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umringt war. Am Auto stand ein schwarz gekleideter Mann, er hatte eine Mütze unter dem linken Arm geklemmt und Siegfried Schwarz begrüßte ihn. Dann sagte er zu mir: »Los, steig ein«. Der Fahrer öffnete die hintere Tür, ich stieg ein und los ging die Fahrt. Schwarz saß vorn beim Fahrer. Hinten war, wie es sich gehörte, ein Sarg platziert, aber keine Sitzgelegenheit. So saß ich notgedrungen auf dem Sarg und stützte mich in den Kurven mit den Händen an den Seitenwänden des Wagens ab. In der Nähe meiner Wohnung klopfte ich an die Scheibe und stieg aus. Ich war froh, so schnell und unkompliziert nach Hause zu kommen und ein Leichenwagen war auch für mich nichts Bedrohliches.

      Diese »Dienstfahrt« habe ich auch bei einer »innerdienstlichen« Zusammenkunft der Offiziere der ehemaligen Morduntersuchungskommissionen aus den Bezirken der DDR zum Besten gegeben. Alle waren amüsiert. Seit vielen Jahren schon treffen wir uns auch heute noch einmal jährlich. An diesen Treffen nehmen außer uns Ex-Offizieren der MUK auch frühere Gutachter des Kriminalistischen Instituts der Volkspolizei, ehemalige Dozenten der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin, Sachbuchautoren, die unserem Beruf zugetan sind und auch Ehefrauen teil. Und natürlich auch der ehemalige Leichensachbearbeiter Schwarz mit seiner Ehefrau. Er hat noch immer Kontakt zum damaligen Fahrer des Leichenwagens. Wir laden auch aktive Gerichtsmediziner ein und besprechen dann einen bereits gerichtlich abgeurteilten Fall der Neuzeit. Dann reden wir oft bis in die frühen Morgenstunden über die Vergangenheit, unsere aktuellen Lebensumstände und auch über die Zukunft.

      Mord aus Leidenschaft im Schaustellermilieu

      In der von Hauptmann Grothe und mir 1963 untersuchten Tragödie sehen wir die Kraft der Liebe und das dämonische Verlangen, welches aus der verratenen Liebe reift und mit der Tötung der verlorenen Geliebten enden kann. Wie treffend sind doch die Worte in Schillers Das Lied von der Glocke:

      Oh dass sie ewig grünen bleibe,

      die schöne Zeit der jungen Liebe!

      Das Drama ereignete sich in Halle. Wir fuhren kurz nach Dienstschluss zur betreffenden Wohnung. An der Wohnungstür stand ein uniformierter Polizist und wies uns schweigend mit einer Handbewegung den Weg in die Wohnung. Wir kamen an einer Küche vorbei. Am Tisch saß eine weinende Frau, die sich offenbar in tiefem Schockzustand befand. Dann rechts ein Wohnzimmer und links der eigentliche Tatort im Schlafzimmer. Am Fenster stand ein jüngerer, weinender Mann. Er hielt sich mit beiden Händen an einer Stange am Fußende des Bettes fest.

      Auf dem Bett lag mit dem Kopf zum Fußende eine bekleidete weibliche Leiche. Sie war geordnet bekleidet mit einer langen Hose und einer Bluse, welche im Brustbereich geöffnet war. Die Leiche lag ausgestreckt in Rückenlage. Um den Kopf, um die Schultern und herunter bis an die Hüften war die Leiche mit vielen roten Rosen umgeben. Die Situation glich der in einer Leichenhalle. Der Polizist am Fenster wies mit einer Handbewegung auf den weinenden Mann, als wollte er damit sagen, dass er der Täter sei.

      Wir besahen die Leiche. Beidseitig am Hals waren deutliche Würgemale sichtbar. Offenbar war die Frau erwürgt worden. Am Kopf, im Gesicht, auf den Schultern und auch auf der Brustvorderseite sahen wir viele kleine Stichverletzungen, die aber nicht bluteten. Diese Stichverletzungen waren ihr also nach dem Todeseintritt zugefügt worden. Die Situation war irgendwie unwirklich. Keiner sprach ein Wort, der junge Mann weinte und schaute auf die Leiche.

      Hauptmann Grothe sprach ihn an: »Haben Sie das getan?«, und der Mann nickte wortlos. Dann ermahnte er ihn »Sagen Sie Ja oder Nein, damit wir wissen, was hier geschehen ist und in welchem Zusammenhang Sie zu der getöteten Frau stehen«. Leise kam die Antwort: »Ja, das war ich«. Hauptmann Grothe gab beiden VP-Angehörigen die Weisung, den Mann ins VPKA zu bringen und dort unter Bewachung zu setzen. Vorher fotografierten wir noch seine verschmierten Hände. Dann waren wir mit der Leiche allein. Wir schüttelten beide mehrmals den Kopf. So etwas hatten wir noch nicht erlebt.

      Unser Kriminaltechniker, Oberleutnant Hecht, ordnete seine Gerätschaften und begann mit der Fotografie und der Vermessung des Raumes. Er fand auch einen kleinen Hirschfänger mit einer Klingenlänge von sieben Zentimetern. Wir gingen in die Küche, um von der weinenden Frau zu erfahren, was sich ereignet hatte. Sie sprach unter Tränen und Schluchzen, die Tote sei ihre Tochter. Sie war an dem Tag mit ihrem Freund Lothar gekommen, sie habe beide allein gelassen. Dann sei der Freund zu ihr gekommen und habe ihr gesagt, dass er ihre Tochter ermordet habe und sie die Polizei rufen solle.

      Sie wusste nicht, warum das alles geschehen war. Sie hatte ihre Tochter tot auf dem Bett liegen und die vielen Blumen gesehen und war dann weinend über die Straße zur Frauenklinik gelaufen, um die Polizei zu verständigen. Der Freund ihrer Tochter habe weinend im Schlafzimmer gestanden.

      Sie weinte ununterbrochen. Ich ging zur Frauenklinik und forderte von dort einen Arzt, den Leichentransport und eine Krankenschwester zur Betreuung der Mutter an. Das Mobiltelefon war noch nicht erfunden und im Auto hatten wir kein Funkgerät. Der Tatort war schnell vermessen und fotografiert. Aus der Situation heraus gab es nicht viel zu tun.

      Am nächsten Tag ging ich früh ins Institut für Gerichtliche Medizin, um an der Leichenöffnung teilzunehmen. Auch ein Staatsanwalt war gekommen. Die Ärzte stellten fest, dass die Frau durch beiderseitiges Würgen mit Bruch des Kehlkopfes und des Zungenbeines zu Tode gekommen war. Sie zählten 113 Messerstiche, welche nicht todesursächlich waren. Diese waren ihr erst nach dem Eintritt des Todes beigebracht worden. Es gab keine Anzeichen für eine sexuelle Aggression.

      Die Vorgeschichte des Dramas: Lothar entstammte einer Schaustellerfamilie. Seien Eltern betrieben ein kleines mobiles Unternehmen, zu welchem auch sein Onkel gehörte. Sie hatten zwei Wohnwagen, einen Küchenwagen und einen Vorführwagen mit aufklappbarer Seitenwand, welcher die Bühne war. Sie waren Schausteller mit Handpuppen. Mehrere Monate vor dem Drama hatte die getötete Frau, welche zu dieser Zeit Studentin in Halle war, einer Schau beigewohnt, Lothar gesehen, sich Hals über Kopf in ihn verliebt und sofort ihr Studium in Halle aufgegeben. Sie war schon nach wenigen Tagen zu Lothar in dessen Wohn-Schlafwagen eingezogen. Seine Eltern und der Onkel waren im anderen Wohnwagen zusammengerückt.

      Die Schausteller tingelten im Land umher, es war Sommer. Lothar und Ingrid waren grenzenlos verliebt, und so war die kleine Welt in Ordnung. Trotz der nicht luxuriösen Lebensumstände waren alle mit ihrem Leben zufrieden. Ingrid war die sexuell erfahrene und die erste Sexualpartnerin von Lothar.

      Eines Tages hatte Lothar seine Geliebte in ihrem Wohnwagen mit dem Onkel im Bett angetroffen. Nach einer wüsten Schlägerei hatte sich alles zunächst scheinbar wieder beruhigt. Lothar war in den anderen Wohnwagen umgezogen und seine Geliebte schlief allein im Wohnwagen. So ging es einige Wochen. Sie trafen sich nur im Küchenwagen. Lothar war misstrauisch und argwöhnte, dass beide ihr Verhältnis fortsetzen könnten, was aber sicherlich nicht möglich war, da seine Eltern ja auch wussten, was geschehen war.

      Lothar versuchte mehrmals, seine verlorene Liebe zurückzugewinnen. Das jedoch lehnte Ingrid ab. Ob aus Scham über ihren Verrat oder ob sie doch den Onkel mehr liebte, der auch mehr sexuelle Erfahrungen hatte als der unerfahrene Lothar, konnten wir nicht klären.

      Am Tattag waren beide gemeinsam vom Standort der Wagen in Halle zu ihrer Mutter gelaufen um dort, vielleicht mit Hilfe der Mutter, wie er hoffte, wieder einen Versöhnungsversuch unternehmen zu können. Lothar hatte für Ingrids Mutter einen großen Rosenstrauß gekauft. Dann lief der Versöhnungsversuch jedoch völlig aus dem Ruder. Lothar erzählte uns, sie habe beim Onkel bleiben wollen. Dann hätte er sie erwürgt, mit dem Messer gestochen und die Rosen um sie gelegt. Er war ohne Ausflüchte geständig, erklärte auch, dass er schon vor diesem Tag beschlossen hatte, sie zu töten, wenn sie beim Onkel bleiben wolle. So weit konnten wir ihm als Morduntersucher folgen. Auf unsere Frage nach dem »Warum« erklärte er uns seine Motivation, der wir zunächst nicht folgen wollten. Wir konnten aber bis zur Gerichtsverhandlung kein anderes Motiv von ihm erfahren: Er meinte ein Recht zu haben, sie zu töten. Es sei seit Jahrhunderten bei Schaustellern üblich, dass der untreue Mensch vom verratenen Partner getötet werden darf. Wir hatten beide Mühe, unsere Mimik zu beherrschen. Auch bei sofortigem Nachhaken kam die gleiche Antwort: »Ich hatte das Recht, sie zu töten.«

      Es war für uns unvorstellbar. Aber wir waren keine Schausteller und hatten von einer solchen Gepflogenheit

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