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Abendkurs Malerei an der Emily-Carr-Universität in Vancouver und ging in einem Versicherungsbüro ans Telefon. »Wenn ich genug gespart habe«, sagte sie immer zu mir, »suchen wir uns unsere eigene Wohnung.« Sie lebte nicht gern mit Mormor zusammen.

      Ich schon. Mormor ging morgens mit mir in den Park, und nachmittags spielte ich Piratenschiff und Burg und Weltraum, während sie ihre Sendungen guckte. Drew, Maury, Ellen, Phil, Richterin Judy, die Frauen bei The View – sie waren wie Freunde. Und es war Mormor, die mir zum ersten Mal Wer, Was, Wo, Wann mit Horatio Blass zeigte. Das war ihre Lieblingssendung, und es wurde auch meine.

      Mormor war eine sogenannte Lutheranerin, und sie las mir Geschichten aus der Bibel vor (aber das musste unser kleines Geheimnis bleiben, weil Astrid fand, dass institutionalisierte Religion der Grund für das Übel in der Welt war, und mit der Kirche schon vor langer Zeit gebrochen hatte). Wir machten pepparkakor, schwedisch für ›Lebkuchen‹, und Mormor erlaubte mir, Teigbällchen zu naschen. Zum Mittagsschlaf durfte ich mich auf ihrem kissenweichen Schoß einrollen und dösen, während sie fernsah.

      Als ich gerade sechs geworden war, wachte ich einmal aus dem Mittagsschlaf auf und stellte fest, dass Mormor auch schlief. Das war nicht ungewöhnlich; sie legte sich nachmittags öfter hin. Also stand ich auf und spielte leise auf dem Fußboden mit meiner Holzeisenbahn, die meiner Mutter und ihrem Bruder gehört hatte, als sie noch klein gewesen waren. Als Mormor nach ungefähr einer Stunde immer noch nicht aufgewacht war, stupste ich sie vorsichtig an. Ihr Kopf sackte auf ihre Brust. Ihre Haut war grau und kühl. Ich bemerkte einen dunklen Fleck unter ihr.

      Er war nass.

      Begeistert fing ich an zu kichern. »Mormor, du hast in die Hose gemacht!« Bis dahin war ich in unserem Haushalt der Einzige gewesen, der in die Hose machte.

      Sie antwortete nicht.

      »Mormor?« Mir war klar, dass etwas nicht stimmte. Aber ich war klein. Mein S.H.I.T. war noch nicht voll entwickelt.

      Ich rief meine Mom an. Sie wählte die 911 und kam sofort nach Hause. Aber niemand konnte irgendetwas tun.

      Ich vermisste Mormor sehr und meine Mom vermisste sie auch. Danach schlief ich monatelang in Astrids Zimmer, und Mel war jeden Abend dabei, damit er auf uns aufpassen konnte, während wir schliefen. Ich ging kein Risiko ein.

       Unsere kurze Begegnung mit Hauseigentum

      Mormor vermachte alles meiner Mom. Es war nicht so viel, wie Astrid gehofft hatte, weil Mormor einen Teil ihrer Ersparnisse an einen nigerianischen Prinzen überwiesen hatte. Aber als Astrid ein Jahr nach Mormors Tod das Haus verkaufte, reichte es für eine Anzahlung auf eine brandneue Eigentumswohnung in Kitsilano, im Westen von Vancouver.

      Obwohl ich Mormor vermisste, liebte ich unsere neue Wohnung. Sie war klein, aber sie gehörte uns. Der chemische Geruch von neuem Teppich hing noch in der Luft. Alles blitzte vor lauter Neu-Sein. Astrid hängte ihre gewagten Bilder überall hin. Abends gab es eines meiner Lieblingsessen, zum Beispiel Grillkäse mit eingelegten Gurken oder Fischstäbchen mit Erbsen.

      Ich kam in die dritte Klasse an der staatlichen Waterloo School, und bald hatte ich nicht nur einen Freund, sondern einen besten Freund. Dylan Brinkerhoff und ich hingen dauernd zusammen herum, spielten mit LEGO und lasen Bücher wie Ripleys Glaub es oder nicht! und Igittologie. Wir verfassten sogar eine Zeitschrift namens Geschichten vom Ur-Anus mit Artikeln über UFO-Sichtungen und Poltergeister.

      Astrid bekam einen neuen Job, sie ging jetzt bei einer Fernsehproduktionsfirma ans Telefon. Und zu Emily Carr, wo sie noch immer zwei Abende die Woche unterrichtete, war es nur eine kurze Busfahrt.

      Aber anderthalb Jahre nach unserem Einzug passierten zwei Dinge.

      Nummer eins: Astrid verlor beide Jobs. Zur Abwechslung lag es nicht an ihr. Für ihren Abendkurs gab es nicht genügend Anmeldungen, also wurde er abgesagt. Und die Produktionsfirma ging pleite.

      Nummer zwei: Unser Gebäude begann zu sinken.

      Genau. Zu sinken.

      Es war auf einem ausgetrockneten Flussbett gebaut worden. Die Wohnungseigentümer wurden wegen der Reparaturen belangt, die vierzigtausend Dollar kosten sollten. Jeweils.

      Wir hatten keine vierzigtausend Dollar. Wir hielten die Wohnung noch ein Jahr. Doch schließlich musste Astrid sie verkaufen, mit Verlust.

       Die Zwei-Zimmer-Mietwohnung

      Eigentlich war es ein Zimmer plus Lagerraum. Wir hörten unsere Nachbarn streiten und der Teppich muffelte, aber alles in allem war es nicht so übel. Die Wohnung lag auf der East Side, unweit vom Commercial Drive, was bedeutete, dass ich mitten im Jahr die Schule wechseln musste. Ich hatte keine engen Freunde mehr, andererseits aber auch keine Feinde.

      Dylan fehlte mir sehr. Ich besuchte ihn ein paarmal, aber Astrid hatte kein Auto, und ich war noch zu klein, um allein Bus zu fahren. Dylans Eltern mussten also die Fahrerei übernehmen, und sie hatten noch zwei Kinder mit vollen Terminplänen. Nach ein paar Monaten verloren wir uns aus den Augen.

      Astrid fand keine Büro- oder Lehrerstelle, also fing sie an zu kellnern. Ziemlich oft war ich abends allein zu Hause. Aber ich hatte meine Fantasie und meine Bücher aus der Bibliothek und ich guckte ein paar Sendungen, die Mormor und ich immer zusammen geschaut hatten, wie Wer, Was, Wo, Wann.

      Eines Abends kam Astrid früher heim. Sie war stinksauer. »Dieser Kunde hat immer wieder versucht, mir an den Hintern zu fassen.« (Astrid hatte schon immer die Überzeugung vertreten, mit mir auf Augenhöhe zu sprechen.) »Und trotzdem bin ich diejenige, die bestraft wird. Nur weil ich ihm ein Getränk ins Gesicht geschüttet habe, damit er aufhört.« Da begriff ich, dass sie entlassen worden war.

      Wir konnten die Miete nicht mehr pünktlich bezahlen. Aber zum Glück freundete sich Astrid mit Yuri an, dem Gebäudeverwalter, und der hatte Nachsicht mit uns. Alle paar Tage kochte sie mir erst Abendessen und ging dann für ein paar Stunden runter in seine Wohnung. Ich schätze, er war so was wie ihr Freund, auch wenn er nicht ein einziges Mal richtig mit ihr ausging.

      Dann traf Astrid Abelard.

      Sie ging nicht mehr zu Yuri. Vermutlich war Yuri verletzt, denn er klemmte uns einen Räumungsbescheid an die Tür.

       Der Ein-Zimmer-Keller

      Wir zogen wieder um, weiter Richtung Osten, in die Nähe der Boundary Road. Das hieß: wieder eine neue Schule. Dieses Mal hatte ich es schwerer. Die meisten Kinder kannten sich seit dem Kindergarten; sie brauchten keinen neuen Freund.

      »Was zum Teufel bist du denn für ’ne Genmischung?«, fragte mich ein großes, verkniffen wirkendes Mädchen namens Marsha eines Tages.

      »Fünfzig Prozent schwedisch, fünfundzwanzig Prozent haitianisch, fünfundzwanzig Prozent französisch«, gab ich zurück. »Ergibt hundert Prozent kanadisch.«

      Sie verzog den Mund. »Du siehst wie ein Clown aus.«

      Nicht zum ersten Mal machte sich jemand über meine Haare lustig. Als ich noch jünger war, hatte ich meine Mutter gebeten, alles abzuschneiden, aber sie hatte sich geweigert. Jetzt bin ich froh darüber. Sie sind ein Teil von mir. Ich bin wie Samson, bevor er Delilah traf: Sie sind meine Superheldenkraft. Und Astrid liebt meine Haare; sie sagt, sie erinnern sie an zwei ihrer Lieblingssänger, K’naan und Art Garfunkel. Sie sagt, es sei gut, ein besonderes Merkmal zu haben, und meistens sehe ich das auch so. Ich kam also klar mit solchen Zicken wie Marsha, bis zum Ende der sechsten Klasse. Aber ich mochte diese Schule nicht. Ich mochte auch unsere Kellerwohnung nicht. Es roch modrig, und selbst an sonnigen Tagen war es dunkel. Außerdem war Abelard ständig da.

      Astrid schaffte es, einen neuen Job bei BC Hydro an Land zu ziehen. Aber auch der

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