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Ich hatte Angst. Wenn man kein Zuhause hat, kann man schon mal Angst kriegen.

      Die Kellnerin brachte unsere Teller. »Wieso schmeckt Frühstück immer abends besser?«, fragte Astrid.

      »Ein wissenschaftliches Mysterium.«

      Wir aßen schweigend. Dann sagte Astrid: »Ich habe eine witzige Idee.«

      Den Mund voller Rührei guckte ich sie an.

      »Wir wohnen im Bus. Nur ein paar Wochen, bis ich uns was anderes finde. Denk darüber nach, Felix. Das wird der ultimative Sommerurlaub. Freiheit, Abenteuer … Unterwegs von Jack Kerouac war mein Lieblingsbuch, als ich neunzehn war. Das wird der Hammer.«

      Ich dachte nach. Ich war noch nie über Victoria hinausgekommen; wir hatten mit der Klasse die Parlamentsgebäude der Provinzhauptstadt besucht, als ich zehn war. Marsha hatte mich im Bus an den Haaren gezogen, auf der Hinfahrt und der Rückfahrt. »Können wir wegfahren? Durch British Columbia? Oder vielleicht bis zu den Rockies?«

      »Na klar.«

      »Können wir uns das leisten?«

      »Für einen Monat, ja. Ich habe ein bisschen Erspartes.«

      »Wenn du Erspartes hast, wieso konnten wir dann die Miete nicht bezahlen?«

      Astrid schob sich einen Streifen gebratenen Speck in den Mund. »Der Vermieter hat uns ausgenommen. Wie oft habe ich ihn gefragt, ob er Sachen in Ordnung bringen könnte, die nie repariert wurden … Er schuldet uns ein paar Monate mietfreies Wohnen für den ganzen Mist, den wir aushalten mussten.«

      »Oh.«

      »Also, was sagst du? Ultimativer Sommerurlaub?«

      Ich war nicht überzeugt. Aber ich wollte kein Spielverderber sein. »Schätze schon. Klar.« Wir klatschten ab und besiegelten so die Vereinbarung.

      Und damit komme ich zu Anfang August.

      Zu dem Tag, an dem wir in einen Bus einzogen.

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AUGUST image

      Der Volkswagen Westfalia ist kein Kleinbus für Muttis, die ihre Kinder zum Fußball fahren, und auch kein Lieferwagen oder Minivan. Er ist eine Klasse für sich. Unserer – und ich werde ihn erst mal weiter so nennen – ist ein Camper, circa 1977, gelb lackiert. Er hat ein ausfahrbares Dach für zusätzlichen Schlafraum und eine eingebaute Markise, sodass man im Sommer hervorragend draußen sitzen kann. Es gibt einen Gaskocher für zwei Töpfe, der sich aus einem Propangasbehälter speist, eine Spüle mit einer Pumpe, die zu einem riesigen Plastikbehälter mit Wasser führt, damit man kochen und Geschirr spülen kann, und einen Minikühlschrank. Wir haben einen Tisch, den man zum Essen und Spielen niedriger stellen kann. Der Rücksitz lässt sich ausziehen und wird dadurch ein großes Bett. Wenn das Dach ausgefahren ist, hat man ›im Obergeschoss‹ ein zweites Bett. An allen Ecken und Enden gibt es kleine Fächer, in denen man etwas aufbewahren kann. Jeder Quadratzentimeter wird bestmöglich ausgenutzt.

      Kurzum: Der Westfalia ist ein Meisterwerk.

      Aber ich bin ziemlich sicher, dass er nur für zeitweiliges Wohnen gemacht ist, für Urlaube und so was. Und zunächst war das auch alles, was Astrid und ich im Kopf hatten.

      »Wir müssen leicht packen«, sagte sie nach der ersten von zwei schlaflosen Nächten in Soleils Keller.

      Wir fingen an, unsere Besitztümer durchzugehen, entschieden, was wir mitnehmen und was wir zurücklassen wollten. Das war eine harte Nuss, denn obwohl der Westfalia jeden Quadratzentimeter ausnutzt, hat man von vornherein schon nicht allzu viele Quadratzentimeter zur Verfügung.

      Also stellten Astrid und ich uns zwei wesentliche Fragen: Benutze ich das jeden Tag? Lautete die Antwort Ja, wanderte es in den Bus. Sachen wie:

      Teller, Schüsseln, Besteck, Gläser und Tassen – jeweils zwei.

      Ein Topf, eine Bratpfanne und noch ein paar Kochutensilien.

      Spülmittel, Spüllappen.

      Shampoo, Deo, Zahnbürsten, Zahnpasta.

      Erste-Hilfe-Set.

      Taschenlampe, Stirnlampen.

      Zwei Garnituren Bettwäsche, Kissen, Schlafsäcke und Handtücher.

      Kleidung für eine Woche.

      Sobald wir die wichtigsten Sachen hatten, stellten wir die zweite Frage: Habe ich das Gefühl, ohne dies nicht leben zu können? Für Astrid waren das ein kleiner Stapel Bücher, unser Trivial-Pursuit-Spiel und ihre Zeichenstifte, Farben, Staffelei und Skizzenbücher. Für mich waren das Horatio, ein paar Vis-à-Vis-Bücher, meine eselsohrige Ausgabe von Geschichten aus dem Mumintal und Mel.

      Beim Anblick meines tomtes verzog Astrid das Gesicht. »Muss das echt mitkommen?«

      Meine Mom hat Mel noch nie gemocht; sie sagt, sie findet seinen Blick beunruhigend.

      »Ja«, antwortete ich. Wenn der Westfalia unser vorübergehendes Zuhause sein sollte, dann brauchten wir jeden Schutz, den wir kriegen konnten.

      Als Nächstes borgten wir uns ein paar Putzutensilien von Soleil und schrubbten den Bus ordentlich. Abelard hatte ein paar Dinge dagelassen, einschließlich eines Werkzeugkastens, einer Marken-Regenjacke, eines Heizlüfters und eines Plastikbeutels voller Marihuana. Astrid behielt den Werkzeugkasten und den Heizlüfter und gab mir die Regenjacke. Ich weiß nicht, was mit der Tüte Marihuana passiert ist, und das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

      Nach unserer zweiten Nacht in Soleils Keller beluden wir den Westfalia. Soleils Zwillinge kamen raus, um zuzugucken, bevor ihr Dad, Arpad, sie zu ihrem Mechatronik-Kurs fuhr.

      Als wir fertig waren, suchten wir Soleil in der Garage, die zu ihrem Atelier umgebaut worden war. Sie arbeitete an einem weiteren Rosenbild, dieses Mal in Pink.

      »Also, wir machen uns dann mal auf zu unserem Roadtrip«, sagte Astrid.

      »Was ist mit dem Rest eurer Sachen?«

      »Wenn es für dich in Ordnung ist, lassen wir sie hier. Nur bis Ende des Monats.«

      Astrid legte ihre Hand auf meinen Kopf, und das war mein Einsatz, Soleil gewinnend anzulächeln.

      Soleil zog die Augenbrauen zusammen. »Gut. Aber nur bis dahin.«

      »Danke, dass wir hierbleiben durften«, sagte ich, denn es hatte den Anschein, als würde meine Mom es nicht tun.

      Soleil legte ihren Pinsel weg und umarmte mich. »Es war schön, dich wiederzusehen, Felix. Pass auf dich auf.«

      Sie schaute Astrid nicht an. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich wieder ihrem Gemälde zu.

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      Astrid hatte recht gehabt. Den ganzen August lang im Bus zu wohnen, war der Hammer, sobald ich die erste Enttäuschung überwunden hatte, dass wir nicht weit würden fahren können. Das wurde Astrid klar, als wir zum ersten Mal tanken mussten. Es kostete, wie sie sagte, ein Vermögen. »Tut mir leid, Böna.« Das ist ein anderer Kosename für mich, auf Schwedisch bedeutet er ›Bohne‹. »Aber denk an all die schönen Orte, die wir in und um Vancouver besuchen können! Grouse Mountain, Stanley Park, Wreck Beach …«

      »Nicht Wreck Beach!« Wreck Beach ist bekannt dafür, dass Kleidung ›kein Muss‹ ist. Astrid nahm mich immer mit dorthin, als ich klein war. Mit fünf war das noch in Ordnung, aber nun, da ich zwölfeinhalb war, für kein Geld der Welt.

      »Na gut. Zimperliese. Ich sag ja bloß, es gibt viele schöne Orte.« Und das stimmte. Wir wohnten im Stanley Park. Wir gönnten uns eine Fahrt den Highway 99 hinauf und bezahlten

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