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Winterleuchten am Liliensee. Elisabeth Büchle
Читать онлайн.Название Winterleuchten am Liliensee
Год выпуска 0
isbn 9783961224456
Автор произведения Elisabeth Büchle
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die seltsam anmutende Eigenart, sich mit allem Möglichen und Unmöglichen zu unterhalten, hatte sich Lisa bereits im Kindesalter angeeignet. Sie war oft einsam gewesen, da war es von Vorteil, solche Gesprächspartner zu haben. Auch wenn die meist sehr verschwiegen waren – was manchmal durchaus praktisch war.
Da die Novembersonne nicht sonderlich wärmte und sie keine Ahnung hatte, was sie jetzt tun sollte, knöpfte Lisa den Mantel über ihrem A-Linien-Kleid zu. Sie setzte sich auf den Koffer und ließ ihren Blick über die Schienen zu dem wuchernden Buschwerk gegenüber des Bahnhofgebäudes gleiten, weiter zu herbstlich verfärbtem Gehölz und schließlich hinauf zu den Bergen, die von im Wind schwankenden Bäumen bevölkert waren. Ein Bussard flog über den Taleinschnitt, und im Gebüsch neben ihr raschelte es. Lisa vermutete, dass eine neugierige Maus die seltsame Erscheinung vor ihrem Zuhause begutachten wollte. Wäre Lisa nicht völlig allein auf diesem verwaisten, ihr fremden Bahnhofsgelände, würde sie sich sicher an der guten Luft erfreuen, an der Stille und den hübschen Herbstfarben. So fühlte sie sich eher … verlassen. Wieder einmal.
„So sieht man aus, wenn man noch Urlaub übrig hat und meint, seiner Neugierde folgen zu müssen“, erklärte Lisa dem Nager in seinem Versteck. Und wenn man die Sehnsucht nach einem Zuhause in sich trägt und dieses dann seltsamerweise von einer Fremden angeboten bekommt.
Lisa ignorierte den ziehenden Schmerz in ihrer Herzgegend. Sie hatte Gerda – ihre Mutter – nicht erst jetzt verloren, sondern bereits vor vielen Jahren. Ihre Mutter hatte es nie lange mit einem Mann ausgehalten, einigen ihrer Verehrer war Lisa lästig gefallen. Nun war Gerda gestorben, was anscheinend eine Freundin von ihr auf den Plan gerufen hatte.
Lisas linker Mundwinkel zuckte. Offenbar war diese Bekannte ebenso unzuverlässig, wie ihre Mutter es zeitlebens gewesen war. Wenn die Frau es nicht einmal für nötig hielt, sie abzuholen …
Sie zog den Mantelkragen enger um ihren Hals. Inzwischen fror sie. Vielleicht wäre es besser, sich auf den Weg in den Stadtkern von Schiltach zu begeben, bevor sie hier festfror. Ergeben erhob sich Lisa.
Im selben Moment hörte sie ein Motorgeräusch. Sie neigte leicht den Kopf und war sich sicher, dass es sich ihr näherte. Also wartete sie ab und sah bald darauf ein Fahrzeug mit offenem Verdeck, das an einen Militärjeep erinnerte, aber Türen und eine kleine Ladefläche hatte, um eine Kurve biegen. Es verschwand kurz hinter Buschwerk und einigen Laubbäumen mit gold verfärbten Blättern, ehe es wieder in Sicht kam und nur wenig später quietschend vor ihr stoppte. Ein groß gewachsener, breitschultriger Mann in einer Art Uniform sprang heraus und sah sich suchend um, wobei sein Blick Lisa lediglich streifte, als sei sie gänzlich uninteressant für ihn. Schließlich fuhr er sich mit beiden Händen durch das dunkelblonde Haar.
Enttäuscht wandte Lisa sich ab. Ihre Hoffnung, endlich abgeholt zu werden, war dahin. Wobei sie zugeben musste, dass der stattliche Mann nur wenig Ähnlichkeit mit einer Frau hatte, die eine Freundin von Gerda gewesen sein sollte.
„Entschuldigen Sie bitte, Fräulein.“ Seine Stimme war sehr tief und klang besorgt. Lisa drehte sich um und hob fragend die Augenbrauen. Es war ihr unangenehm, mit einem wildfremden Mann allein auf diesem abgelegenen Bahnhof zu sein.
„Sind Sie vorhin aus dem Zug gestiegen?“
Ihr lag die Frage auf der Zunge, ob er annehme, sie sei vom Himmel gefallen, das unruhige Flackern in seinen blauen Augen hielt sie jedoch davon ab. „Ja, das bin ich.“
„Haben Sie ein sechsjähriges Mädchen und dessen Begleitung gesehen? Die beiden müssten mit Ihnen hier angekommen sein.“
„Tut mir leid, ich war die einzige Reisende, die sich getraut hat, hier auszusteigen.“ Mit einer Handbewegung erfasste sie das einsame Gebäude, die Schienen und die Bäume in ihrer unmittelbaren Nähe.
Der Mann runzelte die Stirn und besah sich dann die bewaldeten Berge, als überlege er, ob das Kind dort hinaufgestiegen sein könnte. Sein Blick glitt zurück zu ihr, wanderte über ihren Mantel, der dem gängigen französischen Chic entsprach, und hinunter bis zu ihren silbernen Ballerinas. „Danke“, murmelte er und öffnete dieses Mal die Tür, um einzusteigen.
Offenbar hatte das Fehlen des kleinen Mädchens ihm einiges an Energie aus dem Körper gezogen. Ob sie seine Tochter war? Lisa schüttelte den Kopf. Dafür schien er viel zu jung zu sein.
Der Motor sprang knatternd an, verstummte aber gleich darauf wieder. Lisa sah zu, wie der Mann den rechten Arm auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes legte und sich leicht zu ihr hinüberbeugte. „Werden Sie denn abgeholt?“
„Ich bin davon ausgegangen. Allerdings –“ Sie zuckte vielsagend mit den Schultern.
„Wenn Sie möchten, nehme ich Sie ein Stück mit. Ich muss ohnehin nach Schiltach oder kann auch einen Umweg fahren, falls sie woanders hinwollen.“
Lisa biss sich auf die Unterlippe. Durfte sie das freundlich klingende Angebot annehmen? Sie könnte durchaus zu Fuß gehen, zumindest bis ins Zentrum der kleinen Schwarzwaldstadt – wo auch immer das lag, denn von hier aus konnte sie nur die Dächer von zwei weiteren Häusern sehen. Dort könnte sie sich nach einer Busverbindung in Richtung Vierbrücken erkundigen. Allerdings war ihr Koffer unangenehm schwer.
„Wo müssen Sie denn hin?“, erkundigte sich der Mann nicht mehr ganz so freundlich, wohl weil ihr anhaltendes Zögern ihn ungeduldig werden ließ.
Lisa kramte den Zettel mit der Adresse hervor, die sie aus Füssen übermittelt bekommen hatte. Sie beugte sich über die Beifahrertür und reichte ihn dem Fremden. Der warf einen Blick darauf und schaute sie dann mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen an. Unwillkürlich trat Lisa einen Schritt zurück. Was stimmte mit der Adresse nicht? Verbarg sich dahinter etwa ein Freudenhaus? Ein Friedhof?
„Sie wollen zu uns?“
„Zu … Ihnen?“ Lisa riss die Augen auf. „Sie sehen aber nicht wie eine Frau namens Charlotte aus.“
„Ich bin auch nicht Charlotte. Aber ihr Sohn.“
„Dann werde ich ja doch abgeholt!“
„Falsch. Ich soll ein sechsjähriges Mädchen namens Trudi abholen. Heißen Sie Trudi?“
„Nein. Lisa. Und sechs bin ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr.“
Sein Blick glitt an ihr entlang, von ihrem Gesicht bis zu ihren Füßen und wieder zurück. Es lag allerdings nichts Anzügliches darin, eher etwas Neugieriges. Und Bewunderndes?
„Das verstehe ich nicht“, verriet er leise.
„Ich auch nicht“, stimmte sie ihm zu.
„Sie sind die Tochter der Freundin meiner Mutter? Gerda Schwaiger?“
Lisa nickte. Ihre Mutter war demnach unverheiratet gestorben. Offenbar hatte sie bis zu ihrem Tod das Leben auf ihre unverbindliche Art ausgekostet.
Der Mann stieg wieder aus, packte ihren mit Stoff bezogenen grauen Koffer, als wäre er lediglich mit Federn gefüllt, und legte ihn auf die freie Fläche hinter den Sitzen, ehe er ihr die Beifahrertür öffnete.
Noch immer zögernd kletterte Lisa in den Wagen. Wenn das mal kein Fehler ist … Sie beruhigte sich damit, dass der Fremde den Namen ihrer Mutter gewusst hatte. Dies war doch Beweis genug, dass er sie zu der Frau bringen würde, die darauf gedrungen hatte, sie kennenzulernen, oder nicht?
Kapitel 2
Robert steuerte den Jeep über die enge, in Serpentinen den Berg hinaufführende Straße und warf dabei immer wieder einen Blick auf seine schweigsame Beifahrerin, die unübersehbar fror. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wie das Patenkind seiner Mutter rund fünfzehn Jahre hatte überspringen können und weshalb es sich einen anderen Vornamen zugelegt hatte. Allerdings war die junge Frau hübsch anzusehen, mit ihrem im Fahrtwind wehenden hellen Haar, den ebenmäßigen Gesichtszügen, der kleinen geraden Nase und dem zauberhaften Schmollmund. Sie besaß an den richtigen Stellen Rundungen, und wenn sie sprach, klang das hinreißend, mischte sich in ihr Deutsch doch ein leichter bayrischer, vorrangig aber ein französischer