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und zutiefst verletzt.

      Ihre Großtante Camille hatte ihr beigebracht, ihre Gefühle nicht für sich zu behalten, sich ihnen nicht allein zu stellen, nicht zu versuchen, die Angriffe auf ihr Herz selbst abzuwehren. Bei der älteren Dame hatte es keine wohlformulierten Gebete gegeben, die irgendjemand einmal aufgeschrieben hatte und die man ablesen konnte. Camille hatte mit Gott geredet, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Immer dann, wenn etwas sie besonders aufgewühlt hatte, war sie dabei sogar richtiggehend laut geworden.

      Lisa löste langsam ihre zu Fäusten geballten Hände. Ihre Großtante hatte sich nie darüber lustig gemacht, dass Lisa mit Steinen sprach. Mit im Wind wispernden Bäumen und umherflatternden Schmetterlingen, mit dahinjagenden Wolken oder einem vor sich hin knatternden Auto. Einmal hatte Lisa einem verletzten Hund erklärt, dass es körperliche und seelische Schmerzen gab, und dass die körperlichen meist gut heilten, die seelischen jedoch blieben. Und wie sehr sie wehtaten! Camille hatte ihr „Gespräch“ mitangehört, Lisa über den Kopf gestreichelt und gesagt: „Gott hört dich.“

      Im Grunde hatte Camille Lisa das Leben gerettet, dessen war sie sich bewusst. Denn sie war ein verstörtes Kind gewesen; mit dem beginnenden Hang, sich selbst Leid zuzufügen. Erst sehr spät hatte Lisa durchschaut, dass ihre Großtante nicht nur in direkter Nachbarschaft des Klosters gewohnt, sondern einst als Nonne darin gelebt hatte. Camille hatte die Glaubensgemeinschaft jedoch der Liebe wegen wieder verlassen. Ihr Ehemann war nur vier Wochen nach der Trauung im Ersten Weltkrieg gefallen.

      Heute hatte Lisa ihre Gefühle und ihr Leben im Griff. Zumindest an den meisten Tagen. Sie hatte in den vergangenen zwei Jahren für einen älteren Herrn, der Werbeprospekte herstellte, gezeichnet und damit gutes Geld verdient. Doch manchmal warf das Leben noch immer mit Steinen nach ihr. So wie heute. Dann duckte sie sich, wollte sich instinktiv verkriechen. Oder die Steine aufheben und zurückwerfen. Selbstzerstörung und Wut waren keine gute Kombination, das war ihr durchaus bewusst.

      Der Brief eines Beamten aus dem bayrischen Füssen hatte sie aus der Bahn geworfen. Darin war sie über den Tod ihrer Mutter informiert worden – und Lisa hatte nichts empfunden.

      Sie schüttelte den Kopf und trat an das Fenster mit den sonnengelben Vorhängen. Das stimmte so nicht ganz. Sie hatte einfach nicht gewusst, was sie empfinden sollte. Vor allem, als es am Ende des Briefes geheißen hatte, dass ihre Patentante sie zu sehen wünsche, ja sie sogar einlade, bei ihr zu wohnen, bis ihre Zukunft geregelt sei.

      Lisa lehnte sich mit der Stirn an das aus dunklem Holz gefertigte Fensterkreuz. Natürlich hatte sie sich darüber gewundert, weshalb eine wildfremde Frau – angeblich ihre Patentante – meinte, sie müsste ihr helfen, ihr Leben zu organisieren. Und das nur, weil Gerda verstorben war. Immerhin hatte Lisa ihr Leben von Kindesbeinen an selbst regeln müssen. Trotzdem hatte sie Urlaub genommen. Weil sie neugierig war. Und weil das Interesse an ihrer Person ihre Seele streichelte. Der tief in ihr verwurzelte Wunsch, sich jemandem zugehörig zu fühlen, war dabei sicher ebenso treibend. Und nun das. Sie war gar nicht gemeint.

      Lisa hob den Kopf und betrachtete die ins Sonnenlicht getauchte Landschaft vor dem Fenster. Sie sah bewaldete Höhenzüge, in unterschiedliche Blautöne getaucht, die immer milchiger wurden, je weiter entfernt die Berge lagen. Dazu dunkle Nadelbäume, saftige Heuwiesen an gelegentlich mit grauen Felsbrocken gesprenkelten steilen Hängen, vereinzelt auch Laubbäume, die jetzt in ihren bunten Herbstfarben wirkten wie willkürlich aufgetragene Farbtupfer auf einer grünen Leinwand.

      Ihr Blick wanderte zu dem im Tal gelegenen See. Er präsentierte sich silberblau schillernd, wie mit glitzernden Diamanten bestreut und … Lisa öffnete einen der Fensterflügel und beugte sich weit hinaus. Die Form des Sees – oben spitz und leicht gebogen, dann zunehmend breiter und unten geschwungen bauchig – glich der eines Tropfens, wie Lisa ihn malte. Sogar der Lichtreflex, den sie daraufsetzte, war zu sehen – als ein dunkler Fleck auf der Wasseroberfläche. War das eine kleine Insel? Der See erinnerte sie … an eine Träne.

      Lisa besann sich und stellte sich wieder aufrecht hin, damit sie nicht aus dem Fenster stürzte. Sie hatte sich so weit beruhigt, dass sie eilig ihren Koffer auspackte, wobei ihr erstmals die interessante Mischung aus rustikalen Eichenholzmöbeln, Stoffen in warmen Sommerfarben und einer freundlichen hellgelben Tapete mit aufgedruckten weißen Ranken auffiel. Die Hausherrin hatte ein Händchen dafür, das alte Forsthaus hell und wohnlich zu gestalten, ohne dabei einem gerade angesagten, damit aber auch vergänglichen Einrichtungsideal nachzueifern.

      Nachdem Lisa ausgepackt hatte, stellte sie den Koffer neben die Tür. Es wirkte, als sei sie jederzeit bereit zur Flucht. Vielleicht war das auch gut so. Immerhin war sie nicht Trudi, die hier erwartet worden war. Sie war … die Falsche.

      Dennoch öffnete sie die Tür, trat hinaus in den Flur und ging zu der abgenutzten Holztreppe mit dem geschwungenen Treppengeländer, dessen gedrechselte Sprossen mit hübschen Ranken verziert waren. Sie stieg die ersten Stufen hinunter und verharrte auf dem Absatz, an dem die Treppe einen Knick machte. Die kräftige Stimme des Mannes, der sie abgeholt hatte und von dem sie nicht einmal den Namen wusste, drang zu ihr herauf. Er klang besorgt. Oder aufgebracht?

      In der gleichen Intensität, wie Charlotte Verständnis und Herzlichkeit ausgestrahlt hatte, als Lisa klar geworden war, dass sie eine kleine Schwester hatte, verströmte er Vorsicht und Misstrauen. Vielleicht sollte Lisa es ihm hoch anrechnen, dass er sie nicht einfach auf diesem abgeschiedenen Bahnhof hatte stehen lassen.

      „Du bist zu leichtgläubig, Mama, und das weißt du auch“, hörte sie ihn prompt poltern. „Denk an Liechtenstein.“

      „Der zuständige Beamte hat mir nie einen Namen genannt, immer nur von dem Kind der Verstorbenen gesprochen. Ich weiß doch auch nicht, warum Gerda mir nichts von Lisa erzählt hat. Oder wo Trudi sein könnte, denn eigentlich wäre es für den Anwalt ja viel einfacher gewesen, das jüngere Mädchen ausfindig zu machen, das bei Gerda gewohnt hat.“ Charlotte schwieg einen Moment, ehe sie nachdenklich hinzufügte: „Davon gehe ich zumindest aus.“

      Lisa hörte den jungen Mann etwas brummen und konnte seine Reaktion durchaus nachvollziehen. Denn sie in Frankreich zu benachrichtigen, war eindeutig aufwendiger gewesen, als ein Mädchen zu informieren, das nach dem Tod der Mutter womöglich von Nachbarn aufgenommen oder in ein Heim gesteckt worden war. Oder hieß das etwa, dass Trudi ebenfalls nicht bei Gerda gewohnt hatte?

      „Du glaubst ihr also?“ Wieder war der misstrauische Unterton in der tiefen Stimme zu hören. Lisa umgriff das hölzerne Treppengeländer noch fester. Mit Ablehnung kam sie einfach nicht klar. Die Kälte, die ihr seit der Fahrt in den Knochen steckte, weitete sich auf ihr Herz aus.

      „Natürlich glaube ich ihr. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen, die sind vermutlich ein Erbe ihres Vaters.“

      „Und was machen wir jetzt mir ihr?“

      „Das ist nicht unsere Entscheidung, Robert, sondern ihre.“

      Lisa neigte leicht den Kopf. Der misstrauische Brummbär hieß also Robert.

      „Ich gehe davon aus, dass sie ein eigenes Leben führt. Vermutlich hat sie ein paar Tage Urlaub genommen, um hierherzukommen. Den darf sie natürlich gern bei uns verbringen. Und da ich vorhabe, nach Trudi forschen zu lassen, möchte sie vielleicht dabei sein, wenn wir sie gefunden haben, um dann ihre Schwester kennenzulernen.“

      „Was für eine seltsame Familie.“

      Lisa presste die Lippen zusammen. Hörte sie da bei Robert tatsächlich Mitgefühl heraus?

      „Gerda war schon als Kind unglaublich freiheitsliebend. Ihr Elternhaus war … schwierig.“ Jetzt klang auch Charlotte mitfühlend. „Sie war eine wilde, rebellische Jugendliche und dem noch nicht entwachsen, als ich deinen Vater kennenlernte, ihn heiratete und mit ihm hierherzog. Danach hielten wir nur noch sporadisch Briefkontakt, was sicher der Grund ist, warum ich nichts von Gerdas älterer Tochter wusste. Weshalb sie mich dann viele Jahre später als Patentante für Trudi auserkoren hat, erschließt sich mir bis heute nicht. Aber ich habe mich damals sehr über diesen Vertrauensbeweis gefreut und gehofft, fortan wieder mehr Kontakt zu ihr zu haben. Das war allerdings ein Trugschluss. Ich habe Trudi zum Geburtstag,

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