Скачать книгу

wir sie auf und aßen sie. Astrid entdeckte eine Plastikdose in einer von Soleils Schubladen und tat die Reste hinein, damit ich sie als Mittagessen mitnehmen konnte.

      Es war schon ziemlich toll, zum ersten Mal seit einem Monat in einem richtigen Haus zu sein. Also gingen wir nach dem Abendessen immer noch nicht. Wir saßen im Wohnzimmer und guckten Fernsehen, einschließlich meiner Lieblingssendung Wer, Was, Wo, Wann, was wie Jeopardy! auf Steroiden ist. Im Unterschied zu Alex Trebek fuchtelt Horatio Blass, der Moderator von Wer, Was, Wo, Wann, mit den Armen, spricht mit dröhnender Stimme und macht dauernd: »Wuuuuu-huuuuu!«

      Ich rief die Antworten, bevor die Kandidaten den Mund aufmachten. Fast immer hatte ich recht. Ich will nicht angeben; es ist einfach so, dass ich ein komisches Talent habe, Fakten abzuspeichern. Und da meine Mom alles von Anthropologie bis Weltgeschichte und obendrein noch englische Literatur studiert hat, habe ich über die Jahre eine LKW-Ladung Fakten aufgeschnappt. »Du bist wie ein Schwamm«, sagte ein Lehrer mal zu mir, nachdem ich aus dem Gedächtnis Martin Luther Kings Rede Ich habe einen Traum rezitiert hatte.

      Während wir fernsahen, schweifte mein Blick zu einem riesigen schwarz-weißen Familienporträt, das über dem Kamin hing. Soleil, ihr Ehemann und ihre Zwillingssöhne trugen beinahe identische Kleidung: cremeweißer Pullover mit Rundhalsausschnitt und eine dunkle Hose.

      Ich will nicht leugnen, dass ich ein neidisches Ziepen verspürte. Sie sahen so glücklich aus. So reich.

      Wir wollten keine Aufmerksamkeit erregen, indem wir Licht anmachten, also hauten wir ab, als es langsam dunkel wurde. Ich möchte betonen, dass wir den Ort makellos hinterließen.

      Vielleicht sogar sauberer, als er bei unserer Ankunft gewesen war. Und wir nahmen nur die Lasagne. Und die Plastikdose. Und ein Bier für Astrid und eine Limo für mich.

      Ich bin ziemlich sicher, es war bloß ein seltsamer Zufall, dass meine Mutter eine Woche später einen Pullover trug, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

      Cremeweiß. Rundhalsausschnitt.

      Bevor ich zur Schule losging, nahm Astrid mich noch einmal in Augenschein. Wie immer waren meine Haare ein gewaltiger Bausch aus Blond, seidig sauber, und dufteten wunderbar. Ich trug eine Jeans aus dem Secondhandladen – wieso jemand woanders einkauft, ist mir schleierhaft – und mein Lieblings-T-Shirt mit der kanadischen Flagge und dem Spruch MEMBER OF THE EH-TEAM darauf.

      »Du siehst klasse aus«, sagte Astrid. »Ich hoffe, es wird ein wundervoller Tag.«

      »Ebenfalls.« Sie wollte auf Jobsuche gehen. Sie trug eine graue Stoffhose, Ballerinas und eine ihrer hübschen Blusen. Astrid weiß, wie man einen guten ersten Eindruck macht. Mit den späteren Eindrücken wird es manchmal problematisch.

      Ich lief die paar Blocks bis Blenheim. Es war ein herrlicher Tag. Kastanienbäume standen zu beiden Seiten der Straße und ihre Blätter raschelten im Wind. Mein Magen gluckste, weil ich zum Frühstück nur eine Banane gegessen hatte; für mehr war ich zu aufgeregt.

      Als ich durch die Eingangstür des alten gelben Backsteinbaus trat, versuchte ich ein Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, das ich nicht verspürte.

      Unwillkürlich fiel mein Blick auf einen Jungen ein Stück weiter hinten im Flur. Er sah aus, als wäre er erst fünf Minuten zuvor aufgestanden. Sein gestreiftes T-Shirt und seine Jeans waren zerknittert, seine Haare waren ein krasser Fall von ›eben aus dem Bett gefallen‹ und er hatte versehentlich sein Hemd in seine Unterhose gesteckt.

      Ich erkannte ihn sofort.

      Es war Dylan Brinkerhoff, mein alter bester Freund.

      »Dylan, hallo«, sagte ich mit rauer Stimme.

      Er drehte sich um und guckte mich einen Augenblick lang ausdruckslos an. Mir rutschte das Herz in die Hose. Dann öffneten sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen und enthüllten einen Mund voller Metall. »Felix!« Er umschlang mich mit beiden Armen und drückte mich. »Bist du wegen des Französisch-Intensivprogramms hier?« Er sprach mit einem leichten Lispeln, wegen der Zahnspange, als würde sie an seiner Zunge ziehen.

      »Ja. Bitte sag mir, du auch.«

      »Ich auch! Heißt das, du wohnst jetzt wieder hier in der Gegend?«

      »Das heißt es, genau.«

      »Das ist so cool! Wo wohnst du?«

      Ich blinzelte hektisch. So früh hatte ich die Frage nicht erwartet.

      »Auf der West Side, aber gerade noch so. Lange Busfahrt.« Ich sagte mir, dass es sich hier um eine Unsichtbare Lüge handelte.

      »Wer ist dein Lehrer?«, fragte er.

      »Monsieur Thibault.«

      »Meiner auch. Was für ein Zufall!«

      Eben wollte ich sagen, dass der Zufall gar nicht so riesig war, da es lediglich zwei Intensivkurse gab, aber ich ließ es sein. »O Mann, das ist so cool!«

      Wir hätten uns nicht einiger sein können.

      Dylan und ich fanden zwei Sitzplätze in der Mitte der Klasse. Für den Anfang schien das eine sichere Sache zu sein. Ich zählte achtundzwanzig Kinder, die gleiche Anzahl Jungs wie Mädchen. Das übliche Erster-Schultag-Geplapper gab es nicht, die meisten von uns kamen von anderen Schulen, also waren wir alle neu, was ehrlich gesagt eine Erleichterung darstellte.

      Ein Mann betrat den Raum. Er wirkte wie ungefähr fünfundzwanzig, hatte dicke, muskulöse Arme und eine breite Brust. Er trug einen schwarzen Bart und einen sorgfältig getrimmten Schnauzer. Und er hatte Tattoos. Jede Menge Tattoos. »Bonjour, je m’appelle Monsieur Thibault. Hallo, ich heiße Mister Thibault.«

      Dylan und ich guckten uns an. Monsieur Thibault sah mehr aus wie ein Hells Angel als wie ein Lehrer.

      Auf Englisch erzählte er uns, dass er in Québec City geboren und aufgewachsen war und neun – neun! – Brüder und Schwestern hatte. Er erinnerte uns daran, dass wir alle im selben Boot saßen, es also keinen Grund gab, nervös zu sein. Mein S.H.I.T. sagte mir, dass er toll war. »Heute und nur heute werden wir Englisch miteinander sprechen. Ab morgen ist dann alles en français. So, dann stellen wir uns nun nacheinander vor. Erzählt uns, warum ihr diesen Kurs gewählt habt.«

      Er fing ganz hinten an und arbeitete sich nach vorn durch. Dann war Dylan an der Reihe. »Ich bin Dylan Brinkerhoff. Meine älteren Schwestern, Cricket und Alberta, waren schon in diesem Kurs. Sie haben gesagt, ich soll ihn auch machen. Ich schätze, deshalb bin ich hier.«

      Ich war der Nächste.

      »Ich bin Felix Knutsson. Ich bin halb schwedisch, aber ich habe nie richtig Schwedisch gelernt, und ich bin zu je einem Viertel haitianisch und französisch, aber ich kann weder Kreolisch noch Französisch. Und ich mag Sprachen und fordere mich gern selbst, also … hier bin ich.«

      Die meisten stellten sich vor wie wir, kurz und bündig und auf Englisch. Dann kam Monsieur Thibault zur letzten Schülerin, die (im Rückblick betrachtet vorhersehbar) in der ersten Reihe saß.

      Winnie Wu.

      Winnies lange, schwarze Haare waren zu einem französischen Zopf geflochten, mit Absicht, wie mir erst später auffiel. (Französischer Zopf. Kapiert?) Sie trug eine weiße Bluse und einen karierten Rock mit roten Kniestrümpfen und schwarzen Lederschuhen. Um den Hals hatte sie eine goldene Kette mit zwei Anhängern; ein Herz aus Jade und ein kleines goldenes Kreuz. Auf ihrem Kopf saß, kunstvoll drapiert, eine rote Baskenmütze.

       »Je suis ici parce-que j’aime beaucoup tous les choses françaises. J’ai acheté les ›listening tapes‹ pour étudier.«

      Stille. Die meisten von uns konnten kaum auf Französisch bis zehn zählen; wir hatten keine Ahnung, was sie gerade gesagt hatte. Aber auf Monsieur Thibaults Gesicht leuchtete ein entzücktes Grinsen auf. »Hervorragend, Winnie …«

      Winnie war noch nicht fertig. »Mes parents m’ont emmenée à Las Vegas l’hiver passé et j’ai vu la Tour Eiffel, et vraiment, c’était l’amour au

Скачать книгу