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zu Lebzeiten nicht anerkannt und auch nicht gesehen hatte.

      Es war schon eine Fügung des Schicksals gewesen. Felix Münster hatte zwar nicht das Herrenhaus gekauft, aber für sehr viel Geld die Dependance, die er nach seinen Wünschen hatte umbauen lassen.

      Nicht nur er hatte sich sofort in Sandra verliebt, sondern vor allem auch sein kleiner Sohn, der Sandra sofort ans Mutter und Marianne von Rieding als Oma haben wollte.

      Das Schicksal hatte es mit allen gut gemeint, an die Vergangenheit erinnerte sich niemand mehr, weil sie eine glückliche Gegenwart hatten.

      Obwohl Marianne es ihnen mehrfach angeboten hatte, einen Tausch vorzunehmen, wohnten sie noch in der Dependance. Und sie hatten eine gemeinsame kleine Tochter bekommen, Babette, die alle, ganz besonders ihren großen Bruder, um den Finger wickelte.

      Inge Auerbach seufzte.

      Für die Herrschaften oben auf dem Erlenhof war alles gut gegangen.

      Auch für Marianne, die in dem Architekten Carlo Heimberg einen liebevollen Ehemann gefunden hatte.

      Sie seufzte erneut.

      Auch da oben hatte es Höhen und Tiefen gegeben, denn Titel, Besitz und Geld schützten vor Schicksalsschlägen nicht.

      Aber eines hatten sie getan, immer mit offenen Karten gespielt.

      Das taten die Auerbachs normalerweise auch, sie ­waren grundehrliche Menschen. Und vermutlich belastete es sie deswegen so sehr, dass sie leider eine Leiche im Keller hatten.

      *

      Roberta Steinfeld dachte nicht länger darüber nach, dass sie nun wirklich, wenn auch zufällig und vorübergehend, eine Patientin gehabt hatte.

      Die Wirtin des Seeblicks, der sie das Leben gerettet hatte, das stand nun endgültig fest. Ohne ihr beherztes Eingreifen hätte die Frau nicht überlebt. Das hatte ihr gerade der behandelnde Arzt des Kreiskrankenhauses erzählt, der sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass man Marion Lingen zwei Stents gesetzt hatte und dass es ihr verhältnismäßig gut ging.

      Roberta freute sich darüber.

      Es war ihr Beruf, Menschenleben zu retten. Monika Lingen hatte wirklich sehr viel Glück gehabt, dass sie zufällig im Lokal gewesen war und die Situation erkannt hatte.

      Sie hatte Glück gehabt, war noch nicht an der Reihe gewesen.

      Ihre Freundin Nicki nannte es Vorbestimmung und führte dann immer das bekannte Beispiel des Flugzeugs an, das abgestürzt war und dass diesen Absturz nur ein ein­ziger Passagier überlebt hatte.

      Das half ihr nicht, das brachte sie nicht weiter.

      Auch heute war ein zermürbender Vormittag, das Wartezimmer blieb leer.

      Irgendwann kam eine alte Frau in die Praxis, die sich in den Finger geschnitten hatte. Eine Verletzung, die man selbst mit einem Pflaster behandeln konnte.

      Man konnte daran fühlen, es war ganz eindeutig, dass diese Frau allein die Neugier hergetrieben hatte. Roberta fragte sich sogar insgeheim, ob die Frau sich nicht absichtlich in den Finger geschnitten hatte, um einen Grund zu haben, herzukommen.

      Ursel Hollenbrink hätte die Patientin verarzten können, aber die wollte natürlich von der Frau Doktor höchstpersönlich behandelt werden.

      Roberta desinfizierte diese Bagatellwunde, machte ein Pflaster drauf.

      »So, das wär’s«, sagte sie.

      »Dann komme ich morgen zum Nachsehen?«, erkundigte sich die Patientin und blickte Roberta beinahe herausfordernd an.

      Roberta mochte ältere Patienten und Patientinnen, die oftmals Angst vor den Göttern in Weiß hatten und ­verun­si­chert waren. Denen nahm sie rasch die Angst, und manchmal zog sie sogar den weißen Kittel aus, um den Leuten zu zeigen, dass darunter auch nur ein ganz normaler Mensch steckte.

      Diese Frau hier hatte Haare auf den Zähnen!

      »Oh nein«, widersprach Roberta sofort, »morgen wird von dem Schnitt überhaupt nichts mehr zu sehen sein.«

      So leicht gab die Frau nicht auf.

      »Mir wäre aber lieber, wenn Sie noch mal einen Blick auf die Wunde werfen würden«, beharrte die Frau.

      Roberta biss insgeheim die Zähne zusammen, eine solche Dreistigkeit hatte sie in all den Jahren ihrer Berufstätigkeit noch nicht erlebt.

      »Nein.«

      Sie sagte nur dieses eine Wort, doch wenn sie geglaubt hätte, sich damit klar ausgedrückt zu haben, dann sah sie sich getäuscht. So schnell gab die Frau nicht auf.

      »Seien Sie doch froh, dass ich kommen will. Sie haben eh nichts zu tun, keine Patienten. Sie müssen doch vor Langeweile sterben. Außerdem verdienen Sie an mir. Sie bekommen Geld von meiner Krankenkasse.«

      Normalerweise ließ Roberta sich auf solche Gespräche nicht ein. Doch ihre Nerven waren eh zum Zerreißen gespannt, das brauchte sie jetzt nicht auch noch. Sie blieb ganz ruhig.

      »Frau Schulze, es ist richtig, ich bekomme Geld von der Krankenkasse, doch nicht für jeden Besuch, sondern eine sehr geringe Pauschale für ein ganzes Quartal. Das ist so wenig, dass Sie vermutlich bei einem Einkauf im Supermarkt mehr ausgeben.«

      »Wenn das so ist, dann kann ich im Quartal kommen, so oft ich will.«

      Roberta blieb ganz ruhig.

      »Das stimmt, aber nur, wenn Sie krank sind, nicht, um Zeit totzuschlagen oder um Ihre Neugier zu befriedigen. Ich muss nämlich Ihrer Krankenkasse über jeden Besuch haarklein berichten, auch wenn es nur diese geringe Pauschale gibt. Ich weiß nicht, wie Ihre Kasse dann reagieren wird.«

      Frau Schulze erhob sich.

      »Na gut, wie Sie meinen … Ich werde Sie ganz bestimmt nicht weiterempfehlen.«

      Sie rauschte hinaus, und zum Glück kam sofort die nette Frau Hollenbrink herein.

      »Frau Doktor, diese Frau hat Haare auf den Zähnen, sie kann sich selbst nicht leiden und hat schon den Doktor zur Weißglut gebracht. Wir können nur beten, dass sie wegbleibt. Schaden anrichten kann sie nicht, weil sie sich mit jedem anlegt und niemand sie ernst nimmt.«

      Roberta bedankte sich, das war wirklich nett, doch sollte das ihr Leben sein, keine Patienten und wenn, dann solche wie diese Frau?

      Frau Hollenbrink verließ den Behandlungsraum, und Roberta machte sich wieder über die Medikamentenbestände her, von denen sie das meiste entsorgen konnte.

      Eine tolle Beschäftigung.

      Sie hätte das natürlich auch ihre Sprechstundenhilfe machen lassen können, die kannte sich aus, und Roberta hatte längst schon erkannt, welches Juwel sie da übernommen hatte. Hoffentlich bekam die Gute keine kalten Füße und schmiss hin, weil sie mit Nichtstun nicht ihre Tage verbringen wollte.

      Sie schreckte hoch, als ihr Telefon klingelte.

      »Frau Doktor, da ist ein Herr Doktor Steinfeld am Telefon, der Sie unbedingt sprechen möchte. Soll ich durchstellen?«

      Sie hatte kurz erwähnt, dass sie geschieden war, und Ursel Hollenbrink war klug genug, bei diesem Anrufer direkt ihre Rückschlüsse zu ziehen und sich vorsichtshalber vorher zu erkundigen.

      Sie konnte ihrem Ex nicht ausweichen, fragte sich al­ler­dings, was er von ihr ­wollte.

      Sie bedankte sich und nahm das Gespräch an.

      »Schön, dass du dir die Zeit für mich nimmst, Roberta«, sagte er, »bestimmt ist die Praxis hackeknacke voll, und ich weiß, wie ungehalten du werden kannst, wenn man dich bei der Arbeit stört.«

      Sie war mittlerweile schon so verunsichert, dass sie sich jetzt fragte, ob er einen Detektiv auf sie angesetzt hatte und wusste, dass bei ihr nichts los war.

      Sie entschloss sich, auf nichts einzugehen, sondern erkun­digte sich ziemlich ­unwirsch: »Max, was willst du?«

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