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und durch die der Fluss sprudelte, der den See speiste. Seit das kleine Hotel am See eröffnet worden war und Roberts Bruder Georg den Campingplatz baute, waren einige Bewohner von Vierbrücken nicht mehr so gut auf die Leute vom Liliensee zu sprechen, weil diese, so behaupteten sie, ihnen die Touristen wegnahmen.

      Sie passierten eine der Brücken im Dorf und gelangten schließlich über die ebenfalls kurvige Straße des nächsten, jedoch deutlich niedrigeren Berges ins benachbarte Tal. Auf dieser natürlichen Grenze zwischen Vierbrücken und dem Liliensee stand das Forsthaus der Familie Vogel, allerdings auf der dem See zugewandten Seite.

      Die Novembersonne brachte die Wasseroberfläche zum Glitzern, als hätte des Nachts jemand die Sterne vom Himmel gepflückt und sie auf den See gestreut. Die Wolken zogen träge dahin, ihre Spiegelbilder auf dem Gewässer taten es ihnen gleich.

      Roberts Passagier beugte sich weit vornüber und betrachtete lächelnd das Blau, das, umschmeichelt von den vielfältigen Grüntönen der Vegetation, zu ihnen heraufleuchtete. Die wenigen Häuser am breiteren Ende des Sees wirkten, als hätte ein Kind beim Aufräumen ein paar seiner Holzklötze vergessen. Das älteste Gebäude zählte nicht mehr als sieben Jahre. Das Forsthaus, das aus rustikalen Holzbalken und grauem Stein erbaut worden war, thronte bereits seit einigen Jahrzehnten oberhalb des Sees. Allerdings hatte Georg inzwischen das Reet des tief gezogenen Walmdaches durch pflegeleichtere Schindeln ersetzt.

      Robert bog in die Auffahrt zu seinem Zuhause ein. Für einen Moment verdeckten hohe Fichten den Blick ins Tal, doch vor dem Forsthaus gaben sie erneut den Blick auf den See frei. Das Fachwerkhaus thronte auf einer Ebene, die jenseits der großen Holzterrasse steil abfiel. Die Terrasse war durch ein leicht abfallendes Dach geschützt, das von schlanken Holzsäulen getragen wurde, die sich harmonisch in das Gesamtbild einfügten. Dieser Vorbau war das Zimmermanns-Meisterstück von Georg.

      Robert fuhr am Anbau vorbei auf die dem Hang zugewandte Seite und in den U-förmigen Innenhof. Als er den Motor ausschaltete, kam bereits Artemis, die braune Labrador Retriever-Hündin seines Vaters, angerannt, im Hintergrund, dort, wo die kleine Streuobstwiese lag, vernahm er das Gegacker der Hühner.

      „Hier wohnen Sie also?“ Faszination lag in Lisas Stimme, die zuerst die große Holzterrasse und den Blick auf den See bewundert hatte und nun das zweistöckige Gebäude mit den grünen Fensterläden und der einladend offen stehenden zweiflügeligen Tür bestaunte.

      Robert wandte sich um und schaute die junge Frau prüfend an, die ihren Blick lächelnd über die bewaldeten Höhenzüge und die herbstlichen Wiesen wandern ließ. Ihre Begeisterung stimmte ihn misstrauisch. Er fragte sich, seit er ihren Koffer in den Jeep gehoben hatte, wer diese Person war und was sie dazu veranlasst hatte hierherzureisen. Die kleine Trudi war diese Erscheinung, die aussah, als wäre sie einem Modemagazin entsprungen, jedenfalls nicht.

      Ob sie sich einfach nur irgendwelche Vorteile von seiner Mutter erhoffte? Wie aber sollte sie davon erfahren haben, dass Charlotte sich um die Tochter ihrer verstorbenen Freundin bemühte? Und wie wollte sie erklären, dass sie – und nicht das kleine Mädchen, das Charlotte vor sechs Jahren über das Taufbecken gehalten hatte – einen Anspruch auf … ja, auf was hatte? Auf die Zuneigung seiner Mutter?

      Robert stieg aus und fing gerade noch Ellen auf, die herbeigelaufen kam und über eine der sich über den Parkplatz windenden Baumwurzeln stolperte. Seine einundzwanzigjährige Cousine trug sogar jetzt im Winter eine dieser Hosen, die an den Waden endeten und die sie so „vorzüglich“ fand. Dazu einen Wollpullover, in dem sie beinahe ertrank.

      „Langsam mit den jungen Kiefern“, murmelte er.

      „Es heißt Pferden“, korrigierte Ellen ihn prompt.

      „Kürzlich hast du mich geschimpft, weil ich dich ein wildes Fohlen genannt habe. Du wolltest nicht mit einem Tier verglichen werden, erinnerst du dich?“

      „Grundsätzlich stimmt das. Aber deshalb –“ Sie winkte ab und warf einen irritierten Blick auf die etwa gleichaltrige Frau im Wagen. Artemis saß vor der Beifahrertür und schaute den Neuankömmling nicht weniger neugierig an.

      „Wen bringst du denn da? Kannst du eine Sechsjährige nicht von einer erwachsenen Frau unterscheiden? Bring sie schleunigst zurück und hol das Kind, ehe es verloren geht!“

      Robert grinste und ergriff Lisas Koffer. Ellen wandte sich der Eingangstür zu und rief laut: „Tante Lotti, du hättest nicht immer auf eine Schwiegertochter drängen sollen.“ Ihre zwei geflochtenen rotblonden Zöpfe wippten nicht weniger spöttisch auf Ellens Schultern, als diese klang, während sie fortfuhr: „Jetzt hat Robert einfach eine wildfremde Frau –“

      Robert schaute Ellen so böse an, dass sie verstummte. Inzwischen war Lisa ausgestiegen, hatte der erstaunlich zahmen Artemis den Kopf getätschelt und gesellte sich nun zu ihnen. Neben der stämmigen Ellen in ihrem nachlässigen Aufzug und den derben Wanderschuhen wirkte sie wie ein zartes Reh, wobei sie längst nicht so mager aussah wie jenes britische Model, das weithin als Twiggy bekannt war. Das Braun von Lisas Augen passte jedenfalls perfekt zu Roberts Fantasie mit dem Reh.

      Charlotte trat in die Tür, stutzte kurz und kam dann über den weißen Kies herbeigeeilt, während sie ihre Hände an einem Handtuch abtrocknete. Vermutlich hatte sie gerade eines der sonst leer stehenden Zimmer auf Hochglanz poliert. „Charlotte Vogel“, stellte sie sich vor und reichte der Fremden die Rechte.

      „Lisa Schwaiger. Und ich habe keine Ahnung, warum hier alle annehmen, dass ich sechs Jahre alt sein und Trudi heißen müsste.“

      „Weil meine Freundin Gerda Schwaiger eine sechsjährige Tochter namens Trudi hinterlassen hat, deren Patentante ich bin“, klärte Charlotte sie sachlich auf. „Ich habe mich darum bemüht, dass Trudi zu uns ziehen kann, und heute sollte sie hier ankommen.“

      Robert sah seine Mutter bewundernd an. Sie war, obwohl sie ihm und seinen Brüdern oft den albernsten Schabernack glaubte, in der Lage, diese verworrene Geschichte deutlich besser auf den Punkt zu bringen, als er das hätte tun können. Aber ob sie die junge Frau auch durchschaute?

      Lisa war blass geworden und taumelte einen Schritt zurück. Mit einer Hand hielt sie sich am Jeep fest und schien einen Augenblick lang um Atem zu ringen. Sie zitterte, aber das hatte sie während der Fahrt auch schon getan. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, waren ihre Worte kaum zu verstehen, so tonlos brachte sie sie hervor. „Ich habe eine kleine Schwester?“

      Robert starrte sie verdutzt an. Wie konnte jemand nichts von seiner Schwester wissen? Seine Mutter jedoch schnappte nach Luft, trat dann vor und schloss die Fremde auf ihre bewährt mütterliche Art fest in die Arme. Robert hob die Augenbrauen. Manchmal verstand Charlotte eindeutig schneller als er, was Sache war, und in diesen Momenten fühlte er sich immer seltsam alt.

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      Lisa war Charlotte unendlich dankbar dafür, dass sie sie sogleich in das Zimmer geführt hatte, das sie eigentlich für Trudi vorbereitet hatte. Für … ihre Schwester?

      Kaum dass die freundliche Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Lisa ihren Koffer einfach fallen. Polternd kam er auf dem dunklen Holzboden auf, kippte und fiel auf den hübschen orangefarbenen Teppich, der vor dem rustikalen Bett lag. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wut flammte in ihr auf, raste wie ein Sturmwind durch ihre Adern und ließ kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn entstehen. Ihre Mutter hatte nach ihr noch eine Tochter zur Welt gebracht?!

      Bitter lachte Lisa auf. Gerda war nie der mütterliche Typ Frau gewesen; Lisa war praktisch ohne Mutter aufgewachsen. War das bei Trudi anders gewesen? Hatte sie Gerdas Mutterinstinkte geweckt, weil sie braver gewesen war? War dieses andere Mädchen geliebt worden?

      Lisa wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Dem Zorn nachgeben, der in ihr schwelte? Dem altbekannten Gefühl, falsch oder gar wertlos zu sein? Oder sollte sie vielmehr eifersüchtig auf eine Schwester sein, die bei ihrer Mutter hatte aufwachsen dürfen? Vielleicht aber musste sie das Mädchen dafür eher bemitleiden.

      Minutenlang stand Lisa einfach nur da, atmete unruhig und versuchte, sich wieder zu

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