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in der Sprache wie z. B. Schweigen liegen bei der Sozialen Angststörung häufig nur zu Beginn einer sozialen Situation vor. Sollte das Schweigen länger andauern, ist es meist nicht durch oppositionelle Faktoren erklärbar, wie es beim Selektiven Mutismus der Fall sein kann.

      Fast die Hälfte aller Betroffenen mit Sozialer Angststörung leidet im Laufe ihres Lebens an einer depressiven Erkrankung (Last, Perrin, Hersen & Kazdin, 1992). Eine depressive Episode äußert sich über niedergedrückte Stimmung, verminderten Antrieb, Interessenlosigkeit sowie häufig einen sozialen Rückzug (ICD-10: F 32, WHO, 1994). Zur Diagnosestellung müssen die Symptome klinisch bedeutsamen Leidensdruck erzeugen oder eine Beeinträchtigung im Alltag mit sich bringen (z. B. Schule, Familie). Mädchen scheinen häufiger vom komorbiden Auftreten einer Sozialen Angststörung und Depression betroffen zu sein (Epkins & Heckler, 2011).

      Merke: Unterschiede Affektive Störungen und Soziale Angststörung

      Der soziale Rückzug tritt bei der depressiven Episode nicht aus Angst vor Abweisung durch andere, sondern aus Antriebslosigkeit oder Interessenlosigkeit auf. Rumination (Gedankenkreisen) ist bei beiden Störungsbildern beobachtbar, unterscheidet sich jedoch teilweise bzgl. der Inhalte und des Auftrittszeitpunkts (Soziale Angststörung: primär nach der Situation, Depression: primär vor der Situation).

      In der Regel liegt zunächst die Soziale Angststörung vor (Essau, Conradt & Petermann, 2000). Einem früheren Beginn der Sozialen Angststörung (Kindheit vs. Jugend) folgt oft ein schnellerer Beginn einer depressiven Episode sowie ein schwerwiegender Verlauf dieser (Cummings, Caporino & Kendall, 2014). Tatsächlich gilt die Soziale Angststörung als Risikofaktor für die Entwicklung einer depressiven Störung (Stein et al., 2001), wenngleich einer Sozialen Angststörung nicht immer eine depressive Episode folgt und einer depressiven Episode nicht unbedingt eine Soziale Angststörung vorausgeht (Epkins & Heckler, 2011). Es ist davon auszugehen, dass (soziale) Angst und Depression gemeinsame Grundlagen aufweisen. So zeigt sich bei beiden Störungsbildern erhöhter Neurotizismus bzw. negative Affektivität, verminderte Extraversion bzw. positive Affektivität, teilweise gepaart mit geringerer Kontrolle über die eigene Emotionalität als prädiktiv für die Entwicklung einer Störung (Epkins & Heckler, 2011). Das Zusammenspiel dieser Temperamentsfaktoren mit bestimmten Umweltfaktoren wie z. B. als gering wahrgenommene elterliche Unterstützung oder elterliche Psychopathologie trägt zusätzlich zum Entstehen depressiver und sozial ängstlicher Symptomatik bei. Darüber hinaus scheinen bestimmte genetische Grundlagen für die Entstehung von Angst und Depression übereinzustimmen (Epkins & Heckler, 2011). Neben den Überlegungen gemeinsamer Entwicklungsfaktoren für Angst und Depression ist aufgrund der aufeinanderfolgenden Entstehung von zunächst Sozialer Angststörung und im Anschluss Depression eine generelle Vulnerabilität für Angst aus Temperaments-, biologischen und Umweltfaktoren denkbar, aus welcher sich bei fehlender Behandlung schließlich eine depressive Episode entwickelt (Cummings et al., 2014). Ein kognitiver Erklärungsversuch beschreibt die Rumination als ausschlaggebenden Faktor: Aufgrund der Sozialen Angststörung tendieren Patient*innen zu einem negativen Fokus in ihren Gedanken an die soziale Situation. Die Rumination wiederum ist ein Risikofaktor für die Entwicklung einer depressiven Störung (Nolen-Hoeksema, 2000). Ein weiteres Modell beschreibt die Entwicklung der depressiven Symptomatik, indem aufgrund des starken Rückzugverhaltens keine positiven sozialen Verstärker mehr vorliegen und sich somit eine depressive Symptomatik entwickelt (Cummings et al., 2014). Je länger eine Angststörung im Allgemeinen anhält, desto wahrscheinlicher wird insbesondere die Komorbidität mit einer depressiven Erkrankung (In-Albon, 2011). Bei Vorliegen von beiden Erkrankungen verstärkt die depressive Symptomatik kognitive Verzerrungen, die der Sozialen Angststörung angehören, wie z. B. negative Grundannahmen über die eigene Person aufgrund von als negativ wahrgenommenen sozialen Ereignissen (Cummings et al., 2014). Neben vorliegenden Risikofaktoren wie z. B. einer negativen Affektivität wird der Umgang mit ambivalenten oder negativen Situationen als relevant für eine Störung betrachtet. Dieses sogenannte Coping stellt oft einen moderierenden Faktor dar (Epkins & Heckler, 2011), d. h. ein hoher negativer Affekt kann durch funktionale Copingstrategien ausgeglichen werden und somit keine ängstlichen oder depressiven Symptome mit sich bringen, während dysfunktionale Copingstrategien das Risiko für die Entwicklung einer Depression oder Sozialen Angststörung erhöhen. Bei der Betrachtung von Copingstrategien zeigen sich Unterschiede zwischen primär ängstlichen und primär depressiven Kindern (siehe Forschung; Wright, Banerjee, Hoek, Rieffe & Novin, 2010).

      Forschung

      In einer nicht klinischen Stichprobe (Wright et al., 2010) berichteten Kinder zwischen 8 und 11 Jahren über Symptome sozialer Angst und Depression sowie über Coping-Strategien zu zwei Messzeitpunkten. Die Copingstrategien wurden bezogen auf einen sozialen Stressor erhoben (»Stell dir vor, ein anderes Kind wäre gemein zu dir und würde dich beschimpfen oder schlagen und treten. Was würdest du tun?«). Erhöhte depressive Symptome zeigten sich zusammenhängend mit weniger Problemlösestrategien, weniger Suche nach sozialer Unterstützung, weniger Ablenkung und erhöhter Externalisierung (z. B. Schreien oder Werfen von Gegenständen). Soziale Angst hingegen war assoziiert mit erhöhter Suche nach sozialer Unterstützung, Ablenkung und Internalisierung (z. B. Sorgen oder Selbstmitleid). Soziale Angst und depressive Symptome sagten negative Copingstrategien zum zweiten Messzeitpunkt neun Monate später vorher. Individuelle Copingstrategien konnten jedoch spätere Depression und/oder Angststörung nicht vorhersagen. In der klinischen Anwendung sollten somit Copingstrategien genau exploriert werden, da diese transdiagnostisch abweichen können.

      Auch wenn Suchterkrankungen im Kindesalter noch keine größere Rolle spielen, werden diese bei unbehandelter Sozialer Angststörung im Jugend- und Erwachsenenalter höchst relevant: Im (jungen) Erwachsenenalter folgt der Sozialen Angststörung häufig ein missbräuchlicher Konsum von Alkohol (19–28 %, Ham, Bonin & Hope, 2007). Eine große epidemiologische Studie aus den USA (Grant et al., 2005) berichtet, dass mit einer Sozialen Angststörung (Lebenszeit) in 48,2 % der Fälle eine Alkoholabhängigkeit, in 22,3 % Drogenmissbrauch und in 33 % eine Nikotinabhängigkeit einhergeht. Im Verlauf von Jugend und frühem Erwachsenenalter mehren sich neue soziale Situationen, die es zu meistern gilt; Alkohol wird dabei als einfach verfügbare Methode gesehen, Gefühle von Angst zu bewältigen (Ham et al., 2007). Obgleich diese Argumentation logisch einleuchtend erscheint, deuten andere Studien darauf hin, dass erhöhte soziale Angst mit geringerem Alkoholkonsum einhergeht (Lewis et al., 2008) und sozial ängstliche Personen nach Alkoholkonsum z. B. negativere Konsequenzen erleben. Somit stellt die Soziale Angststörung wahrscheinlich einen Risikofaktor für einen schädlichen Umgang mit Substanzen dar.

      Merke: Unterschiede Suchterkrankungen und Soziale Angststörung

      Bei einer reinen Abhängigkeitsstörung wird die Substanz nicht nur in sozialen Situationen konsumiert.

      Direkt zu Beginn der Diagnostik stellt sich die Frage der differenzialdiagnostischen Abklärung. Gerade weil eine hohe Komorbidität besteht und einzelne Symptome zu verschiedenen (Angst-)Erkrankungen gehören, ist eine genaue Anamnese der Symptomatik sinnvoll. Berichtet ein Kind beispielsweise insbesondere die Angst vor dem Schulbesuch und die Vermeidung dessen, wäre basierend auf ICD-10 (WHO, 1994) und DSM-5 (APA, 2013) die Spezifische Phobie (Vermeidung der Schule aus Angst vor Prüfungen), eine Emotionale Störung mit Trennungsängstlichkeit (Vermeidung der Schule aus Angst vor Trennung von den Eltern), eine Generalisierte Angststörung (GAS; Vermeidung der Schule aufgrund verschiedener Ängste, z. B. soziale Ängste, Leistungsängste etc.) oder auch soziale Schwierigkeiten (Vermeidung der Schule z. B. aufgrund von Bullying) abzuklären. Generell gilt, dass die Diagnosen selbstverständlich auch parallel vorliegen und sich gegenseitig negativ beeinflussen können (image Скачать книгу