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      Zwischen Pfarrer Wenninger und seiner Haushälterin Gerdi hatte sich in den langen Jahren ihres Zusammenlebens ein Verhältnis entwickelt, das eine normale Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung weit überstieg. Klaus Wenninger war ein blutjunger, unerfahrener Pfarrer gewesen, als er die Gemeinde Steinhausen übernommen hatte, und Gerdi war damals ein kaum zweiundzwanzigjähriges Mädchen gewesen, das eine herbe Enttäuschung hinter sich hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie sich geschworen, nie wieder einen Mann ihr Vertrauen zu schenken, und sie hatte diesen Schwur gehalten. Der einzige Mann, den sie zutiefst verehrte, war Hochwürden Wenninger. Und für den mittlerweile knapp siebzigjährigen Pfarrer war die gute Gerdi wie eine Schwester. Im Grunde verstand er sich mit ihr besser als mit seiner leiblichen Schwester Martha. Doch trotz dieser innigen Vertrautheit hatten sie sich über all die Jahre hinweg eine gewisse Distanz bewahrt, die genau anzeigte, daß sie eben doch in einem Arbeitsverhältnis zueinander standen.

      Jetzt hatte es sich Pfarrer Wenninger in seinem Wohnzimmer gemütlich gemacht und rauchte seine geliebte Pfeife, während der Mischlingshund Wastl auf dem Boden lag und hingebungsvoll schnarchte.

      »Was halten Sie von dieser Sache, Hochwürden?« fragte Gerdi endlich, nachdem sie bereis seit Tagen mit sich gerungen hatte.

      Und Klaus Wenninger wußte auch sofort, wovon seine Haushälterin sprach. Er seufzte tief auf.

      »Das arme Mädel hat eine große Enttäuschung erlebt«, meinte er. »Sie sagt nichts, aber an ihren Augen kann man es sehen.« Er sah Gerdi eindringlich an. »Claudia hat denselben traurigen Blick, den Sie einst hatten, Gerdi.«

      Verlegen senkte die Haushälterin den Kopf. Sie wollte an die leidige Geschichte von damals gar nicht mehr erinnert werden. Fast vierzig Jahre waren seither vergangen, trotzdem hatte sie den gutaussehenden Hans nie ganz vergessen können.

      »Es ist die Hölle«, murmelte Gerdi, dann sah sie den Pfarrer wieder an. »Kann man dem armen Ding denn gar nicht helfen?«

      Bedauernd schüttelte Klaus Wenninger den Kopf. »Hier kann nur die Zeit heilen oder eine neue Liebe.«

      Wieder senkte Gerdi den Kopf. »In manchen Fällen heilt nicht einmal die Zeit. Sie lindert, aber sie heilt nicht wirklich.« Ihr Blick suchte das Gesicht des Pfarrers. »Ich wünschte, ich könnte dem Mädel das ersparen.«

      Nachdenklich paffte Klaus Wenninger an seiner Pfeife. Dicke Rauchwolken hüllten ihn ein.

      »Vielleicht hätten Sie einmal über alles sprechen sollen, Gerdi«, meinte er nach einer langen Weile des Schweigens. »Vieles ist leichter zu ertragen, wenn es erst mal ausgesprochen worden ist.«

      Gerdi zuckte die Schultern. »Möglich. Aber wenn das Herz schwer ist, dann fehlen einem eben auch oft die Worte.« Dann stand sie auf. »Vielleicht hilft der armen Claudia ein Gespräch.« Sie nickte sich selbst zu. »Ich werde es jedenfalls versuchen.«

      *

      Doch die gute Gerdi hatte nicht sehr viel Erfolg. Gleich am nächsten Mogen, als sie zusammen mit Claudia den Frühstückstisch decke, wagte sie einen ersten Vorstoß.

      »Ich weiß, daß es mich nichts angeht«, meinte sie, »aber… wenn du deinen Kummer loswerden möchtest…« Sie ließ den Satz bedeutungsvoll offen.

      Claudia warf ihr einen raschen Blick zu. Die Fürsorge der Haushälterin rührte sie, doch im Augenblick war sie noch nicht bereit, über ihre große Enttäuschung zu sprechen.

      »Das ist sehr lieb von Ihnen, Gerdi«, erklärte sie und brachte dabei sogar ein Lächeln zustande. »Und Sie sind auch nicht die erste, die mir dieses Angebot macht. Auch der Herr Pfarrer und Dr. Daniel wollten mich schon dazu bringen, über alles zu sprechen, aber… im Augenblick kann ich das einfach noch nicht.«

      Gerdi nickte verständnisvoll. »Ich weiß schon, wie das ist. Man verschließt den Kummer in seinem Herzen, und manchmal glaubt man, daran sterben zu müssen.« Sie sah Claudia geradewegs ins Gesicht. »Aber man stirbt nicht. Das Leben geht irgendwie weiter, und plötzlich ist man alt und merkt, daß das Herz noch immer leidet. Nicht mehr so schlimm wie zu Anfang, aber…« Sie schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich ab.

      Und plötzlich begriff Claudia. Gerdi mußte in ihrer Jugend ein ähnliches Erlebnis wie sie gehabt haben. Sekundenlang war Claudia versucht, sich der Haushälterin anzuvertrauen, verwarf diesen Gedanken dann jedoch wieder. Es tat noch zu weh, an Eduard auch nur zu denken, und wenn man Gerdis Worten glauben durfte, dann würde es immer weh tun.

      Impulsiv strich Claudia über ihren Bauch. Noch vor ein paar Tagen hatte sie sich in ihrer Liebe zu dem Kind, das sie erwartete, gewünscht, man könnte die Schwangerschaft ihr schon ansehen. Doch jetzt, nach Gerdis Worten, war sie nicht mehr so sicher, ob sie das wirklich noch wollte. Wenn man eine verlorene Liebe ein Leben lang im Herzen trug – war es dann nicht besser, man hatte überhaupt kein Kind? Würde ein Baby unter dem eigenen Kummer nicht ständig leiden?

      »Du bist heute so still, Claudia.«

      Die tiefe Stimme des Pfarrers riß sie aus ihren Gedanken. Hastig schüttelte sie den Kopf.

      »Es ist nichts, Hochwürden«, beeilte sie sich zu versichern, doch der Gedanke, der sie vorhin gestreift hatte, ließ sie nicht mehr los.

      Mit Mühe brachte sie eine halbe Buttersemmel hinunter und trank eine Tasse Hagebuttentee, dann half sie der Haushälterin beim Tischabräumen, während sich Pfarrer Wenninger in sein Arbeitszimmer zurückzog.

      »Der Abwasch kann warten«, meinte Gerdi. »Ich muß jetzt erst mal zum Einkaufen. Möchtest du mitkommen, Claudia?«

      Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich muß noch mal zu Dr. Daniel.«

      Alarmiert horchte Gerdi auf. »Ist etwas nicht in Ordnung? Fühlst du dich nicht wohl?«

      »Doch, Gerdi, seien Sie unbesorgt. Es ist nur… ich… ich habe vergessen, etwas zu fragen.« Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr. » Ich hoffe, daß ich bis zum Mittagessen wieder hier bin.«

      Nur halbwegs beruhigt nickte Gerdi. »Du mußt dich nicht abhetzen. Ich koche Pichelsteiner, das kann man zur Not aufwärmen.« Dann griff sie nach ihrem Einkaufskorb, verabschiedete sich von Claudia und verließ das Pfarrhaus.

      Einen Augenblick lang blieb Claudia noch unschlüssig stehen. Sollte sie Dr. Daniel wirklich so unangemeldet in der Praxis überfallen? Andererseits durfte sie nicht mehr länger warten, wenn sie wirklich noch abtreiben wollte. Allein der Gedanke daran verursachte Claudia Übelkeit. Und dann verließ sie rasch das Pfarrhaus und eilte durch die schmalen Gassen Steinhausens. Sie passierte die große Chemiefabrik der Bergmanns, die so gar nicht in dieses idyllische Vorgebirgsdörfchen passen wollte, und erreichte schließlich den Kreuzbergweg, der zur Villa von Dr. Daniel hinaufführte.

      Claudia keuchte ein wenig, weil sie sehr schnell gegangen und streckenweise sogar gelaufen war. Jetzt drückte sie auf den Klingelknopf neben dem Schildchen Praxis. Mit einem dezenten Summen sprang die schwere Eichentür auf, und Claudia trat ein.

      »Guten Morgen, Fräulein Sandner«, grüßte die Empfangsdame ein wenig erstaunt.

      Überrascht sah Claudia sie an. »Sie kennen mich noch?«

      »Na ja, es kommt selten vor, daß jemand in Begleitung des Pfarrers hierher in die Praxis kommt«, entgegnete Gabi Meindl.

      Claudia errötete, ging jedoch nicht näher auf Gabis Bemerkung ein. »Ich möchte den Herrn Doktor sprechen. Ist das möglich?«

      Die junge Empfangsdame seufzte leise. »Na ja, wenn Sie Zeit haben. Heute vormittag sind eine Menge Patientinnen angemeldet und…«

      »Natürlich können Sie hierbleiben«, mischte sich Lena Kaufmann in diesem Augenblick ein, dann bedachte sie Gabi mit einem tadelnden Blick, bevor sie sich Claudia wieder zuwandte. »Der Herr Doktor wird sich für Sie bestimmt Zeit nehmen.«

      Trotz der freundlichen Worte fühlte sich Claudia ein wenig verunsichert.

      »Wenn es irgendwelche Umstände macht…ich

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