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zwanghafte Verhaltensweisen, wie sie z. B. mit den Begriffen Sexsucht und Kaufsucht ebenfalls als Abhängigkeitserkrankung diskutiert werden, gehören aus der Perspektive von ICD-10 und DSM-5 nicht in die Gruppe der Abhängigkeitserkrankungen. Andere Autoren verweisen darauf, dass nicht der Substanzkonsum im Zentrum einer Abhängigkeitsentwicklung steht, sondern dass vor allem die dahinterstehende Psycho-Dynamik relevant sei (image Kap. 2) und dass diese bei den substanzungebundenen wie bei den substanzgebundenen Süchten durchaus vergleichbar sei. Sie plädieren dementsprechend dafür, auch die substanzungebundenen Süchte als Süchte zu betrachten.

      In diesem Buch wird in den nachfolgenden Darstellungen der Fokus auf die Substanzen und Suchtformen gelegt, die aus der Perspektive der Praxis der Suchtkrankenhilfe relevant sind.

      1.4 Sucht als ein Phänomen der Moderne

      Dem übermäßigen Konsum von psychoaktiven Substanzen einen »Krankheitswert« zuzuordnen, ist ein Phänomen der Moderne. Auch wenn es in vormodernen Zeiten übermäßigen und schädlichen Substanzkonsum gegeben hat (z. B. die legendären mittelalterlichen Trinkgelage), so ist eine Verknüpfung von einem bestimmten Konsumverhalten mit einer Krankheitszuschreibung eine neuzeitliche Idee, weswegen auch von der »Erfindung der Sucht « gesprochen wird (Groenemeyer und Laging 2012). Die »Erfindung« der Sucht fand in einem gesellschaftlichen Zusammenhang statt, in dem die gesellschaftlichen Anforderungen an den Menschen in Bezug auf Rationalität und Selbstkontrolle sehr viel stärker wurden. Damit wurde Trunkenheit erstmals als ein Mangel an Selbstdisziplin und als Verlust von Selbstkontrolle erfahrbar. Benjamin Rush (1745–1813) war der erste, der übermäßigen Alkoholkonsumformen einen Krankheitswert zugewiesen hat. Seine Krankheitskonzeption nahm bereits zentrale Merkmale vorweg, die 175 Jahre später mit den Arbeiten von Elvin Morton Jellinek (1890–1963) allgemeine Anerkennung erlangten (image Kap. 3). Rush ging davon aus, dass der Liebe zum Alkohol zunächst eine willentliche Entscheidung vorausgeht, die über ein gewohnheitsmäßiges Trinken dann allerdings zu einer Notwendigkeit wird. Diesen Zustand bezeichnet Rush dann als eine »Krankheit des Willens«. Aus diesem bereits als Sucht bezeichneten Verlangen nach Alkohol wird von Rush der ökonomische Ruin und der soziale Abstieg der betroffenen Individuen abgeleitet; eine soziale Komponente findet sich dementsprechend von Beginn der Auseinandersetzung an um das Phänomen Sucht (ebenda).

      Aber erst im Juni 1968 stellte das Bundessozialgericht in Deutschland fest, dass Sucht als Erkrankung anzuerkennen sei und damit die Krankenkassen und die Rentenversicherungsträger für die Kosten von Behandlung und Rehabilitation einzutreten haben. Doch ungeachtet dessen gibt es weiterhin Thematisierungen auf unterschiedlichen Ebenen (Fachöffentlichkeit, medial, unter Betroffenen, z. B. Anonymen Alkoholikern) zu der Frage, ob und inwieweit Sucht tatsächlich eine Erkrankung ist, die einen Menschen »treffen« kann, wie beispielsweise Rheuma oder Parkinson, oder ob es sich bei der Sucht nicht doch zum großen Teil um eine Art moralisches Fehlverhalten handele. Beide Modelle – Sucht als eine Erkrankung im medizinischen Sinne und Sucht als ein Fehlverhalten – sind aber nicht die einzigen diskutierten Modelle, Vorstellungen bzw. Denkstile zu dem Phänomen Sucht (vgl. Wolf 2003). Sie sollen aber hier herausgestellt werden, da sie in einem engen Bezug zu der Frage stehen, inwieweit ein suchtkranker Mensch für seine Sucht persönlich zur Verantwortung zu ziehen ist und dementsprechend auch, welche Haltung suchtkranken Menschen im Kontext der jeweiligen Modelle zuteilwerden sollte.

      1.5 Sucht: Krankheit oder Fehlverhalten?

      In einem Aufsatz von Morse (2004) finden sich zusammenfassend die zentralen Argumente der beiden o. g. Perspektiven. Dabei ist wichtig, sich zunächst die Implikationen eines bio-medizinisch geprägten Krankheitsmodells zu vergegenwärtigen.

      Der bio-medizinische Blick auf Sucht als Erkrankung hat weitreichende Implikationen: Die Medizin geht im Allgemeinen bei einer Erkrankung von einer zugrundeliegenden Störung und darauf bezogenen Symptomen aus, so wie beispielsweise eine Grippeinfektion die Symptome Schnupfen, Husten und Fieber hervorbringt. Zudem wird davon ausgegangen, dass der Erkrankte weder für die zugrundeliegende Störung noch für die jeweiligen Symptome und Anzeichen verantwortlich ist und dass grundsätzlich Erkrankungen als unwillkommene und unangenehme Zustände von Menschen erlebt werden. Die Anzeichen und Symptome unterliegen nicht der willentlichen Steuerung, sondern sie sind lediglich mechanische, biophysische Effekte bzw. Ausdrucksformen der darunterliegenden Pathologie.

      Insofern sind die meisten Krankheitsanzeichen und Symptome nicht intentional; Menschen erleiden sie, ohne sie durch willentliche Anstrengung vermeiden zu können. In dieser Logik ist der Suchtkranke nicht verantwortlich für sein Craving (Craving umschreibt das kontinuierliche und nahezu unbezwingbare Verlangen eines Suchtkranken, sein Suchtmittel zu konsumieren, und ist eines der zentralen Momente des Abhängigkeitssyndroms, image Kap. 11) und für die Verhaltensweisen, die er zeigt, um das Craving zu beeinflussen oder zu beenden. Moralisch (und ebenfalls juristisch) kann der Mensch nur für das Verhalten verurteilt werden, bei dem er selbst eine Chance hatte, es zu steuern. In diesem Kontext ist eine medizinisch orientierte Antwort nicht wertend, nicht bestrafend und stattdessen therapeutisch ausgerichtet.

      Ein zentraler Vorteil der bio-medizinischen Perspektive liegt dementsprechend darin, dass sich hieraus ein akzeptierender, freundlicher, wertschätzender, verständnisvoller und auf Hilfe und Unterstützung ausgerichteter Umgang mit betroffenen Menschen ableiten und begründen lässt (Morse 2004).

      Dies ist ein ebenso starkes wie erforderliches Moment in einer Gesellschaft, in der Menschen mit Suchtverhalten immer noch starker Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt sind – der eben skizzierte bio-medizinische Blick in der Bevölkerung also nicht zu dominieren scheint. Room (2005) konnte in einer Übersichtsarbeit zeigen, dass Drogen- und Alkoholabhängigkeit zu den Merkmalen von Menschen zählen, die die stärkste soziale Missbilligung erfahren – und das international. Stigmatisierung und Marginalisierung findet statt in Familien, aber auch in sozialen Institutionen und im öffentlichen Leben. Bei drogen- und alkoholabhängigen Menschen wird oftmals verallgemeinernd davon ausgegangen, dass sie in den wichtigen sozialen Rollen (vor allem in der Familie und im Berufsleben) versagen, dass sie gewaltbereit sind und weitgehend unfähig sind, Verantwortung zu übernehmen (Room 2005). So kann man davon ausgehen, dass sich das oben skizzierte bio-medizinische Modell bislang nicht durchsetzen konnte und verurteilende Haltungen gegenüber abhängigen Menschen nach wie vor hochprävalent sind. Hierin wird einer der Hauptgründe für die häufig vorfindbaren Verleugnungstendenzen von suchtkranken Menschen gegenüber ihrer eigenen Erkrankung gesehen, mit der Folge, dass Unterstützung oftmals nur sehr spät im Krankheitsverlauf in Anspruch genommen wird und mögliche Genesungs- und Bewältigungsprozesse erschwert oder verunmöglicht werden (vgl. Lloyd 2013; Palamar 2013).

      1.6 Sucht, Kontrolle und Verantwortung

      Aber auch wer eine zugewandte, nicht verurteilende und unterstützende Haltung gegenüber Menschen mit Suchtverhalten in unserer Gesellschaft erreichen möchte, muss anerkennen, dass es Situationen gibt, in denen es unübersehbar wird, dass auch im ausgeprägten Suchtverhalten Elemente von individueller Steuerungsfähigkeit enthalten sind: Die Suche und der Gebrauch von Drogen sind intendierte Handlungen; die Willkürmotorik ist beteiligt. Das ist etwas anderes, als bei Masern einen Ausschlag zu bekommen – der Drogenkonsum ist dann eher dem Kratzen vergleichbar. Von daher ist es mehr als nur plausibel anzunehmen, dass der Erkrankte in der Lage ist, zu einem gewissen Grad intentionale Kontrolle über den Drogenkonsum auszuüben bzw. zu erlangen. Darüber hinaus ist es ein hilfreiches und bewährtes Schlüsselelement in der Beratung und Behandlung von suchtkranken Menschen, wenn Suchtberater und -beraterinnen suchtkranke Personen ermutigen können, »Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen«, sie also genau auf ihre (verbliebene) Steuerungsfähigkeit ansprechen und diese

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