Скачать книгу

und Anreger all jener, die sich heute als »Basejumper« mit Fallschirmen von Felsen, Brücken oder Türmen stürzen.

      Es soll aber noch ein damals allen Hallensern vertrautes Original erwähnt werden: ein Straßenmusikant namens Zither-Reinhold. Er saß bei jedem Wetter in irgendeiner Ecke des Marktplatzes auf einem alten Kissen und klimperte auf seiner Zither. Er klimperte irgendwas, niemals ein richtiges Lied. Er gehörte zur Stadt wie der Turm auf dem Marktplatz. Niemand wusste, wie er hieß und wo er wohnte. Aber es fiel sofort auf, wenn er nicht klimperte, weil er sich verspätet hatte. Er starb 1964, und die ganze Stadt trauerte um ihn. Sie verlor mit ihm ein wahrhaftiges Faktotum.

      Und es gab auch in der Nähe des Stadttheaters eine Gaststätte mit dem ulkigen Namen »Zum Sargdeckel«. An der Decke des Gastraumes hing ein echter Sargdeckel. Er war, so wurde vermutet, als Zahlungsmittel in die Gaststätte gekommen. Im Gastraum standen schwere Holztische und Stühle. In die Tischplatte des Stammtisches wurden die Todesdaten und der Name des verstorbenen Stammgastes eingeschnitzt. Kein Gast, der nicht Stammgast war, setzte sich an diesen Tisch. Das haben ja Stammtische auch heute noch als Privileg. Die Gaststätte fiel nach der Wende ihrem Alter und ihrer Gebrechlichkeit zum Opfer und wurde abgerissen.

      Beginn in der MUK / Mord durch Sowjetsoldaten

      Eines Tages fragte mich auf dem Korridor eine Kriminalistin: »Hans, hast du Zeit? Kannst Du mir bei den Ermittlungen helfen?« Natürlich hatte ich Zeit, Ruthchen zu helfen. So fuhr ich mit ihr in einem klapprigen F9-Kübelwagen los, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Sie erklärte mir unterwegs sinngemäß, dass wir die Zigeunerin Sonja festnehmen müssten, gegen die ein Haftbefehl zu vollstrecken war. Sie erklärte mir auch, wo Sonja zu finden sei und dass wir vor jeder Handlung erst mit dem Familienvorstand, dem »Zigeunerbaron« sprechen müssten, um keinen Ärger mit der Sonjas Familie zu bekommen. Den trafen wir auch im Winterquartier des Familienclans. Er hörte Ruthchen an und rief irgendetwas in den Raum, und nach einigen Minuten kam die von uns Gesuchte, die er uns als Sonja vorstellte und uns übergab. So fuhren wir mit ihr davon. Ich begleitete Ruthchen noch in die Untersuchungshaftanstalt Halle, wo wir Sonja ablieferten. Für mich war damit der Einsatz beendet.

      Nach einer Woche schallte lautes Gelächter durch den Korridor, in der die Untersuchungsabteilung ihr Zimmer hatte. Was war geschehen? Sonja hatte in einer Vernehmung bei Ruthchen behauptet, sie sei nicht die Gesuchte. Es war nicht zum Lachen. Der »Zigeunerbaron« hatte uns ein Mädchen mitgegeben, welches nun behauptete, nicht Sonja zu sein. Es konnte nicht geklärt werden, wer nun wer war, und zur Vermeidung weiteren Ärgers musste die junge Frau aus der Haft entlassen werden.

      Aber wochenlang lachten alle über Ruthchen und mich. Es beruhigte sich aber wieder, weil es ja jedem anderen Kriminalisten auch hätte passieren können.

      Der Tagesablauf war in erster Linie durch unaufhörlich eingehende Untersuchungsarbeit ausgefüllt. Einmal wöchentlich war Zeitungsschau für alle Kriminalisten. Ein vorher bestimmter Kriminalist musste sie abhalten, und da wir keinen Versammlungsraum hatten, ging gegen 7.30 Uhr jeder mit seinem Stuhl in den Korridor, nahm Platz und ließ alles über sich ergehen. Ich weiß nicht mehr, warum diese Zeitungsschau durchgeführt wurde, es kann sein, dass nicht alle eine Zeitung bestellt hatten oder dass Papiermangel der Grund war. Dieser Termin wurde nicht sonderlich ernst genommen, fand aber regelmäßig statt.

      Auch Parteiversammlungen wurden natürlich durchgeführt, aber alles in allem war der Tagesablauf durch die kriminalistische Arbeit ausgefüllt und für politische Gespräche war eigentlich keine Zeit. Die meisten Ermittlungen im Gebiet der Stadt Halle wurden zu Fuß oder mit der Straßenbahn erledigt. Nur bei Ermittlungen im Saalkreis stand ein Motorrad zur Verfügung. Alles war durch Sparsamkeit geprägt, die aber nicht besonders durch die Dienstvorgesetzten erzwungen werden musste, es war einfach nichts da. Wir hatten meist zu zweit eine Schreibmaschine. Ich schrieb auf einer uralten englischen »Remington«, und so war bei der Planung der Vorladungen immer mit abzusprechen, wann eine Schreibmaschine frei war. Es hatte auch nicht jeder ein Strafgesetzbuch, aber an das Ausleihen von Schreibmaschine und Gesetzbuch war man schnell gewöhnt. Als wir einmal unseren Schrank abrückten, weil wir das Zimmer renovieren wollten, lasen wir erstaunt auf der Rückseite den großen Stempel »Gestapoleitstelle Halle«. Er ließ sich auch nicht beseitigen, so blieb er halt dran, wurde übermalt und der Schrank wieder mit der Rückseite an die Wand gestellt.

      Die Untersuchungsabteilung war etwa zwanzig Frauen und Männer stark, jeder half jedem, nur so war alles zu bewältigen. Es gab aber nicht nur junge Menschen, sondern auch ältere, welche schon den Krieg miterlebt hatten.

      Einer dieser Älteren ist mir noch in besonderer Erinnerung. Er war Oberleutnant und bei allen als Bastler an alten Autos und Motorrädern bekannt. Wenn man mit ihm den so genannten Kriminaldauerdienst, also die Nachtschicht, zu verrichten hatte, meldete er sich bei seinem Mitstreiter, wenn sich die Stadt beruhigte hatte, so meist nach Mitternacht, unter Bekanntgabe einer Telefonnummer ab. »Ich fahre in die Bereitschaft, ruf an, wenn du mich brauchst«; und da der Dauerdienst den alten klapprigen F9-Kübelwagen hatte, fuhr er weg und kam früh gegen 7.00 Uhr wieder, da ja die Nachtschicht übergeben werden musste. Alle wussten, dass er an einem Auto bastelte. Es wurden auch Kontrollanrufe getätigt, aber alles lief problemlos.

      Eines Tages war er mit dem Auto, einem alten, nun durch ihn aufgemotzten F9 fertig und so kam er fortan mit diesem Wagen von seinem Wohnort zum Präsidium gefahren. Eines Tages, es muss etwa 1955 oder 1956 gewesen sein, wurde zu einer außerordentlichen Parteiversammlung aufgerufen, welche am gleichen Tag durchgeführt werden sollte. Niemand wusste, worum es gehen sollte, alles war sehr geheimnisvoll. Im Raum waren Zivilisten, die niemand kannte. Es wurde gemunkelt und vermutet, dass sie von der Stadtleitung sein könnten. Was die Stadtleitung aber mit der Kriminalpolizei zu tun haben sollte, wussten wir nicht und so war überall Unruhe und Rätselraten im Raum.

      Bei der Eröffnung der Parteiversammlung wurde bekannt, dass gegen den Autobastler, also Oberleutnant S., wegen nichtsozialistischen Verhaltens sowie des Versuchs der Restaurierung des Kapitalismus ein Parteiverfahren durchgeführt wird, mit dem Ziel, ihn aus der Partei auszuschließen und aus den Reihen der Volkspolizei auszustoßen. Alle waren verwundert, niemand wusste, was mit dem Vorwurf gemeint sein könnte. Das wurde erst in der Diskussion klar, die eigentlich keine war, weil vorbestimmte Redner nur immer den Vorwurf wiederholten.

      Der Teilnehmerkreis dieser Versammlung umfasste auch andere Abteilungen des VPKA, und so waren es fünfzig bis sechzig Anwesende. Nachdem der Ausschluss aus der Partei und der Ausstoß aus der Volkspolizei gefordert waren, meldete sich »Glöckchen« zu Wort. »Glöckchen« war bei uns in der Untersuchungsabteilung tätig. Alle wussten, dass er zwölf Jahre Haft und Konzentrationslager hinter sich hatte. Er war in der Zeit des Faschismus als Mitarbeiter der Halleschen Zeitung Die Freiheit im Untergrund tätig, und »Glöckchen« war sein Deckname. Er begann mit den Worten: »Nachdem nun lange genug Holz auf dem Rücken des Genossen S. gehackt wurde, will ich euch etwas erzählen, was offensichtlich auch bei der Stadtleitung nicht bekannt ist«: Und mit einer Tonart, die ich als drohend empfand, fuhr er fort: »Euch, die ihr im Krieg wart, will ich nicht fragen, was ihr im Krieg gemacht habt. Aber, was er gemacht hat, das will ich euch jetzt erzählen.«

      Im Saal war es ganz still. »Oberleutnant S. war als 18-Jähriger in die faschistische Wehrmacht eingezogen worden und hatte, als in der Sowjetunion noch gesiegt wurde, wenige Tage Heimaturlaub bekommen. In seinem Heimatdorf sah er eine Kolonne weiblicher Häftlinge zur Arbeit in einen Tagebau schlurfen. Er beschloss, eines dieser Mädchen zu befreien. Er schaffte das auch und seine Eltern versteckten das Mädchen bis zum Kriegsende. Welche Strafen seitens der Nazis für seine Eltern und für ihn zu erwarten waren, wisst ihr alle selbst.« Und er wiederholte: »Was ihr Alten im Krieg gemacht habt, das will ich euch nicht fragen, aber was er gemacht hat, habe ich euch jetzt noch nicht zu Ende erzählt. Nach dem Krieg und nach der Heimkehr aus der Gefangenschaft fand er dieses Mädchen noch bei seinen Eltern vor, heiratete sie, hat mit ihr drei Kinder. Wenn ihr ihn nun immer noch aus der Partei ausschließen wollt, könnt ihr gleich abstimmen. Ich stimme dagegen und wenn ich der einzige bin.« Es wurde nicht abgestimmt, auch der bereits gestellte Antrag nicht aufgehoben. Die Versammlung löste sich plötzlich ohne Schlusswort auf.

      Und nicht erst heute, wo ich nun weit über das

Скачать книгу