaben, aber im Inneren wusste Jettchen, dass Tomke recht hatte. Schließlich war diese inzwischen Chefin des hiesigen Kommissariats und musste es wissen, doch zugeben konnte Jettchen es natürlich nicht.

      Aber ihre Enkelin hatte sich in den letzten Monaten auch verändert. Was ist mit der Deern nur los?, überlegte sie in schlaflosen Nächten immer wieder.

      Doch jetzt. Jettchen horchte auf. Da war es wieder, dieses unheimliche Geräusch.

      Nun wurde ihr doch mulmig zumute. Die alte Ostfriesin verhielt sich mucksmäuschenstill und lauschte. Schon in der Nacht war es zu hören gewesen, als sie, ob ihrer senilen Bettflucht, wie sie selbst ihre Schlaflosigkeit nannte, wieder einige Stunden wach gelegen hatte. Gegen Morgen kam es dann oft so, dass sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf verfiel. Oft musste sie dann von ihrer Schwester geweckt werden. Heute allerdings war das anders. Heute war es dieses Heulen, das sie aus dem traumlosen Schlaf holte. Es drang so unheimlich durch die dicken Mauern des alten Kapitänshauses und bis zu ihr ans Bett, dass es der Ostfriesin die Hühnerpelle über den Körper trieb. Woher kam es nur? Konnte der Wind die Ursache sein? Heulte der so unbarmherzig ums Haus? Im Wetterbericht am Ende der Tagesschau gestern Abend wurde doch gar kein Sturm angekündigt, erinnerte sie sich.

      Jettchen schob die Bettdecke zur Seite und hob die Beine über die Bettkante. Vorsichtig steckte sie ihre nackten Füße in die Puschen und machte ein paar Schritte zum Fenster. Nun war es wieder still ums Haus. Komisch. Sie lugte durch die Ritzen des Rollos, konnte aber nichts erkennen, so zog sie den Rollladen langsam hoch und lauschte weiter. Aber da war nichts mehr. Jettchen griff nach der wollenen Decke auf dem niedrigen Tisch vor dem Fenster und setzte sich in den Sessel, der ebenfalls am Fenster stand.

      Es herrschte gespenstische Stille in dem kleinen Küstenort. Menschenleer, wie ausgestorben schien die Straße vor ihrem Haus. Kein Auto kam an diesem frühen Morgen über die sonst so stark frequentierte Hauptstraße, die in den Ort führte. Tagsüber war es manchmal unerträglich, Auto an Auto und vor allem auch die Lkw hier viel zu schnell vorbeirasen zu hören. Seit Corona allerdings war das anders.

      Im Garten auf der anderen Straßenseite bemerkte sie eine Bewegung. Mariechen, die Nachbarin von gegenüber, huschte gerade in den Hühnerstall, um ihre Lieblinge zu versorgen. Mehr war zu der frühen Stunde nicht los. Die einzige Bewegung in den umliegenden Gärten und auch auf der Straße bot der Nebel, der um die Häuser waberte.

      Gespenstisch, richtig gespenstisch, wirkte der Morgen. Gespenstisch erschien ihr auch das, was sich, seit dieses heimtückische Virus in der Welt grassierte, hier abspielte. Carolinensiel zeigte sich oft menschenleer. Die Welt hatte sich derart verändert und Jettchen zweifelte, ob das noch ihre Welt war.

      Von dem Geheule war nun auch nichts mehr zu hören. Ich glaube, ich werde senil, ärgerte sie sich und erhob sich mühsam aus dem gepolsterten Sessel, der noch aus der Zeit kurz nach ihrer Hochzeit stammte. Mit einem Krächzen warf sie ihren dicken Morgenmantel über die Schultern. Sicher war es unangenehm feucht und kalt draußen, aber ihren allmorgendlichen Gang um das Haus wollte sie trotzdem nicht ausfallen lassen. Mit den Worten „Hilft ja nix, wat mut, dat mut“ und einem schmerzerfüllten Stöhnen schlüpfte sie in die Ärmel des Mantels und band ihn fest zu. Es dauerte morgens meist eine Weile, bis die alte Ostfriesin sich einigermaßen schmerzfrei bewegen konnte. „Die alten Knochen wollen einfach nicht mehr so!“, erklärte sie jedem, der es hören wollte.

      Fienchen, ihre Schwester, werkelte sicher schon in der Küche umher und richtete den ersten Tee des Tages. Jettchen musste lachen. Fienchen ließ es sich einfach nicht nehmen, morgens den alten Ofen in der Küche einzuheizen, einen großen Wasserkessel aufzusetzen, um für eine erste gute Tasse Tee zu sorgen. Später erst würden sie dann gemeinsam frühstücken.

      Und wieder horchte Jettchen auf. Da war es wieder, dieses unheimliche Geräusch, das sie in den letzten Tagen und auch heute, ganz in der Früh, vernommen hatte.

      „Jetzt will ich aber wissen, was das ist!“ Kopfschüttelnd verließ sie ihr Schlafzimmer und marschierte über den Flur Richtung Küche.

      „Na, bist du ut dien Nüst fallen?“, wurde sie dort von ihrer Schwester begrüßt.

      „Nein, ich will wissen, wer hier diese unheimlichen Geräusche macht. Mir reicht’s. Die ganze Nacht ging das so. Moin übrigens, Schwester.“

      „Quatsch, ik heb nix höört.“

      „Bist ja auch ebenso taub wie ich, aber für ein Hörgerät zu geizig“, rief Jettchen ihrer Schwester zu und mit einer Geste zum alten Ofen noch: „Dein Kessel pfeift!“

      „Wer ist taub?“, keifte Fienchen zurück.

      Dann zog sich Jettchen den Gürtel des Morgenmantels enger und verließ kopfschüttelnd die Küche zur Hintertür hinaus.

      „Du holst dir da draußen noch mal den Dood, Schwester“, schimpfte Fienchen, griff sich das Kirschkernkissen von der Ofenbank und legte es auf das heiße Wasserschiffchen des Herdes. Dann schloss sie murrend die Feuerklappe des Ofens, nahm den pfeifenden Wasserkessel auf und goss das kochende Wasser über den Ostfriesentee. Sofort verteilte sich ein angenehmer, wohliger Duft in der Küche. Anschließend stellte sie den Kessel zurück auf den Herd, zog die Flöte am Ausgießer ab und schimpfte: „Meldet sich auch nicht mehr, das olle Ding.“

      Als Jettchen aus der Hintertür trat, fiel ihr Blick über die Deichkante Richtung Feld. Nebelschwaden hingen tief über dem Feld, bedeckten den Boden, darüber war alles frei, sodass man die Häuser weiter hinten am Feldrand erkennen konnte. Ein sehr mystischer Anblick, der sich hier heute wieder einmal bot. Sie atmete tief durch und rieb sich die Arme. „Schietig kalt, aber schön und so still!“, freute sich die alte Ostfriesin. „Still und friedlich.“ Sie dachte über die letzten, so schrecklichen Monate nach. Die Welt schien gerade aus den Angeln zu geraten. Ein Virus war über den Erdball gezogen und hatte viel Krankheit, Leid und auch Tod gebracht. Aber nun, so wirkte es, würde sich hoffentlich alles zum Guten wenden. Reisebeschränkungen sollten in den nächsten Tagen aufgehoben werden, Gäste durften wieder an die Küste kommen.

      Sie selbst, ihre Familie, alle Freunde und Bekannte in Carolinensiel und umzu waren von dieser schrecklichen Plage, die aus China kommend über die Welt kroch, verschont geblieben. Aber es war eine harte Zeit mit Ausgangssperren, wie damals im Krieg. Jettchen schauderte es.

      In den letzten Wochen schien die Welt stehen geblieben zu sein, in dem kleinen und so sehr beliebten Küstenort, der in der Regel das ganze Jahr über gut, ja oft zu gut besucht war. In diesem Jahr bisher allerdings nicht. Bisher! Was aber, wenn die Gäste wiederkämen? „Hoffentlich ist das nicht zu früh und dieses Virus kommt mit den Feriengästen doch noch zu uns hier oben“, hatte sie vor einigen Tagen noch zu ihrer Schwester gemeint.

      Jettchen schüttelte die trüben Gedanken zur Seite und drehte sich um.

      Ich muss rein, sonst hole ich mir hier noch was weg, beschloss sie und wandte sich zur Tür.

      Doch was war das? Aus den Augenwinkeln heraus vernahm sie eine Bewegung draußen auf dem Feld. Ein Hase? Nein, zu groß. Wohl eines der Feldrehe, die hier lebten, überlegte sie weiter und schaute genauer hin. Nein, das ist auch kein Reh, stellte sie fest, das ist ein Hund, nein, zwei Hunde. Was machen die da draußen? Komisch! Wer hier in der Gegend hatte Hunde, die er frei über das Feld laufen ließ? Und Touristen, die ihren Hund fürs große oder auch kleine Geschäft aus lauter Bequemlichkeit über das Feld jagten, waren auch keine im Ort. Was also war das? Sie konnte den Blick nicht von den Tieren nehmen, die langsam und behäbig durch

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