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aber an Weihnachten ist es immer furchtbar. Dieses Jahr haben wir beschlossen, eine Kreuzfahrt zu machen, um auf andere Gedanken zu kommen. So, und jetzt gehe ich auch schlafen.“ Damit schloss Naomi ihre Geschichte und stand auf.

      „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Señora Harder. Wir sehen uns morgen. Buenos noches!“ Ronaldo erhob sich ebenfalls.

      „Ruth ist eine wunderbare Frau. Ich möchte, dass sie glücklich wird!“, stellte Naomi im Gehen fest.

      Das möchte ich auch!, dachte Ronaldo und bestellte sich einen Kaffee.

      Am Morgen des Heiligen Abends lockte die Sonne die beiden Damen auf das Pool-Deck.

      „Schon komisch, gerade heute nicht in der Kirche zu sein!“, bemerkte Ruth auf ihrem Liegestuhl. „Ob sie uns in der Gemeinde vermissen werden?“

      „Pfarrer Weidenfels ist informiert. Ich habe ihn vor der Abreise angerufen. Er wünscht uns frohe Weihnachten“, antwortete Naomi, versteckt hinter Sonnenbrille und Reiselektüre.

      „Ich glaube, es gibt sogar eine Kapelle und einen Weihnachtsgottesdienst an Bord. Ich schau mich mal um. Weihnachten im Luxus, statt mit Krippe und Stall, ist schon etwas schräg“, meinte Ruth, sprang von ihrer Liege auf und zog los.

      Vorbei an dem Meer aus Blumen und allerlei Deko erreichte sie tief im Inneren des Schiffs die Kapelle. Sie war groß und wunderbar erleuchtet. Neben dem Altar war eine mexikanische Krippenlandschaft aufgebaut. Umrahmt von Christsternen wirkten die einfachen Keramikfiguren besonders ausdrucksvoll. Neben der Krippe stand auf verwelkten Blättern eine kleine Figur: ein Indio-Mädchen aus rotem Ton.

      Ruth sah sich in der Kapelle um. In der letzten Bank saß ein Mann und betete. Als sie den Raum verlassen wollte, erkannte sie ihn.

      „Señor del Boas!“, entfuhr es ihr erstaunt.

      Er sah sie an. „Señora Harder!“

      „Ich wollte Sie nicht stören“, entschuldigte sich Ruth.

      „Sie haben mich nicht gestört. Nach dem Tod meiner Frau habe ich zu Gott gefunden. Oder besser: Er hat mich gefunden. In meiner Welt, in der Geld und Ansehen regierten, glaubte ich, Gott nicht zu brauchen. Erst als Consuela krank wurde und ich mit meinem Geld keine Rettung kaufen konnte, merkte ich, was ich für ein Schwächling und Versager war. Als ich am Ende war, hob Gott mich auf aus dem Dreck von Alkohol und Selbstmitleid. Heute feiern wir die Geburt seines Sohnes, der zu uns in die Scherben unseres Lebens heruntergestiegen ist. An der Krippe treffen wir uns mit all den Menschen, die sich in ihrer Trauer, in ihren Verletzungen, in ihren Sehnsüchten und Träumen eine Hoffnung auf einen Neuanfang wünschen, nicht wahr?“

      Lange war es still in der Kapelle. Ruth unterbrach das Schweigen.

      „Wer ist das Indio-Mädchen an der Krippe?“

      Ronaldo del Boas sah Ruth an und begann mit seiner Erzählung: „Das ist eine alte Legende. Als die Azteken von der Geburt des Kindes im Stall hörten, lief ein kleines Mädchen los, um das Christuskind zu finden. Weil das Mädchen aber arm war und nichts hatte, was es ihm schenken konnte, griff es in den Staub und nahm eine Hand verwelkter Blätter mit. Als das Mädchen zur Krippe kam, das Kind sah und die edlen Geschenke der Weisen, legte es traurig die Blätter vor der Krippe ab. Da geschah ein Wunder: Aus den welken Blättern wuchsen herrliche rote Sterne, Christsterne, wie Sie sie nennen. In unserer Sprache heißt der Christstern ‚Flor de Noche Buena‘ – ‚Blume der Heiligen Nacht‘.“

      Ruth berührten die Worte von Ronaldo. „Was für eine schöne Geschichte. Woher kennen Sie diese Legende?“

      „Ich züchte Christsterne und verkaufe sie in der ganzen Welt“, erklärte Ronaldo del Boas. – „Kommen Sie heute Abend mit Ihrer Schwiegermutter zur Christmesse, Ruth?“, fragte er leise.

      „Bestimmt! Warum fragen Sie?“

      Er lächelte sie an. „Vielleicht geschieht in dieser Heiligen Nacht wieder ein Wunder.“

      von Monika Büchel

      Schneeflocken wirbelten auf und nieder, getrieben vom Wind. Ich blickte aus dem Fenster im dritten Stock des Krankenhauses auf einen tristen Hinterhof. Eine Buche stand verloren in der Mitte und wirkte wie ein mit Puderzucker dick bestäubtes Skelett. Es war Heiligabend.

      Seit drei Wochen lag meine Mutter im Krankenhaus. Vorgestern musste sie zum zweiten Mal operiert werden. Voller Sorge waren mein Vater und ich heute schon nach dem Mittagessen losgefahren, um sie zu besuchen und mit ihr ein wenig Weihnachten zu feiern. Mein Vater hatte seine Bibel eingesteckt. „Plätzchen und Stollen können wir ihr ja nicht mitbringen. Nur unsere Liebe und die Botschaft von Weihnachten“, hatte er erklärt. Weihnachten – mir war wegen des schlechten Gesundheitszustandes meiner Mutter gar nicht danach zumute.

      Bleich hatte sie im Bett gelegen, als wir ins Zimmer traten, und uns kraftlos die Hand gereicht. Wir hatten nach ihrem Ergehen gefragt und Grüße von Nachbarn und Bekannten weitergegeben. Ich hatte eine Vase geholt, in die ich Tannenzweige, behängt mit roten und goldenen Sternen, steckte. Dann hatte Vater seine abgegriffene Bibel aus der Tasche gezogen und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Nicht lange danach war meine Mutter eingeschlafen.

      Ich wandte mich vom Fenster ab und setzte mich neben meinen Vater, der die Hand meiner Mutter hielt. Wir waren allein. Die andere Patientin in dem Zweibettzimmer durfte die Feiertage zu Hause verbringen.

      Eine Schwester kam und überprüfte den Tropf. „Alles in Ordnung“, sagte sie und eilte wieder hinaus.

      Nein, so hatte ich mir dieses Weihnachtsfest nicht vorgestellt. So hatte ich es mir nicht gewünscht. Die Gefühle von Frieden und Freude, die man an Weihnachten gemeinhin erwartet, waren in diesem Jahr überdeckt von der schweren Erkrankung meiner Mutter. Ich war bedrückt, denn es schmerzte mich, sie so abgemagert und schwach zu sehen.

      Langsam verstrichen die Minuten. Nun war auch noch mein Vater eingenickt. Das Alter – meine Eltern gingen auf die 80 zu –, die Anspannung und Angst wegen seiner Frau forderten ihren Tribut.

      Nach einiger Zeit fasste ich ihn am Arm und rüttelte ihn sacht. „Wir müssen“, flüsterte ich und zeigte auf meine Uhr. Er nickte, seufzte, erhob sich langsam und gab Mutter einen Kuss auf die Stirn. Wir verließen leise das Zimmer, um die Schlafende nicht zu wecken.

      Ich fuhr meinen Vater nach Hause und dann weiter zu meiner Wohnung in der nächsten Querstraße. Eine Stunde später holte ich ihn zur Christmette ab. Auch wenn ich am liebsten in den eigenen vier Wänden geblieben wäre, weil ich nicht in Stimmung für einen festlichen Gottesdienst war, machte ich mich meinem Vater zuliebe auf den Weg.

      Die Kirche war beinah voll besetzt, als wir eintrafen. Wir fanden noch zwei Plätze im hinteren Teil. Unaufhörlich drängten Menschen herein. Schon mussten manche stehen. Mein Blick blieb an einem Jungen hängen, der von der Bank aufgestanden war und mit den Fingern die brennenden Kerzen am Christbaum rechts vom Altar zählte. An den beiden Enden jeder Bankreihe war ein bauchiges Glas angebracht, in dem ein Teelicht brannte. Ein Mädchen, das auf dem Schoß seiner Mutter saß, wollte gerade die Hand zu einem Glas strecken. Schnell zog die Mutter sie weg und ermahnte die Kleine leise.

      Die Glocken begannen zu läuten. Ich überflog noch einmal das Blatt, auf dem die Programmfolge des Gottesdienstes und die Lieder, die wir singen würden, abgedruckt waren.

      Dann setzte die Orgel ein und erfüllte brausend mit ihrem Klang das hohe Gebäude. Ich wünschte mir, meine Seele könnte ebenso jubeln. Aber wer kann sich schon auf Knopfdruck freuen?

      Nach dem ersten gemeinsamen Lied begrüßte der Pfarrer die Gemeinde und sprach ein Gebet. Anschließend trug ein Jugendlicher Gedanken zur Geburt von Jesus vor, untermalt von einer Querflöte. Der junge Mann und die Flötistin hatten sich gerade gesetzt, als plötzlich das elektrische Licht ausging. Jetzt brannten nur noch die Wachskerzen am Christbaum und am Altar. Und die Teelichter in den Gläsern. Ich dachte – wie alle anderen Besucher wohl auch –, dass das zum nächsten Programmpunkt gehörte. Doch nach einiger Zeit passierte immer noch nichts. Ich erkannte

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