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zwängte sich hastig an der Alten vorbei und nahm zwei Stufen auf einmal. Oben an der ersten Tür hing ein Messingschild mit einer 5. Er rüttelte am Griff – sie war abgesperrt. Als er etwas fester gegen das Blatt drückte, spürte er plötzlich, dass nicht mehr viel fehlte, bis es nachgab. Mit gequälter Miene stellte er sich seitlich auf, hob die Schulter und rammte die Tür so leise wie möglich dicht über dem Riegel. Ein Teil des Rahmens zersplitterte sofort, aber er hielt den Griff fest, damit die Tür nicht aufflog und zu viel Lärm verursachte. Noch ein wenig Druck mit Gefühl, dann ließ sie sich knarrend öffnen.

      »Miau!«

      Tatsächlich, eine orangebraune Katze, die man nur als übergewichtig bezeichnen konnte, kam sofort angewatschelt.

      »Miau! Miau!«

      Declan ging in die Hocke und streichelte ihren Rücken, während er die Wohnung begutachtete. Sie war klein, geradezu winzig, so wie er es erwartet hatte. Hätte er schätzen müssen, wäre er von annähernd der gleichen Fläche wie der seines Wohnzimmers in den USA ausgegangen. Natürliches Licht fiel nur durch ein Einzelfenster ein, und so wie es aussah, belief sich das Appartement auf einem einzigen Raum, dessen Hauptaufenthaltsbereich mit Möbeln aus zweiter Hand eingerichtet worden war. Dafür herrschte jedoch überall Sauberkeit und Ordnung – von einer Auseinandersetzung fehlte jede Spur – nur eine Topfpflanze war zu Bruch gegangen, gewiss bei einem Sprung des Katers auf die Fensterbank, um nach seinem Herrchen zu schauen.

      »Miau!«

      »Ja, okay, okay.« Declan erhob sich und trat vorsichtig ein. Nichts deutete darauf hin, dass Shane während der letzten Tage da gewesen war, aber das Gegenteil ließ sich natürlich ebenso wenig nachweisen. Alles hatte seinen festen Platz und schien auch an ebendiesem zu stehen oder zu liegen. Nachdem er sich in der Schlafnische und dem winzigen Bad umgeschaut hatte, um keine böse Überraschung zu erleben, fing Declan an, die Schränke in der Küchenzeile zu öffnen. Als er in einer Schublade gestapelte Dosen Katzenfutter fand, zog er den Deckel von einer ab und stellte sie auf den Fliesenboden.

      »Mi…«

      Das Tier vergrub augenblicklich sein Gesicht darin und begann, die Fleischbrocken unzerkaut hinunterzuschlingen. Declan machte eine weitere Konserve auf und platzierte diese daneben. Eine Katze hatte er selbst niemals besessen. Entsprach solche Gefräßigkeit der Norm, oder handelte es sich hierbei um ein Indiz dafür, dass sein Freund in der Tat verschwunden war? Nachdem er sich wieder aus der Nische zurückgezogen hatte, warf er noch einen Blick in den Wohnbereich. Immer noch wirkte nichts ungewöhnlich. Er war weder auf verdorbene Lebensmittel im Kühlschrank noch auf stinkenden Müll im Abfalleimer gestoßen. Vor der Tür lagen keine ungelesenen Zeitungen oder gestapelte Post. Jetzt hielt Declan in seinen Überlegungen inne: Diese wurde ja im Allgemeinen auch gar nicht persönlich zugestellt.

      »Sei brav, Dickerchen.« Er schloss die Wohnungstür beim Hinausgehen, dann nahm er mit polternden Schritten die Treppe, weil es ihm so vorkam, als würde er auf Wolken treten.

      »Danke«, sagte er noch einmal zu der alten Frau, die nach wie vor an der Tür ihres Appartements stand. Als er die Stufen ins Erdgeschoss mit demselben tauben Gefühl in den Füßen hinuntergestiegen war, blieb er vor der letzten ruckartig stehen. An der Wand im Flur hinter der Eingangstür hingen fest nebeneinander verankert mehrere Briefkästen aus Gusseisen mit dem markanten Logo der Royal Mail. Da er beim Hereinkommen auf die Treppe fokussiert gewesen war, hatte er diese gar nicht bemerkt – auch nicht den wichtigen Hinweis im Schlitz von Nummer 5. Denn dort ragte ein roter Papierzipfel hervor. Declan griff danach und zog ihn heraus.

      Es war ein Zettel, der Shane mitteilte, dass sein Fach zu voll sei, weshalb er nun alle weiteren Zustellungen im nahegelegenen Postamt von Kennington & Walworth abholen müsse, bevor man ihn wieder in den Verteiler aufnehmen würde. Als Declan genauer hinschaute, konnte er die Kanten mehrerer Umschläge durch den schmalen Schlitz erkennen. Shane O'Reilly war also schon erheblich länger außer Haus, als er befürchtet hatte.

      Kapitel 12

       10:32 Uhr Ortszeit, Lincoln House – Basil Street 15 Knightsbridge, Londoner Innenstadt, England

      Declan hatte von Shanes Appartement aus den Bus der Linie 3 genommen und war an der Haltestelle Holburn in die U-Bahn in Richtung Piccadilly gestiegen, um nach Knightsbridge zu gelangen. Jetzt saß er auf der Eingangstreppe eines mehrstöckigen Backsteinbaus voller Luxuswohnungen. Ein starker Gegensatz zu dem, was er in Lambeth gesehen hatte. Auf beiden Seiten parkten an den Rändern der schmalen Einbahnstraße teure Schlitten, und schmucke Eisenzäune grenzten einen Landschaftsgarten nach dem anderen vom Bürgersteig ab.

      Aufgrund der vielen Überwachungskameras und Sicherheitskräfte in dieser Gegend hatte Declan seinen Warteplatz schon mehrmals gewechselt und sich seine dunkelblaue Mütze mit dem Esso-Logo tief ins Gesicht gezogen, um nicht aufzufallen und unerkannt zu bleiben.

      Wie in so vielen Wohnsiedlungen Londons war auch hier eine Arbeitskolonne mit der Sanierung der Fassade eines der Nachbargebäude beschäftigt, während sich Touristen an der Kulisse erfreuten, die Architektur im Queen-Anne-Stil fotografierten oder durch die nahegelegenen Nobelkaufhäuser bummelten. Declan hoffte darauf, dass er sich ins Bild fügte und unter den auffälligen Auswärtigen nicht besonders hervorstach.

      Zum fünften oder sechsten Mal, seit er sie gefunden hatte, nahm er das Foto und den gefalteten Zettel heraus, auf dem der Weg zu McGuires Landsitz beschrieben war. Er betrachtete es abermals. Das einfache Blatt Papier hatte an einigen Stellen einen Rotstich vom Blut des toten IRA-Mannes bekommen, und die schwarze Tinte war mittlerweile verlaufen, als sei sie irgendwann einmal nass geworden. Die Handschrift – krakelig im wahrsten Sinne des Wortes – war allerdings lesbar geblieben.

      Declan hatte um das Risiko gewusst, das Landgut als Versteck zu benutzen. Solange es eines der Kommandozentren der IRA gewesen war, hatte es nur eine Handvoll Personen gekannt, und er konnte stark davon ausgehen, dass diese mittlerweile entweder tot, inhaftiert oder zu einer friedfertigeren Lebenseinstellung gelangt waren. Trotzdem ließ sich die Geschichte des Ortes nicht unter den Tisch kehren, und jemand hatte sich offenbar daran erinnert. Bewusst so lange dort zu verweilen wie die McIvers war ohne Zweifel ein Fehler gewesen. Wer aber wollte ihn unbedingt ermorden und warum? Jeder, der über das Anwesen und seinen früheren Zweck im Bilde sein könnte, war deutlich älter als die Einbrecher bei den Hogans, und obgleich Declan zu wissen glaubte, dass es zwischen den Provisionals – dem nunmehr moderaten Flügel der IRA, dem auch er angehört hatte – und den Reals, einem jüngeren, radikalen Ableger, Überschneidungen gab, schloss er aus, dass sich irgendein Mitglied in solchem Maße zu einem persönlichen Rachefeldzug bewogen fühlte, dass es McIver einen Killer auf den Hals gehetzt hatte. Strenggenommen war er vermutlich nur wenigen geläufig, falls ihn überhaupt noch jemand kannte.

      Er hatte zuerst in Erwägung gezogen, dass jemand es schlicht und ergreifend wie einen IRA-Anschlag hatte aussehen lassen wollen, aber die Beschreibung auf dem Zettel bewies das Gegenteil. Die Angaben waren einfach zu unverbindlich, denn der Urheber unterschied nicht zwischen dem Haus der Hogans und dem Hauptgebäude mehrere Hundert Yards weiter. Diese Person hatte sich nicht klar genug ausgedrückt, weshalb die drei Bewaffneten an der falschen Adresse eingebrochen waren. Dies sah der IRA mit ihrer langen Geschichte vermasselter Ermordungen nur zu ähnlich. Professioneller agierende Terroristen hätten sich im Vorfeld nämlich auf angemessene Weise schlaugemacht und daher genau gewusst, wohin beziehungsweise wann sie ihre Erfüllungsgehilfen schickten.

      Declan wurde spontan in seinem Gedankengang unterbrochen, als plötzlich ein schwarzer Range Rover mit Regierungskennzeichen einen Block weiter um die Ecke bog und vor einem Gebäude mit zwei Toren anhielt, die hoch wie die einer Kathedrale waren. Ein kurzer Moment verging, dann erschien ein uniformierter Wachmann und schaute auf der Straße flüchtig in beide Richtungen, um sich zu vergewissern, dass nichts Ungewöhnliches im Gange war. Anschließend öffnete er eines der Tore, woraufhin Lord Dennis Allardyce aus dem vornehmen Haus kam und zu seinem wartenden Fahrzeug stolzierte.

      McIver erhob sich, während der Chauffeur – Tom Gordon – ausstieg, die Hintertür öffnete und diese aufhielt.

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