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      Lisa trat vor die Tür und fragte sich, ob sie neben Schal und Mütze nicht auch Handschuhe anziehen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie genoss es einfach zu sehr, knorrige Baumrinde zu ertasten, ihre Handflächen über zarte Pflänzchen gleiten zu lassen und hier und da einen weichen Moosteppich zu streicheln.

      Vier Tage wohnte Lisa nun schon bei den Vogels, da sie übereingekommen waren, dass sie ihren Urlaub hier verbringen würde. Jeden Tag, sobald Robert und Heinrich in die Wälder verschwanden, Georg zu seinem Campingplatz hinunterging, der jetzt im November leer stand, Charlotte sich ihren hausfraulichen Pflichten widmete und der Großvater entweder lesend in einer Ecke der geräumigen Küche saß oder spazieren ging, brach auch sie auf, um die nahe gelegenen Berge zu erkunden. Heute wollte sie endlich einmal zum See wandern. Georgs Wegvorschlag bedeutete zwar einen gewaltigen Umweg für sie, wartete aber mit weitaus schöneren Aussichtspunkten auf als der direkte Weg, den er bevorzugte.

      Angetan mit einer bequemen beigefarbenen Stoffhose, einer dicken Daunenjacke über der weißen Bluse und festen Schuhen, die Charlotte ihr zur Verfügung gestellt hatte, machte sie sich munter auf den Weg. Tautropfen saßen wie Perlen auf Grashalmen und reflektierten die für diese Jahreszeit ungewöhnlich helle Morgensonne, klebten an Spinnweben, als wollten sie dafür Sorge tragen, dass die seidigen Fäden, die sonst gern im Verborgenen blieben, an diesem Tag ja nicht übersehen wurden. Wie filigrane Kunstwerke, im Geheimen entstanden und nun in einer Galerie ausgestellt, die sich Natur nennt. Die Luft roch würzig, nach feuchter Erde, Fichtennadeln und modrigem Waldboden, und somit unverkennbar nach Spätherbst und Verfall; einem dem Ende entgegenstrebenden Jahr.

      Lisa schritt zügig aus. Der Waldweg war übersät mit Fichten-, Tannen- und Kiefernnadeln, kleinen Steinen und oberirdisch verlaufenden Wurzeln, und es raschelte und knackte unter jedem ihrer Schritte. Das Rauschen der Bäume klang wie ein sanftes Lied, in das sich das Zwitschern der Vögel verwob, die den Winter über hierzubleiben gedachten. Ein rotbraunes Eichhörnchen kreuzte ihren Weg und huschte gewandt einen Baumstamm hinauf, dorthin, wo es vermutlich seinen Kobel gebaut hatte.

      Lisa atmete durch und verspürte tief in sich eine wohltuende Ruhe. Sie genoss die gemeinsamen Mahlzeiten mit der Familie Vogel, bei der nur Ralf, der jüngste Sohn, fehlte, da er zum Studieren weggezogen war.

      Morgens ging es im Forsthaus eher ruhig zu. Heinrich las etwas aus der Bibel vor, betete dann in einem breiten, für sie nur schwer verständlichen Dialekt und machte sich anschließend über das Frühstück her, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu sich genommen. Unterbrochen von langen Pausen, entweder, weil sie die von ihr und Charlotte zubereiteten Speisen in Ruhe genießen wollten oder weil sie noch müde waren, wurde der Tagesplan der einzelnen Familienmitglieder besprochen. Dabei wurde Lisa wie selbstverständlich integriert, was sie überaus glücklich stimmte. Sie fühlte sich nicht nur geduldet, sondern willkommen. Mit einer Ausnahme: Robert verhielt sich ihr gegenüber noch immer extrem zurückhaltend. Offenbar traute er ihr nicht über den Weg.

      Georg war stets der Erste, der die anheimelnde Frühstücksrunde verließ, gefolgt von seinem Großvater Johann. Heinrich und Robert verabschiedeten sich als Nächstes, jedoch erst, nachdem Robert das Geschirr zur Spüle hinübergetragen und Heinrich seine Frau umarmt und geküsst hatte.

      Lisa schaute dann immer weg, genoss aber jenes Fluidum der Nähe, Liebe und Zugehörigkeit. Diesem Genuss folgte stets ein in ihrem Inneren aufsteigendes Gefühl von Verlust und tiefer, ja schmerzlicher Sehnsucht.

      Einmal mehr öffnete sich der Wald links von Lisa zu einer natürlichen Lichtung, und sie blieb stehen, um den See aus diesem neuen Blickwinkel zu bewundern. Da sie bereits einige Meter abwärts spaziert war, konnte sie nun nur noch einen Teil des Gewässers sehen, dafür bot sich ihr endlich ein Blick auf die kleine Insel, die von einem Ring aus grauen Felsbrocken umgeben war. Der Umstand, dass dort Bäume wuchsen, vorrangig Kiefern und Birken, verriet ihr jedoch, dass das Gestein die Erhebung nur schützend umgab. Ob es wohl erlaubt war, die Insel zu betreten? Sie würde sich bei Georg danach erkundigen, der ihre Fragen zu diesem kleinen Schwarzwaldtal stets höflich und ausführlich beantwortete.

      Die dumpfen Geräusche, die sie zuvor schon vernommen hatte, wurden lauter. Ob das Axtschläge waren? Gleich darauf hörte sie eine motorisierte Säge, allerdings verstummte diese schnell wieder. Lisa war froh darüber, genoss sie doch die angenehm sanfte Geräuschkulisse der Natur. Nun setzten erneut die Axthiebe ein. Gleichmäßig, fast monoton, hallten sie durch das Tal. Lisa fragte sich, ob sie demnächst auf Heinrich und Robert treffen würde?

      An einer Weggabelung zögerte sie und rief sich Georgs Wegbeschreibung ins Gedächtnis. Hatte er nicht gesagt, dass sie hier nach rechts gehen musste? Lisa erschien das unsinnig, denn sie wollte doch zum See hinunter, und der rechte Weg schien aufwärtszuführen. In der Annahme, sich das falsch gemerkt zu haben, nahm sie den linken Pfad, vorbei an zwei an einem Haselstrauch befestigten roten Stofffetzen, die an diesem windstillen Morgen traurig nach unten hingen.

      Der Weg wurde schmaler und zunehmend steil. Immer häufiger konnte sich Lisa nur noch halten, indem sie ihre Füße auf knorrige Wurzeln oder aus der Erde ragende Gesteinsbrocken stellte. Manchmal lösten sich Letztere unter ihrem Gewicht und sie rutschte ein wenig, fing sich aber stets wieder. Außerdem schien sie den Waldarbeitern näher zu kommen. Das schreckte sie aber nicht, immerhin kannte sie Robert und Heinrich. Sicher wäre es interessant, sie einmal bei der Arbeit zu beobachten.

      Lisa rutschte erneut aus und fing sich ab, indem sie den Stamm einer jungen Buche umarmte, die mitten auf dem Pfad wuchs. Sie war nur froh, dass ihr niemand dabei zusah. Leise kichernd löste sie sich von dem borkigen Gesellen und schrak zusammen. Ein lautes Rauschen erscholl. Über ihr krachte es, splitterte Holz. Aufgeschreckt wandte sie den Kopf. Die Krone einer gewaltigen Fichte raste auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich. Instinktiv kauerte sie nieder, als wollte sie mit den Wurzeln des Baumes vor sich verschmelzen.

      Begleitet von einem mächtigen Donnern kam der gefällte Baumstamm auf der Erde auf. Der Boden unter Lisas Füßen vibrierte. Äste schlugen auf sie ein, zerkratzten ihr den Nacken. Die Fichte schien gegen ihr Schicksal aufzubegehren, indem sie sich ein letztes Mal erhob, sodass die Äste Lisa erneut kratzten wie eine Furie. Dann fiel sie wieder zu Boden. Diesmal meinten die Zweige, Lisa entschuldigend streicheln zu müssen, die Nadeln dagegen stachen ihr in die Kopfhaut und den Nacken. Dort, wo sie ohnehin schon Schmerz verspürte.

      Endlich wurde die Welt um sie herum wieder still. Zwar trudelten noch immer Fichtennadeln der Erde entgegen, doch sie verursachten nicht mehr als ein leises Flüstern.

      „Verdammt! Da ist jemand!“, hörte sie eine fremde Männerstimme rufen. Sie klang erschrocken, ja nahezu panisch.

      „Hast du den nicht gesehen?“

      „Ich glaube, das ist eine Frau.“

      „Lebt sie noch?“

      „Wie konnte sie –?“

      Die aufgeregten Stimmen kamen näher, kurz darauf schauten vier bärtige, von der einstigen Sommersonne gebräunte Gesichter auf sie herunter. Sie wagte ein scheues Lächeln, brachte aber keinen Ton hervor. Zu tief saß der Schreck in ihr. Ja, ich lebe noch.

      „Was ist hier los?“ Diese durchdringende Stimme kannte Lisa. Sie gehörte Robert. Betroffen schloss sie die Augen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie unerkannt hätte verschwinden können. Immerhin war ja nichts passiert.

      „Eine Frau ist unter den fallenden Baum geraten“, klärte einer der Männer, die sich noch immer um sie versammelt hatten, den sich nähernden Robert auf.

      „Macht mal Platz.“

      Ein Scharren entstand um sie herum, sie vernahm das Brechen von Ästen und Zweigen, dann beugte sich ein großer Schatten über sie. „Fräulein Lisa?“

      „Mir geht es gut, wirklich“, beteuerte sie sofort.

      Ohne auf ihre Worte zu achten, wies Robert die Umstehenden an, schleunigst die größeren Äste zu entfernen, die Lisa gefangen hielten. Die Männer spurteten davon, um ihre Fuchsschwänze zu holen.

      „Haben Sie Schmerzen? Können Sie Ihre Beine und Arme bewegen?“

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