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die Byzantiner ihre Stellung wieder zu festigen suchten und sich neuen Bedrohungen aus dem Westen ausgesetzt sahen, kehrten sie abermals dem islamischen Anatolien den Rücken zu, hatten dafür aber einen stetig steigenden Preis zu bezahlen.

      Anatolien wurde weiterhin durch massive Bevölkerungswanderungen im Osten erschüttert. Zwei Jahre nach der Plünderung Konstantinopels gelang es dem Stammesführer Temuchin, die sich bekriegenden Nomadenstämme der inneren Mongolei zu vereinigen, worauf er den Titel Dschingis Khan annahm – Herrscher der Welt. Die langhaarigen, den Himmel anbetenden Mongolen brachen mit erschreckender Heftigkeit über die islamische Welt herein. Als Persien im Chaos versank, schwappte eine weitere Welle von Vertriebenen westwärts nach Anatolien. Der Kontinent wurde zum Schmelztiegel unterschiedlichster Völker, von Griechen, Türken, Iranern, Armeniern, Afghanen und Georgiern. Nachdem die Mongolen 1243 das stabilste Staatsgebilde in der Region, jenes der Rum-Seldschuken, unterworfen hatten, zerfiel Anatolien in ein Mosaik kleiner Königreiche. Die umherwandernden Turkvölker konnten nun nicht mehr weiter nach Westen ziehen; es gab keine ungläubigen Nachbarn mehr, deren Unterwerfung der Islam unter Berufung auf den Koran anstreben konnte. Als sie das Meer erreichten, verschafften sich manche von ihnen Schiffe und plünderten byzantinische Küstenregionen. Andere bekämpften sich gegenseitig. Anatolien war ein von Chaos geprägtes, zersplittertes und gefährliches Gebiet – ein wilder Westen, in dem sich Räuber, Plünderer und religiöse Visionäre tummelten, die von einer explosiven Verbindung aus mystischem Sufismus und orthodoxem sunnitischen Glauben beflügelt wurden. Die Turkmenen legten weiterhin lange Entfernungen zurück in ihren üppig bestickten Sätteln auf ihren Raubzügen in der Gazi-Tradition, aber jetzt gab es nur noch ein kleines unbedeutendes Reich, das des Stammes Osman, das noch an das gottlose Byzanz im Nordwesten Anatoliens angrenzte.

      Die genaue Herkunft dieses Volkes, das wir heute Osmanen nennen, ist nicht bekannt. Sie gingen etwa um 1280 aus den umherziehenden Turkmenen hervor, eine Sippe ungebildeter Krieger, die zwischen Zelten und Holzfeuern lebten, aus dem Sattel herrschten und mit einem Daumenabdruck unterschrieben und deren Geschichte nachträglich von imperialen Mythenbildnern rekonstruiert wurde. Der Legende zufolge soll Osman schon von Anfang an für Großes auserwählt worden sein. Eines Nachts hatte er einen Traum, in dem er Konstantinopel sah, »das an der Verbindung zwischen zwei Meeren und zwei Kontinenten lag und aussah wie ein Diamant zwischen zwei Saphiren und zwei Smaragden und daher den Edelstein im Ring eines riesigen Reiches zu bilden schien, das die gesamte Welt umfasste«.14 Osman zog sich den Mantel der Gazis an, denen sein Stamm nacheifern sollte. Durch Glück und Reaktionsschnelligkeit gleichermaßen entwickelte sich das Herrschaftsgebiet Osmans aus einem winzigen Fürstentum zu jener Weltmacht, von der er geträumt hatte.

      Das Reich Osmans im Nordwesten Anatoliens grenzte unmittelbar an den byzantinischen Verteidigungsring, der Konstantinopel schützte. Da es hier Land von Ungläubigen gab, das noch nicht erobert war, fühlten sich Gazis, Abenteurer und landhungrige Flüchtlinge angezogen, die unter Osmans Befehl ihr Glück versuchen wollten. Osman herrschte als Stammesführer in enger Verbindung mit seinem Volk. Zugleich bot sich den Osmanen hier die einzigartige Gelegenheit, den benachbarten byzantinischen Staat zu studieren und dessen Strukturen nachzubilden. Der Stamm lernte buchstäblich »in Windeseile« und übernahm außergewöhnlich schnell Technologien, Zeremonielle und Taktiken. Im Jahr 1302 errang Osman einen ersten Sieg über die Byzantiner, der sein Ansehen mehrte und den Zulauf von Kämpfern verstärkte. Bei weiteren Attacken gegen die zerfallenden Verteidigungseinrichtungen des Reiches gelang es ihm, die Stadt Brusa abzuschneiden; da er jedoch nicht über wirksame Belagerungstechnik verfügte, dauerte es sieben Jahre, bis sein Sohn Orhan die Stadt schließlich 1326 einnehmen und zur Hauptstadt seines kleinen Reiches erklären konnte. Im Jahr 1329 besiegte Orhan Kaiser Andronikos III. bei Pelekanos, und danach konnten die Byzantiner ihre verbliebenen Städte in Anatolien nicht mehr sichern. Diese fielen nun schnell nacheinander: 1331 Nikäa, 1337 Nikomedia und im folgenden Jahr Skutari. Die muslimischen Krieger konnten mit ihren Pferden jetzt über eigenes Land zum Meer reiten und über den Bosporus nach Europa blicken. Auf der anderen Seite konnten sie Konstantinopel erkennen: die Linie seiner Seewälle, die imposante Sophienkirche, die kaiserlichen Fahnen, die auf Türmen und Palästen wehten.

      Auf ihrem Vormarsch passten die Eroberer die griechischen Namen der eingenommenen Städte den vokalen Harmonien des Türkischen an. Aus Smyrna wurde Izmir; Nikäa, der Verkündungsort des Nizänischen Glaubensbekenntnisses, wurde zu Iznik; Brusa wurde durch eine Umstellung der Konsonanten zu Bursa; Konstantinopel bezeichneten sie offiziell zwar weiterhin mit dem arabischen Namen Konstantinijje, doch in der türkischen Alltagssprache entwickelte es sich zu Istanbul durch eine Mutation, die nach wie vor unklar ist. Vielleicht war dieser Name schlicht eine Verballhornung von Konstantinopel, er könnte aber auch einen anderen Ursprung haben. Griechische Autoren nannten Konstantinopel einfach nur polis, die Stadt. Ein Mann, der dorthin wollte, sagte, er fahre »eis tin polin« (»in die Stadt«), was in türkischen Ohren wie Istanbul geklungen haben könnte.

      Das rasche Vordringen der Osmanen erschien als ebenso gottgewollt wie jenes der Araber sieben Jahrhunderte zuvor. Als der berühmte arabische Reisende Ibn Battutah 1331 Orhans Reich besuchte, beeindruckte ihn die rastlose Energie, die dort herrschte: »Es heißt, er habe sich nie länger als einen Monat in einer Stadt aufgehalten. Er kämpft ständig gegen die Ungläubigen und hält sie unter Belagerung.«15 Die frühen Osmanen stellten sich als Gazis dar; sie umhüllten sich mit dem Titel von Glaubenskriegern wie mit der grünen Fahne des Islam. Bald wurden sie auch Sultane. Im Jahr 1337 ließ Orhan in Bursa eine Inschrift anbringen, in der er sich als »Sultan, Sohn des Sultans der Gazis, Gazi, Sohn des Gazi, Herrscher der Horizonte, Held der Welt«16 rühmen ließ. In der Tat war nun ein neues Zeitalter heroischer muslimischer Eroberungszüge angebrochen, und der militante Islam entwickelte neue Dynamik. »Der Gazi ist das Schwert Gottes«, schrieb der Chronist Ahmeti um 1400, »er ist der Beschützer und die Zuflucht der Gläubigen. Wenn er für Gott zum Märtyrer wird, glaubt nicht, dass er gestorben ist – er lebt in der Glückseligkeit mit Allah, er besitzt das ewige Leben.«17 Die Eroberungen weckten hohe Erwartungen bei den nomadisierenden Räubern, die auf eigene Faust operierten, und den der Mystik ergebenen Derwischen, die in zerlumpten Kleidern mit ihnen über die staubigen Straßen Anatoliens zogen. Prophezeiungen und Heldenlieder waren allenthalben im Schwange. Sie erinnerten an die Hadith über die Eroberung Konstantinopels und die Legenden vom Goldenen Apfel. Als Kaiser Johannes Cantacuzenos Orhans Kämpfer nach 1350 einlud, über die Dardanellen zu kommen und in die endlosen Bürgerkriege im byzantinischen Staat einzugreifen, setzten die Muslime erstmals seit 717 wieder ihre Füße auf europäischen Boden. Als 1354 durch ein Erdbeben die Mauern von Gallipoli zerstört wurden, erklärten die Osmanen dies kurzerhand zu einem Fingerzeig Gottes für die Muslime und nahmen die Stadt ein. Ein unablässiger Strom von Kriegern und Geistlichen folgte ihnen nach Europa. Im Jahr 1359 tauchte erstmals seit 650 Jahren wieder eine islamische Streitmacht vor den Mauern der Stadt auf. Ein Anflug von Endzeit-Erwartung war spürbar. »Warum sind die Gazi erst so spät erschienen?«, fragte Ahmeti. »Weil das Beste immer erst am Schluss kommt. Genau wie der eigentliche Prophet Mohammed nach den anderen kam, genau wie der Koran nach der Thora, den Psalmen und den Evangelien vom Himmel herabkam, so erschienen auch die Gazi als letzte in der Welt.«18 Die Eroberung Konstantinopels erschien offenbar als Traum, der durchaus wahr werden konnte.

      Dass die Osmanen so rasch vorrückten, war jedoch kein Wunder und auch nicht gottgegeben. Aufgrund der geographischen Lage, ihrer Gewohnheiten und glücklicher Umstände besaßen sie beste Voraussetzungen, um Nutzen aus dem Zerfall des byzantinischen Staates zu ziehen. Die ersten Sultane, die noch in enger Verbindung mit ihrem Volk und auch mit der Natur lebten, nahmen das sich verändernde politische Umfeld aufmerksam wahr. Während die Byzantiner im Banne tausendjähriger Zeremonien und Traditionen standen, waren die Osmanen wach, flexibel und aufgeschlossen. Die Gesetze des Islam verlangten Gnade gegenüber unterworfenen Völkern, und die Osmanen regierten ihre Untertanen mit leichter Hand, was vielen angenehmer erschien als die Herrschaft europäischer Feudalherren. Sie versuchten nicht, die Christen, welche die Bevölkerungsmehrheit bildeten, zum Islam zu bekehren – das war auch nicht erstrebenswert für eine Dynastie, die ein großes Reich errichten wollte. Unter dem Gesetz der Scharia war es nicht möglich, Muslime ebenso hart zu besteuern wie Ungläubige,

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