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Der orthodoxe Glaube berührte die Menschen emotional sehr tief durch die intensiven Farben seiner Mosaiken und Heiligenbilder, die geheimnisvolle Schönheit seiner Liturgie, die in dunklen, von wenigen Lampen erhellten Kirchen zelebriert wurde, den Weihrauch und das aufwändige Zeremoniell, das die Kirche und den Kaiser gleichermaßen umfing in einem Labyrinth prunkvoller Rituale, die darauf zielten, die Sinne zu bezaubern mit ihren auf das Himmelreich anspielenden Metaphern. Ein russischer Besucher, der 1391 eine Kaiserkrönung miterlebte, war erstaunt darüber, wie langsam das festliche Ereignis vonstatten ging:

       Die Sänger stimmten einen unbeschreiblich schönen Gesang an. Der kaiserliche Festzug bewegte sich so langsam fort, dass er drei Stunden brauchte, um von der großen Pforte bis zum Thron zu gelangen. Zwölf Bewaffnete, von Kopf bis Fuß in Eisen gehüllt, umgaben den Kaiser. Vor ihm schritten zwei schwarzhaarige Bannerträger; die Stangen ihrer Fahnen, ihre Kleider und Hüte waren rot. Vor diesen Bannerträgern gingen Herolde mit silberbeschlagenen Stäben... Auf den Thron steigend, bekleidete sich der Kaiser mit dem kaiserlichen Purpur und bedeckte sich mit dem kaiserlichen Diadem und der Zinnenkrone... Darauf begann die heilige Liturgie... Wer vermag die Schönheit von alldem zu beschreiben!18

      Fest verankert wie ein mächtiges Schiff lag im Zentrum der Stadt die Sophienkirche, die Justinian in nur sechs Jahren hatte erbauen lassen und die 537 eingeweiht worden war. Sie war das eindrucksvollste Bauwerk der Spätantike, ein Gebäude, dessen pompöse Dimensionen sich mit entsprechendem Glanz verbanden. Die große, frei tragende Kuppel erschien den Menschen der Zeit geradezu als Wunder. Man habe den Eindruck, schrieb Prokop, »dass sie nicht auf festen Grundmauern zu ruhen scheint, sondern als überdecke sie den Raum unter sich wie an der sagenhaften goldenen Kette am Himmel aufgehängt«.19 Sie war so imposant, dass es Betrachtern, die sie zum ersten Mal sahen, die Sprache verschlug. Die Decke, die über eine Fläche von 120 Quadratmetern mit goldenen Mosaiksteinchen überzogen war, wirkte überwältigend, wie Paulos Silentiarios berichtete: »Funkelnder Goldglanz flutet von ihnen herab, sodass die Menschenaugen es kaum ertragen können«, schwärmte er, während ihn die dekorativen Muster zu poetischen Schilderungen inspirierten: »Auch kannst du den grünen Glanz des lakonischen Marmors sehen und anderes Gestein in gewundenen Maserungen blitzend... Nicht zu vergessen das Gestein, welches das tiefvereiste Gebirge emporsandte, zwar schwärzlich schimmernd anzusehen, doch von vielen milchigen Adern durchzogen... Oder auch, was der leuchtende Onyx an Wertvollem in seinem lichtdurchfluteten Steinbruch ans Tageslicht gefördert hat..., hier ganz grün leuchtend und dem Smaragde nicht unähnlich, dort noch dunkler und ins Blau sich verlierend. Endlich findet sich dort schneeiges Weiß, mit dem Glanz des Schwarzen verbunden, sodass die Anmut des Steins vom Farbengemisch noch erhöht wird.«20 Die ergreifende Schönheit der Liturgie in der Sophienkirche trug maßgeblich dazu bei, dass Russland den orthodoxen Glauben annahm, nachdem im 10. Jahrhundert eine Abordnung aus Kiew die Messe miterlebt und nach Hause berichtet hatte: »Wir wussten nicht, ob wir im Himmel waren oder auf der Erde. Denn auf Erden gibt es keine derartige Pracht und Schönheit, und wir sind außerstande, sie zu beschreiben. Wir wissen nur, dass dort Gott unter den Menschen weilt.«21 Die detailverliebte Prachtentfaltung der orthodoxen Kirche war das Gegenbild der kargen Reinheit des asketischen Islams. Die eine Religion wartete mit der abstrakten Schlichtheit der Wüste auf, einer einfachen Form der Anbetung, die man überall praktizieren konnte, sofern man die Sonne sehen konnte, die andere schwelgte in Bildern, Farben und Musik, verzauberte mit Metaphern des göttlichen Geheimnisses, die dazu dienen sollten, die Seele in den Himmel zu geleiten. Doch beiden ging es letztlich darum, der Welt ihre Vorstellung von Gott näherzubringen.

      Im Leben der Byzantiner spielte das Spirituelle eine so bedeutende Rolle wie wohl zu keiner anderen Zeit in der Geschichte des Christentums. Zeitweise wurde die Stabilität des Reiches dadurch gefährdet, dass sich zu viele Offiziere in Klöster zurückzogen, und theologische Fragen wurden auf den Straßen so leidenschaftlich diskutiert, dass es bisweilen zu Tätlichkeiten kam. »Die Stadt ist voller Arbeiter und Sklaven, die allesamt Theologen sind«, berichtete ein Besucher befremdet. »Wenn man einen Mann bittet, Geld zu wechseln, erläutert er einem, wie sich Gottvater und Gottsohn unterscheiden. Wenn man nach dem Preis von einem Laib Brot fragt, erklärt er, dass der Sohn Gottes unter dem Vater steht. Wenn man wissen will, ob das Bad bereitet ist, wird einem gesagt, dass der Sohn aus dem Nichts erschaffen wurde.«22 War Christus eine einzige Person oder war er aus mehreren zusammengesetzt? War der Heilige Geist nur von Gottvater gekommen oder vom Vater und vom Sohn? Waren Heiligenbilder götzendienerisch oder nicht? Dies waren keine müßigen Fragen: Von den Antworten hingen die Erlösung oder die Verdammnis ab. Fragen der Orthodoxie und der Häresie bargen für das Imperium genauso viel Zündstoff wie Bürgerkriege, und sie untergruben seine Einheit mit durchaus vergleichbaren Kräften.

      Die Welt des byzantinischen Christentums war zudem seltsam schicksalsergeben. Alles wurde von Gott gegeben, und Unheil jeglicher Art, vom Verlust einer Geldbörse bis zu einer großen Belagerung, galten als eine Folge persönlicher oder kollektiver Sünden. Der Kaiser wurde von der Gnade Gottes bestimmt, aber wenn er durch eine Palastrevolte gestürzt wurde – von Verschwörern erschlagen oder im Bad erstochen oder erdrosselt oder von Pferden durch die Straßen geschleift oder geblendet oder in die Verbannung geschickt – (denn das Schicksal der Herrscher war stets ungewiss), dann entsprach auch dies dem Willen Gottes und wies auf irgendwelche verborgenen Sünden hin. Und da sich die Zukunft vorhersagen ließ, waren die Byzantiner auf abergläubische Weise besessen von Prophezeiungen. Unsichere Kaiser schlugen gern die Bibel an einer beliebigen Stelle auf in der Hoffnung, in einem Vers einen Hinweis auf ihr Schicksal zu finden; die Weissagung war eine ausgiebig gepflegte Beschäftigung, die von den Geistlichen häufig bekämpft wurde, aber zu tief in der griechischen Seele verwurzelt war, als dass man sie hätte ausrotten können. Bisweilen nahm sie auch bizarre Formen an: Ein arabischer Besucher erlebte im 9. Jahrhundert, wie ein Pferd auf eigenartige Weise dazu benutzt wurde, Auskunft zu erhalten über das Vorankommen einer weit entfernt kämpfenden Armee: »Sie werden in die Kirche geführt, wo Zügel aufgehängt worden sind. Wenn eines der Pferde einen Zügel ins Maul nimmt, sagen die Leute: ›Wir haben einen Sieg im Lande des Islams erfochten.‹ Manchmal naht ein Pferd, riecht an dem Zügel, kehrt um und geht nicht wieder zu dem Zügel hin...«23 In diesem Fall verließen die Menschen die Kirche bedrückt, weil sie eine Niederlage erwarteten.

      Viele Jahrhunderte lang übte Byzanz mit seiner Hauptstadt, die so leuchtend war wie die Sonne, eine enorme Anziehungskraft auf die Welt jenseits seiner Grenzen aus. Byzanz verkörperte die betörende Verheißung von Wohlstand und Sicherheit. Seine Goldmünzen, die Bézants, die Bildnisse seiner Kaiser trugen, waren der Goldstandard des Mittelalters. Das Ansehen des Römischen Reiches verband sich mit seinem Namen; in der muslimischen Welt nannte man es einfach nur Rum, Rom, und wie Rom zog es die Bewunderung und den Neid der nomadisierenden Halbbarbaren vor seinen Toren auf sich. Vom Balkan und den Ebenen Ungarns, von den russischen Wäldern und den Steppen Asiens, von überall her schlugen Wogen von wandernden Völkern gegen seine Grenzen: die Hunnen und die Griechen, die Slawen und die Gepiden, die tatarischen Awaren, die türkischen Bulgaren und die wilden Petschenegen, sie alle zogen durch die byzantinische Welt.

      In seiner Glanzzeit erstreckte sich das Reich weit über den Mittelmeerraum bis nach Italien und Tunesien, doch unter dem unablässigen Druck seiner Nachbarn schrumpfte es wieder wie eine riesige Landkarte, die sich an den Rändern wellt. Jahr für Jahr liefen kaiserliche Flotten aus den großen Häfen am Marmarameer aus, mit wehenden Fahnen und unter Fanfarenstößen, um eine Provinz zurückzugewinnen oder eine Grenze zu sichern. Byzanz war ein Reich, das sich ständig im Krieg befand, und Konstantinopel geriet aufgrund seiner Lage an der Schnittstelle zweier Kontinente immer wieder sowohl aus Europa als auch aus Asien unter Druck. Die Araber waren nur die entschlossensten von unzähligen Feinden, die in den ersten fünfhundert Jahren seiner Existenz vor der Landmauer von Byzanz aufzogen. Die Perser und die Awaren kamen im Jahr 626, die Bulgaren im 8., 9. und 10. Jahrhundert, Fürst Igor der Russe im Jahr 941. Die Belagerung war ein Daseinszustand für das griechische Volk und sein ältester Mythos: Die Menschen kannten Homers Erzählung von Troja. Dies hatte zur Folge, dass sie gleichermaßen pragmatisch wie abergläubisch wurden. Die Erhaltung der Stadtmauern war eine Bürgerpflicht; die Kornspeicher und Zisternen waren stets gefüllt, doch auch der geistigen Verteidigung wurde von den orthodoxen Gläubigen höchste Bedeutung beigemessen. Die Jungfrau Maria war die Schutzpatronin der Stadt; Bilder von

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