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die Tage mit Schwimmen, Wandern und Lesen. Selten waren wir weit von einer Bibliothek entfernt. Ich las Bücher wie Eine kurze Geschichte des Fortschritts und Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser und Klassiker wie Große Erwartungen. Astrid stellte ihre Staffelei draußen auf und malte. Die Nächte waren warm und wir hakten das Moskitonetz an der Rückseite des Busses ein, um Luft, aber keine Mücken reinzulassen. Durch die Dachluke konnte ich von meiner Schlafkoje in die Sterne gucken.

      Obwohl der einzige Abschluss, den Astrid je gemacht hat, vom Ontario College of Art and Design stammt, ist sie hochgebildet; bevor sie am OCAD landete, war sie fünf Jahre lang auf der Universität und wechselte drei Mal ihr Hauptfach. Wie sie es ausdrückt, weiß sie »ein bisschen über vieles«. Sie hat mir beigebracht, wie man die Sternzeichen am Himmel findet. Sie hat mir Geschichten aus der römischen, griechischen und nordischen Mythologie erzählt. Ich erfuhr von Odin und Thor und Venus und Neptun und Zeus und Apollo.

      Kein Abelard. Kein wütender Vermieter. Keine Schule. Keine Marsha.

      Es war wunderbar.

      Darf ich sagen, dass es sogar ein bisschen magisch war?

      Weil es so magisch war, verschoben wir immer wieder die Gedanken an die Zukunft. Astrid schickte ihren Lebenslauf an viele Firmen, um einen neuen Bürojob zu finden, und sie kontaktierte Emily Carr, aber niemand stellte gerade Arbeitskräfte ein. Sie schien sich keine Sorgen zu machen; wir hatten Ersparnisse, genug, um uns eine Weile über Wasser zu halten. Wir schauten uns ein paar Wohnungen an, aber die meisten Vermieter wollten eine aktuelle Lohnabrechnung sehen.

      Ein Vermieter warf Astrid anzügliche Blicke zu und sagte, sie bräuchte keine Lohnabrechnung oder Referenzen. Aber die Kellerwohnung war ebenso unheimlich wie er.

      »Ich ziehe den Bus vor«, sagte sie.

      »Ich auch«, stimmte ich zu.

      Aber als der August sich dem Ende zuneigte und die Tage kürzer wurden, mussten wir Entscheidungen treffen.

      »Felix«, sagte sie eines Abends, als wir draußen unser Trivial Pursuit aufbauten, »vielleicht müssen wir es noch ein bisschen im Bus aushalten, nur noch einen Monat. Bis ich einen Job habe.«

      »Ist okay.« Und wirklich, zu dem Zeitpunkt war es das auch.

      »Weißt du, was toll daran ist?«

      »Was?«

      »Für die siebte Klasse kannst du dich an jeder öffentlichen Schule anmelden, die du willst.« Das waren gute Neuigkeiten. Meine letzten beiden Schulen waren nicht furchtbar gewesen, aber auch nicht super. Ich hatte mich fortwährend unterschwellig einsam gefühlt.

      »Wie wär’s mit Blenheim? Die haben ein Französisch-Intensivprogramm, das in der siebten Klasse beginnt. Ich wollte schon immer Französisch lernen.« Ich fügte nicht hinzu, dass das zum Teil auch mit meinem Dad zusammenhing. »Und es ist in Kitsilano.« Meine liebsten Erinnerungen an die Schule stammten aus unserer Zeit in Kits.

      Astrids Augen leuchteten auf. »Das wäre perfekt für dich. Et nous pouvons parler français ensemble.« Astrid konnte auch Französisch; ein weiteres Fach, das sie an der Universität studiert hatte.

      Doch dann erinnerte ich mich an etwas, das mein alter Freund Dylan mir gesagt hatte. »Blenheim ist die einzige Schule auf der West Side, die ein Französisch-Intensivprogramm anbietet«, sagte ich.

      »Und?«

      »Und es ist größtenteils eine englischsprachige Schule. Sie haben nur zwei Räume für die Französischklassen. Das heißt, Platz für ungefähr sechzig Kinder. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Dylans Schwester ist reingekommen, aber sie hat sich schon Monate vorher beworben.«

      Astrid dachte einen Augenblick nach. »Nicht verzagen. Wir gehen da morgen hin. Und, Felix?« Sie sah mir in die Augen. »Lass mich das Reden übernehmen.«

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       Astrids Ratgeber für Lügen aller Art

      Ich schätze, an dieser Stelle sollte ich erst mal erklären, ja, meine Mutter lügt gelegentlich. Dabei muss man jedoch anmerken, dass es verschiedene Grade von Lügen gibt, und Regeln für jede. Ein bisschen wie bei Scientology und deren Operating Thetan sind ihre Begründungen nicht immer ganz so plausibel. Aber für mich teile ich sie wie folgt ein:

       Die Unsichtbare Lüge

      Das ist die gewöhnliche weiße Lüge, die wir jeden Tag mehrfach verwenden, ohne darüber nachzudenken. Sagen wir zum Beispiel, man hat gerade eine tödliche Krankheit diagnostiziert bekommen, und der Kellner/Busfahrer fragt: »Wie geht es Ihnen?« Und man sagt: »Gut.« Weil es gemeinhin einvernehmlich ist, dass sie die Wahrheit nicht wissen wollen. Sie sind nur höflich. Und einem Fremden will man das sowieso nicht erzählen. Beide Parteien wollen bloß den Tag überstehen.

       Die Gib-dem-Frieden-eine-Chance-Lüge

      Wir alle gebrauchen diese Art von Lüge, um die Gefühle anderer zu schonen. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren fragte Astrids Kellnerfreundin Gina: »Wirkt mein Hintern in dieser Hose dick?«

      Nun. Gina ist eine körperlich umfangreiche Frau mit dem entsprechenden Po. Also ja, ihr Hintern wirkte in dieser Hose dick. Doch Astrid zögerte keine Sekunde. Sie antwortete mit einem einfühlsamen »Nein«. Als ich sie später danach fragte, sagte sie: »Überleg doch mal, Felix: Was würde es bringen, wenn ich Ja sage? Sie macht sich ohnehin schon Sorgen wegen ihres Gewichts. Ich muss auf ihre Selbstwertprobleme nicht noch einen draufsetzen.«

      »Aber du bist ihre Freundin. Sollten Freunde einander nicht die Wahrheit sagen?«

      »Manchmal wollen Menschen keine Ehrlichkeit; sie wollen Behaglichkeit. Außerdem sah ihr Hintern in dieser Hose nicht größer aus als in jeder anderen. Und sie hat einen absolut ansehnlichen Hintern, einen sehr proportionalen Hintern. Streng genommen habe ich also nicht gelogen.«

       Die Beschönigungslüge

      Astrid würde argumentieren, dass Beschönigen nicht Lügen ist, sondern einfach ein bisschen Aroma gibt, wie wenn man einem Gericht mehr Gewürze beimischt. Zum Beispiel ergänzt sie ihren Lebenslauf um Dinge, die nicht ganz, sagen wir mal, akkurat sind, je nachdem, um welchen Job sie sich gerade bemüht. Als sie sich für ihren ersten Kellnerjob bewarb, schrieb sie, sie habe ›umfangreiche Erfahrung in der Dienstleistungsbranche‹.

      »Seit wann?«, fragte ich, als ich das las.

      »Seit du auf der Welt bist. Seitdem habe ich dich von vorne bis hinten bedient.«

       Die Tut-keinem-weh-Lüge

      Das sind schamlose Lügen, die darauf abzielen, dem Lügner in irgendeiner Form zu helfen. Aber – und das ist ausschlaggebend – sie tun keinem weh.

      Und zum Abschluss ist da noch:

       Die Jemand-könnte-ein-Auge-verlieren-Lüge

      Das ist die schlimmste Art von Lügen, die das Potenzial hat, dem Lügner, dem Belogenen oder beiden wehzutun.

      Astrid wendet sie nicht oft an, und wenn doch, dann nicht mit Absicht, denke ich. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass sie vorhatte zu lügen, als sie zu ihrer Freundin Ingrid sagte, sie würde ihr die fünfhundert Dollar zurückzahlen, die diese ihr geliehen hatte. Oder als sie

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