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vollkommen umnebelt. Als er seine Finger abwechselnd anwinkelte und spreizte, stellte er fest, dass seine Arme taub waren. Aufs Sterben hatte er sich noch nicht gefasst gemacht.

      »Jetzt kommt es nur noch auf eines an: Ganz aus dem Gebäude zu verschwinden. Im Dunkeln findet uns nämlich so leicht niemand.« Domville ging auf zwei raumhohe Fenster an der hinteren Wand zu, zwischen denen eine Glastür, die nach außen geöffnet wurde, auf einen Balkon führte. »Das hier ist nur der erste Stock. Wir können hinunterspringen.«

      Schon beim Näherkommen streckte er eine Hand nach dem Türknauf aus. Prompt krachte es laut, was eine Kugel vorwegnahm, die einen Sekundenbruchteil später durch die Scheibe schlug. Domville blieb sofort stehen, als eine Fliese genau vor seinen Füßen zersprang. »Großer Gott!«

      Er rannte rückwärts zu seinem Assistenten in die Saalmitte. Ryan, dessen Stirn tiefe Falten zeigte, weil er immer noch versuchte, sich zu sammeln, schüttelte vehement den Kopf und schloss sich dann den anderen beiden an. Wer griff sie hier an? Und warum?

      Drei weitere Schüsse fielen jetzt, wobei die Scheibe der Tür rings um den Riegel herum herausbrach und weitere Fliesen zersplitterten. Anschließend steckte von außen jemand eine Hand durch das Loch im Glas und öffnete den Verschluss. Die Tür wurde aufgestoßen, zwei schwarz gekleidete Männer mit Sturmmasken auf dem Kopf traten ein und hoben ihre schallgedämpften Maschinenpistolen. Sie visierten die drei Männer in der Mitte des Raums an und gingen dabei langsam auseinander.

      »Ich muss schon sagen, Sie enttäuschen mich«, sprach jemand mit irischem Akzent auf dem Balkon. »Ich hätte mit weitaus stärkeren Sicherheitsvorkehrungen gerechnet, nicht nur mit drei dahergelaufenen Schutzbullen von der Capitol Police.«

      Ryan versuchte sich an der Stimme zu orientieren, um den Mann zu finden, der kurze Zeit später ebenfalls maskiert eintrat. Anders als seine beiden Begleiter trug er nichts Schwarzes, sondern eine ausgebleichte Bluejeans und ein offenes Jeanshemd mit bis über die Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln und einer halbautomatischen MP an einem Schultergurt.

      »Das hier ist Lord Justice Thomas Domville«, sagte sein Assistent mit besonderem Nachdruck. »Er sitzt im Hohen Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, also würde ich Ihnen raten, uns besser nicht anzugreifen. Verschwinden Sie sofort von hier.« Er baute sich beschützend vor seinem Arbeitgeber auf.

      Der Mann mit dem Jeanshemd hob daraufhin seine Pistole und feuerte zwei Mal. Der Assistent stand noch einen Augenblick lang still da, dann zwinkerte er krampfhaft und sackte schließlich gegen Domville, der ihn festhielt und wieder aufrichtete. Beiden stand die Bestürzung in die Gesichter geschrieben.

      »Douglas! Herr im Himmel!«

      Ryan packte den Gehilfen an der Schulter seines Jacketts und legte ihn gemeinsam mit Domville unsanft auf den Boden. Als er sah, dass der Mann nur noch ausdruckslos vor sich hinstarrte, wandte er schnell seinen Blick ab.

      »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«, herrschte der Richter den Schützen an, während er zwischen ihm und seinem toten Assistenten hin und her schaute.

      »Mit einem Wort?«, fragte der Bewaffnete und trat näher. »Rache!«

      »Rache wofür? Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns noch nie zuvor begegnet sind.«

      »Das stimmt, das sind wir nicht, aber Sie wissen trotzdem, wer ich bin.« Er ließ die Maschinenpistole wieder an ihrem Gurt herunterhängen und streckte einen Arm aus, um ihm eine Tätowierung zu zeigen. »Schon mal gesehen?«

      Domville betrachtete das Motiv einen Moment lang. »Nein, habe ich nicht.«

      »Sie sind ein Lügner, und ein schlechter noch dazu. Aber das spielt auch gar keine Rolle. Ich kenne Sie. Thomas Winfred Domville, gegenwärtig oberster Berufungsrichter für die nordirische Justiz, doch Ihre eigenen Verbrechen haben Sie verübt, lange bevor man Ihnen dieses Amt anvertraut hat.«

      »Verbrechen? Ich fürchte, Sie irren sich. Ich habe zu keiner Zeit irgendwelche …«

      »In Irland gibt es auch noch andere Richter, nicht nur diejenigen, die uns Großbritannien aufgezwungen hat.«

      Domville atmete laut aus, und sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er allmählich begriff. »Und welcher Verbrechen werde ich angeklagt?«

      »Der Freisprechung von vier Beamten der nordirischen Polizei, die der Vergewaltigung und Ermordung von Meaghan McCraven, einer Angehörigen des Freiwilligenkorps der IRA, schuldig sind.«

      Domville warf einen längeren Blick auf seinen erschossenen Assistenten. »Es tut mir leid, Sie hier hineingezogen zu haben, alter Freund.« Nachdem er ihn sanft niedergelegt hatte, stand er auf und schob seine Schultern vor. »Falls ich so sterben soll, bringen wir es lieber hinter uns.«

      Ryan schaute immer wieder auf den Fremden und dann zurück zu Domville. »Das dürfen Sie nicht. Es verstößt gegen das Gesetz. Und mit Gerechtigkeit hat das Ganze auch nichts zu tun. Er wurde nicht festgenommen und nicht vor Gericht gestellt.«

      Der Mann mit dem Jeanshemd grinste jetzt süffisant. »Für Rache gibt es keine Regeln.«

      »Das ist die Gerechtigkeit der IRA, Senator Ryan«, erklärte Domville. »Lassen Sie es sich eine Lehre sein und hoffen Sie, davon verschont zu bleiben.«

      Ryan schluckte beklommen, während er auf den Schalldämpfer der MP starrte.

      »Gebt den anderen Bescheid, sie sollen abrücken«, sagte der Schütze zu einem seiner Begleiter. »Wir werden hier nicht mehr allzu lange unbemerkt bleiben.«

      Die Zwei nahmen daraufhin ihre Waffen hinunter und verschwanden durch die Balkontür.

      Der Mann hingegen hob erneut seine Pistole. »Grüßen Sie Luzifer, wenn er Ihnen die Pforte zur Hölle öffnet, mit besten Empfehlungen von Declan McIver.«

      Kapitel 20

       21:10 Uhr Ortszeit, Thames House, Millbank, Innenstadt von London, England

      Der Balkon am Nordflügel des Thames House kam dem allgemeinen Verständnis von einer Sperrzone so nahe wie kein anderer Bereich dieses sprichwörtlichen Bollwerks. Nachdem man alle anderen Fenstertüren längst mit bombensicherem Glas versehen und sogar vernietet hatte, ließ sich nur noch eine einzige öffnen, und diese war nur einem einzigen Mann zugänglich, der sie aber so gut wie nie benutzte. Nun stand Allardyce allerdings draußen und schaute auf die Lambeth Bridge über die Themse, deren graues Wasser ruhig dahinfloss, wenn nicht gerade ein Containerschiff hindurchfuhr. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, wirkte es wegen der dichten Wolken dunkler, und die Laternen unten an der Straße glühten fast geisterhaft. Im schwindenden Tageslicht kamen ihm die trostlosen Straßen von Millbank und Lambeth am Ufer gegenüber so spukhaft vor, wie die Gestade einer vor langer Zeit verlassenen Metropole, auch wenn fernab noch die Autohupen von Leben zeugten.

      Nachdem er seine Pfeife, eine Dunhill Chestnut, aus dem Mund genommen hatte, blies er einen Schwall Qualm aus und beobachtete, wie der bläuliche Dunst an den schnörkeligen Säulen vorbeizog, die den Alkoven trugen, und schließlich vom Abendwind verweht wurde. Tabak war eigentlich für die Zeit nach dem Abendessen und zum Entspannen vorgesehen, dachte er, doch sein Tag hatte ihm bisher weder das eine noch das andere beschert. Als plötzlich die Tür hinter ihm geöffnet wurde, drehte er sich um.

      Samuel Reed betrat den Balkon und machte sich mit dem ungewohnten Ausblick vertraut, während er über die Brüstung auf den Kreisverkehr vor dem Gebäude schaute, gleichzeitig zog er die Tür hinter sich zu. Er schnitt ein finsteres Gesicht wie ein Arzt, der jemandem eine Hiobsbotschaft überbringen musste. Andererseits erweckte der Mann diesen Eindruck oft, dachte Allardyce nun, wobei er fast lächelte. Vielleicht war seine Sorge ja auch unbegründet, und er bekam doch noch gute Neuigkeiten zu hören.

      »Irgendetwas Neues aus Zürich?«

      »Ich bin kaum vom Telefon weggekommen, um mich mit Interpol auszutauschen, seit ich bei Ihnen war. Weder die Bundespolizei noch die Behörden der Kantone oder Gemeinden von Zürich und Umgebung haben Declan

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