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Einige bezweifelten sogar Anas Loyalität und stellten die Frage, ob man ihr überhaupt noch vertrauen könnte. Sid brachte sie alle erneut zum Schweigen.

      »Du kanntest die Gefahren, als ich dich für unsere Sache gewonnen habe«, sagte er. »Du wusstest, dass das Endspiel irgendwann kommen würde. Du hast deiner Aufgabe zugestimmt … deiner für uns überlebenswichtigen Aufgabe. Nichts davon kam überraschend.«

      »Ja, du hast recht.« Sie blickte auf die Karte hinab und verfolgte ausdruckslos die farbigen Linien. »Ich bin auch nicht überrascht. Ich habe einfach nur Angst.« Sie blickte auf und Tränen rannen ihr über das Gesicht.

      Als Ana sich bereit erklärt hatte mitzumachen, hatte sie noch keinen Grund gehabt, den Tod zu fürchten, denn da war sie noch keine Mutter gewesen. Doch jetzt hatte sie eine neun Monate alte Tochter. Was würde aus ihrem Kind werden, wenn sie starb? Wer würde sie großziehen? Was für eine Frau würde aus ihrer Tochter werden, falls sie überhaupt überlebte?

      Nancy sprach leise. »Wir alle haben Angst, Ana, aber ich habe mehr Angst davor, was mit uns passieren wird, wenn wir nichts tun. Unsere Zukunft ist vielleicht ungewiss, wenn wir handeln, aber unsere Zukunft ist sehr düster, wenn wir es nicht tun.«

      Ana schluckte und spürte einen dicken Knoten in ihrem Hals. Nancy hatte recht und auch Sid hatte recht. Sie mussten handeln. Sie mussten kämpfen. Sie mussten das Kartell besiegen.

      

      Kapitel 4

      

       25. Oktober 2037, 8:02 Uhr

       Jahr fünf nach dem Ausbruch

       Lubbock, Texas

      General Roof saß auf der Bettkante und starrte aus dem großen Panoramafenster seines derzeitigen Zuhauses. Es zeigte nach Osten und jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, riss ihn das hellorange Licht, das sein Zimmer erfüllte, aus dem Schlaf.

      Heute Morgen jedoch hatte er auf die Sonne gewartet, denn seit seinem Telefonat mit Pierce hatte er nicht mehr schlafen können. Der Spion hatte ihm wertvolle Informationen geliefert, die er seitdem immer wieder in seinem Kopf abspielte, als würde er Schafe zählen, die über einen Zaun springen. Es hätte ihm helfen sollen, sich zu entspannen und die dringend benötigte Ruhe zu finden.

      Doch stattdessen musste er an den Mann denken, den Pierce getötet hatte. Es war ein bedauerlicher Fehler gewesen, der Pierces Untergang bedeuten würde. Der Anruf über Satellit war wahrscheinlich sein letztes Lebenszeichen gewesen. Die Dweller waren nicht dumm. Sie würden eins und eins zusammenzählen und Pierce anschließend auf die eine oder andere Weise ein ungemütliches Ende bereiten.

      Roof rieb sich die Augen und setzte die Füße langsam auf den kalten Betonboden. Vorsichtig belastete er sein krankes Bein und spürte sofort den dumpfen, vertrauten Schmerz, der ihn so ungelenk hinken ließ. Aufmerksam verglich er seine beiden Beine. Das eine war muskulös und gesund. Es war behaart, so wie es das Bein eines Mannes sein sollte, und die Haut war von gleichmäßiger Farbe. Das andere war deutlich dünner und sah schon äußerlich krank aus. Unterhalb des Knies waren große rosafarbene Flecken, so leuchtend und unbehaart wie die Füße eines Neugeborenen. Die Flecken transplantierter Haut, die nun für immer sein Bein schmückten, sahen aus wie eine Ansammlung ehemaliger Sowjetstaaten.

      Es verging kein Tag, an dem Roof nicht daran zurückdachte, wie sein Bein verstümmelt worden war. Wie in Technicolor hatte es sein Gedächtnis für immer gespeichert. Jener Tag hatte sich als der Tag herausgestellt, der sein Leben am nachhaltigsten bestimmen sollte. Einer seiner Kameraden hatte sich geopfert und sein eigenes Leben für ihn riskiert. Die Selbstlosigkeit dieses Handelns hätte Roof nach seiner Rückkehr aus Syrien eigentlich auf einen anderen Weg bringen müssen. Er hätte seine Schulden gegenüber dem Schicksal zurückzahlen und anderen dabei helfen sollen, zu überleben. Doch stattdessen hatte ihn das Schuldgefühl verzehrt. Er konnte es an keiner passenden Stelle in sein Leben einsortieren, dass ausgerechnet er die selbst gebaute Bombe und den Hinterhalt, in dem vier Männer getötet worden waren, überlebt hatte. Roof, der schon zuvor über weite Strecken seines Erwachsenenlebens Drogen und Alkohol konsumiert hatte, war daraufhin kopfüber in die Sucht getaucht. Immer wieder war er in Veteranen-Krankenhäusern und Obdachlosenunterkünften gewesen, und immer wieder war er aus ihnen geflohen.

      Letzten Endes war er in Houston gelandet und hatte dort Hilfe in einem Heim gefunden, in dem sie Existenzen wie ihn wieder zu normalen Menschen machen wollten. Sie hatten ihm geholfen, von den Drogen und dem Alkohol loszukommen, ihm kaufmännische Fähigkeiten beigebracht und ihn mit neuem Selbstvertrauen auf den Weg geschickt.

      Leider hatte sich herausgestellt, dass ein humpelnder, abstinenter Drogen- und Alkoholabhängiger nicht sonderlich weit oben auf der Wunschliste personalsuchender Arbeitgeber stand. Also hatte Roof dort gearbeitet, wo er Arbeit gefunden hatte, und war so irgendwann in die kriminelle Unterwelt von Bayou City abgerutscht. Er hatte mit Drogen und Frauen gehandelt und sich schnell einen Namen als skrupelloser Lieferant von illegalen Waren und minderjährigem Fleisch gemacht. Rasch war er in der Stadt, die als Highway für den illegalen Handel von Lateinamerika in die Vereinigten Staaten bekannt war, an die Spitze aufgestiegen.

      Seine Hundemarke vom Militär hatte er stets gut sichtbar über seinen hautengen T-Shirts getragen, was ihm schließlich den Kampfnamen General eingebracht hatte. Seine Vorliebe, ahnungslose Frauen unter Drogen zu setzen, und sein wirklicher Vorname Rufus hatten einige dazu gebracht, ihn schließlich Roofie zu nennen. Er hatte den Namen gekürzt, die beiden Spitznamen kombiniert und schließlich bestimmt, dass er von nun an mit General Roof anzureden war. Seine Lebenskraft wuchs und der sich um ihn herum entwickelnde Personenkult zog ihn unwiderstehlich in seinen Bann.

      Der Ausbruch der Seuche war schließlich seine Befreiung gewesen. Er war aus den Schatten aufgetaucht, hatte sich mit früheren Konkurrenten zusammengetan und nach monatelanger Arbeit unterschiedliche Banden zu einem Kartell geformt. Er hatte zugestimmt, die Macht mit zwei anderen Männern zu teilen, aber sie wussten genau, dass er der Mächtigste des Triumvirats war. Er war so furchtlos wie Pablo Emilio Escobar Gaviria und Jorge Luis Ochoa Vásquez, die beiden Männer, die ein halbes Jahrhundert zuvor das Medellín-Kartell gegründet hatten, und er hatte sich schnell den Ruf erarbeitet, ebenso rücksichtslos zu sein wie die aus El Salvador stammende Mara-Salvatrucha-Bande, die in den frühen Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts Mittelamerika verwüstet und sich bis in den Südwesten der Vereinigten Staaten verbreitet hatte.

      Durch rohe Gewalt und schieren Willen hatte sich General Roof bei einem Treffen mit den Bossen der Sureños, dem Sinaloa-Kartell, dem Golfkartell, der Familia Michoacana, der mexikanischen Mafia, der Yakuza und Los Zetas durchgesetzt. Es hatte dabei nicht geschadet, dass seine Mutter aus Panama stammte und Spanisch daher seine zweite Muttersprache war.

      So mächtig sie auch geworden waren, so sehr sie die überlebende Bevölkerung durch Angst und Terror beherrschten, und trotz der Tatsache, dass sie die Regierung aus ihrem neuen Territorium vertrieben hatten – Roof beschlich immer wieder das eigenartige Gefühl, minderwertig zu sein. Vielleicht lag es an der ständigen Mahnung, die ihm seine äußeren Wunden jeden Morgen bescherten. Vielleicht waren es auch eher die inneren Verletzungen, allen voran die Wahrheit, dass ein besserer Mann als er sein Leben gerettet und er dennoch beschlossen hatte, dieses Geschenk auf dem einfacheren, dunkleren Weg zu verschwenden.

      Er rieb sich mit den Handflächen die Oberschenkel und zwang sich, aufzustehen. Roof balancierte einen Moment auf den Fersen, bevor er sein Gewicht komplett auf die Zehenspitzen verlagerte. Er trat ans Fenster. Über dem flachen Horizont des südlichen Endes des Llano Estacado ging gerade die Sonne auf. Er biss sich auf die Unterlippe und dachte darüber nach, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Marcus Battle am Leben zu lassen. Gegenüber dem Kobold auf seiner Schulter konnte er es ja ruhig zugeben. Er hatte es in einem Moment der Schwäche getan. Er hatte es als eine Art Ausgleich betrachtet. Er verschonte ein Leben, weil ein anderes gerettet worden war. Aber darüber hinaus war es wahrscheinlich ein fataler Fehler gewesen.

      Denn

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