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Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Marion Laging
Читать онлайн.Название Soziale Arbeit in der Suchthilfe
Год выпуска 0
isbn 9783170390164
Автор произведения Marion Laging
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
2.2 Das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren und multifaktorielle Ansätze
Das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren entstammt der Epidemiologie als einem Zweig der Gesundheitswissenschaft. Die Epidemiologie untersucht den Zusammenhang von Risikofaktoren (Expositionen) und Gesundheitsproblemen (Outcomes) in der Bevölkerung (Razum et al. 2016: 275). Ein Risikofaktor ist demnach ein Merkmal einer Person oder ihrer Umgebung, das das Auftreten einer Erkrankung wahrscheinlicher werden lässt. Risikofaktoren werden in epidemiologischen Studien bestimmt, in denen z. B. festgestellt wird, dass Kinder aus suchtbelasteten Familien häufiger eine Suchtstörung entwickeln als Kinder aus unbelasteten Elternhäusern. Die zentrale Frage der Pathogenese (Krankheitsentstehung) lautet dementsprechend: »Was sind die Risikofaktoren für eine Suchterkrankung?«
Eine ebenfalls große Rolle bei der Erklärung von Suchtentstehung spielt das salutogenetische Konzept bzw. die Salutogenese. Sie basiert auf der Beobachtung, dass es trotz des Vorliegens vieler Risikofaktoren vielen Menschen gelingt, gesund zu bleiben. Die hier relevante Frage ist nicht die, was Menschen krankmacht, sondern, was Menschen trotz Risiken und Belastungen gesund erhält. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Stärkung der Schutzfaktoren für die Gesundheit wirkungsvoller sein kann als eine Zurückdrängung der Risikofaktoren (Hurrelmann et al. 2016: 677).
In multifaktoriellen Modellen der Suchtentstehung wird das Wissen um die bekannten Risiko- und Schutzfaktoren zusammengetragen und geordnet. Der erste Vorschlag eines solchen multifaktoriellen Modells wurde im Jahr 1973 von Kielholz und Ladewig vorgelegt (Kielholz und Ladewig 1973: 23–36). Die grundlegende Idee lag darin, das damals bekannte Wissen über Risiko- und Schutzfaktoren in eine Systematik der drei Kategorien »Droge«, »Person« und »Umwelt« einzuordnen (Kielholz und Ladewig 1973: 24) (
Das Modell fand außerordentlich große Resonanz. In der Praxis wurde es immer wieder herangezogen, um mit den Klienten und Klientinnen der Suchthilfe zu den Ursachen der Suchtentstehung ins Gespräch zu kommen; aber auch in weiteren Forschungsarbeiten hat man sich immer wieder darauf bezogen. Heute gilt es als allgemeiner Konsens, dass es sich bei einer Abhängigkeitsentwicklung um ein multifaktorielles Geschehen handelt, auch wenn einzelne theoretische Richtungen einzelne Faktoren besonders hervorheben und andere dementsprechend in den Hintergrund stellen (s. u.).
Seit der Einführung des multifaktoriellen Modells von Kielholz und Ladewig im Jahr 1973 wurde eine fast unüberschaubare Vielzahl von Forschungsarbeiten vorgelegt, um weitere Risiko- und Schutzfaktoren zu identifizieren bzw. bereits vorhandene Befunde zu untermauern oder zu widerlegen. Aufgrund dieser Fülle von Einzelstudien wurden diese nun wieder in Übersichtsarbeiten zusammengefasst und systematisiert. Dabei dominieren vor allem Arbeiten aus den USA. Die National Academy of Sciences hat im Jahr 2009 aus den verfügbaren Übersichtsarbeiten diejenigen Faktoren zusammengestellt und herausgehoben, deren Einfluss
Abb. 1: Trias der Suchtentwicklung (eigene Darstellung)
auf die Entwicklung eines Substanzmissbrauchs wiederholt und belastbar nachgewiesen werden konnte. Bühler und Bühringer (2016: 59) haben auf der Basis dieser Zusammenschau eine Grafik erstellt, die einen Überblick über das zurzeit vorhandene Wissen zu Risiko- und Schutzfaktoren vermittelt und zugleich – im Gegensatz zu der Systematik von Kielholz und Ladewig – die Einflussfaktoren nach Lebenswelten ordnet (
Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass einzelne Faktoren unabhängigen Einfluss ausüben. Vielmehr stehen viele der Faktoren miteinander in Beziehung, so hängt z. B. die Stärke des Einflusses der Freundesgruppe auch mit der familiären Situation zusammen. Die Ursachenlage ist immer komplex (Bühler und Bühringer 2016: 58ff). Für die Begründung von Präventionsmaßnahmen hat
Abb. 2: Risiko- und Schutzfaktoren des Substanzkonsums (modifiziert nach Bühler und Bühringer 2016: 59)
sich das Konzept der Risiko- und Schutzfaktoren als außerordentlich bedeutsam erwiesen: Präventionsmaßnahmen haben das Ziel, den Einfluss der bekannten Risikofaktoren zu vermindern und die Wirkung der Schutzfaktoren zu stärken.
2.3 Die entwicklungspsychologische Perspektive
Da der Konsum psychoaktiver Substanzen fast immer in der Jugendphase aufgenommen, erprobt und teilweise habitualisiert wird, wurden der jugendliche Substanzkonsum und damit eventuell verbundene riskante und abhängige Entwicklungen wesentlich intensiver in den Fokus von Forschung genommen als der Substanzkonsum in anderen Phasen des Lebenslaufs.
Mit dem Fokus auf Jugendliche haben das Konzept der Entwicklungsaufgaben bzw. die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie besondere Bedeutsamkeit erlangt. Die Entwicklung im Jugendalter wird in der entwicklungspsychologischen Perspektive als ein aktiver Prozess verstanden, in dem sich Individuen Entwicklungsziele setzen und diese aktiv verfolgen. Die in der Jugendphase zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben ergeben sich hierbei aus einem Wechselspiel von biologischen Entwicklungsprozessen (z. B. hormonelle Veränderungen), sozialen Anforderungen (z. B. soziale Erwartungen, wann berufliche Weichenstellungen erfolgen sollten) und individuellen Zielen (z. B. bestimmte Hobbys zu entwickeln) (Pinquart und Silbereisen 2002).
Die Entwicklungsphase Jugend stellt an das Individuum besondere Herausforderungen: Kriterien für den Erwachsenenstatus werden zunehmend unklarer, Entwicklungsaufgaben können gesellschaftlich erschwert oder gar verbaut sein (z. B. Vorbereitung auf einen Beruf bei hoher Jugendarbeitslosigkeit) oder sich auch im Widerspruch zueinander befinden (z. B. Kontakte zu Peers vs. Berufsvorbereitung).
Substanzmittelkonsum wird in dieser Perspektive in das Spektrum der »gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen« eingeordnet. Die Grundannahme ist hierbei, dass die meisten gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen funktional im Sinne der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben sind und dass sich gesundheitsbezogene Risikoverhaltensweisen aus Schwierigkeiten bei der Bewältigung dieser Aufgaben erklären lassen. Der Substanzkonsum kann dabei unterschiedliche Funktionen in den genannten Entwicklungsaufgaben übernehmen.
Die typischen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters sind in einer Übersicht in der Tabelle 1 dargestellt, ebenso wie die darauf bezogenen Gesundheitsverhaltensweisen. Die in der dritten Spalte aufgeführten »Funktionen des Substanzkonsums im Kontext der Entwicklungsaufgaben« sind abgeleitet aus der Zusammenfassung von einer Vielzahl von empirischen Studien zu den Motiven und Funktionen des Substanzkonsums bei Jugendlichen, die Pinquart und Silbereisen (2002) in einer Übersichtsarbeit zusammengestellt haben. Sie zeigen zusammenfassend, dass die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben ein wichtiges Motiv für den Substanzkonsum sein kann (Pinquart und Silbereisen 2002). Zugleich kann aber auch positives Gesundheitsverhalten durch anstehende Entwicklungsaufgaben angetrieben sein, jedoch steht diese Dynamik hier nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses (
Jugendliche setzen also – betrachtet aus einer rein gesundheitsbezogenen Perspektive – kritische und riskante Verhaltensweisen ein, um den Anforderungen dieses Entwicklungsabschnitts aktiv