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Peking-Paris im Automobil. Luigi Barzini
Читать онлайн.Название Peking-Paris im Automobil
Год выпуска 0
isbn 4064066114398
Автор произведения Luigi Barzini
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Unsere Kulis bei der Arbeit in den Felsen des Lien-ya-miao.
Dieser Weg hat auch eine religionsgeschichtliche Bedeutung: auf ihm ist der Lamaismus, der tibetische Buddhismus, nach China eingedrungen. Aus dem Herzen Asiens, dieser Quelle von Religionen, sind Wogen der Frömmigkeit durch diese Täler herübergeflutet, um die Seelen der Chinesen zu neuen Kulten zu bekehren. Es ist nichts Seltenes, hier fremde Pilgerzüge anzutreffen. Als Fürst Borghese die Straße nach Kalgan erkundete, hatte er einige Tage zuvor hier einen Büßer mit geschorenem Kopfe und in langem grauem Gewande getroffen, der betend und alle drei Schritte niederkniend, um den Boden zu küssen, den Weg zurücklegte. Borghese erkundigte sich nach ihm. Der Pilger war auf dem Wege nach der heiligen Stadt Urga und hatte auf diese Weise die Mongolei und die Wüste Gobi durchquert. Die Bevölkerung ist gastfreundlich und mildtätig gegen diese wandernden Pilger, die am Abend ihre Mühsal unterbrechen, einen großen Stein auf die Stelle legen, bis zu der sie gekommen sind, um sie am Morgen wiederzufinden, und bis zum nächsten Dorfe gehen, um sich von ihrem frommen Beginnen auszuruhen.
Es kommt uns der Gedanke, daß auch wir, alles in allem genommen, auf einer seltsamen Pilgerfahrt begriffen sind. Auch wir haben ein eigenartiges Gelübde getan und erfüllen es mit Glaubenseifer. Wenn der Mann, der jene drei Schritte tat, seinerseits den Fürsten nach dem Beweggrunde seiner Reise gefragt hätte, würde er gewiß höchst erstaunt gewesen sein.
Nachdem wir durch das Dorf Pa-ta-ling gekommen waren, sahen wir ein ausgezahntes Profil wie eine Zickzacklinie einige entfernte Kämme vor uns umsäumen und andere Berge zu beiden Seiten krönen; wir sahen es hier auftauchen, dort verschwinden, bis es allmählich die Form zahlloser, zu einer Kette verbundener Türme annahm, gleich Scharen wachehaltender Riesen.
Es war die Große Mauer.
Viertes Kapitel.
Auf dem Gebirge.
Das Passieren der Großen Mauer. — Die Matrosen verlassen uns. — Auf der Fahrt durch das chinesische Flachland. — Im Schatten des Lien-ya-miao. — Angstvolle Augenblicke. — Die Mongolei kommt in Sicht.
Von fern gesehen macht die Große Mauer, die mit dem Gebirge zusammengewachsen und verschmolzen ist als riesenhaftes Pendant zu dessen Gipfeln und Felsenwänden, nicht den Eindruck eines Werkes von Menschenhand: sie ist allzu gewaltig dazu, und das, was man von ihr sieht, beträgt nicht den tausendsten Teil. Man könnte eher von einer phantastischen bizarren Laune der Erde sprechen, entsprungen aus dem Wirken unermeßlicher, unbekannter Naturkräfte, von dem Erzeugnisse einer schöpferischen Erdumwälzung.
Je näher wir kamen, desto mehr verschwand die Große Mauer in einem Gewimmel von Berggipfeln, und wir erblickten sie erst wieder bei den letzten Windungen des Weges, als wir im Begriff standen, die massiven, doppelten Tore zu durchfahren, die von noch heute festen Bastionen verteidigt werden. Die Straße auf die Höhe hinauf ist nichts als eine Furche im festen Gestein, sie wird stets steiler und ungangbarer. Wir fuhren seit 8 Uhr unter unaufhörlichem Regen; nur langsam und mühselig kamen wir vorwärts, jeden Augenblick zum Halten gezwungen, um Steine aus dem Wege zu wälzen, Fahrbahnen für die Räder herzustellen, das bedrohte Geschwindigkeitsgetriebe vor den Unebenheiten des Bodens zu schützen. Alles ringsum eine wilde, öde Wüste.
Wir marschierten am Rande eines tiefen Abgrundes. Von hier aus erblickten wir zu unserer Freude an einer Stelle zwei Telegraphendrähte. Um ihre Isolatoren geschlungen, kamen sie von unten herauf, kreuzten den Weg und überschritten die Mauer. Sie erschienen uns als Freunde; sie sollten es sein, die unseren Landsleuten Kunde von uns brachten. Arme alte Mauer, du Werk und Sorge von Dynastien und Millionen von Menschen; nicht nur das Geschütz macht dich heutzutage nutzlos: ein einfacher Draht genügt. Die fernsten Völker verkehren ruhig über deine Schultern hinweg.
In der Nähe ist die Mauer weniger großartig. Sie gleicht den Verteidigungswerken einer Stadt, und für den, der sich der Mauern von Peking erinnert, verliert sie an Imposantheit. Als wir aber nach dem Durchfahren der Tore den Abhang auf der andern Seite in der Richtung des Dorfes Tscha-tau-tschung hinabstiegen und zurückblickten, stießen wir einen Ausruf des Erstaunens aus. Wir übersahen die weiße Linie der Mauer, bis sie sich im Duft der Ferne verlor; sie stieg auf und ab, folgte im Zickzack den Launen des Geländes, zog sich in Schlangenwindungen dahin, stürzte sich in Täler, erhob sich wieder mit einem Sprunge, zeigte sich bald von der Seite, bald von vorn. Sie ordnete ihre Türme auf hunderterlei verschiedene Arten, entfaltete stellenweise ihre Zinnen und ließ sie deutlich erkennen, um sie im nächsten Augenblick in plötzlicher Verkürzung zusammenzuziehen. Sie schien zu verweilen und eiligst davonzufliehen, und zwar bis zu beiden Grenzen des Horizontes, bis zu den entferntesten Bergen, wo sie sich dem Auge nur noch als kaum wahrnehmbarer Faden darbot. Und so geht es weiter, 800 Kilometer weit, rings um die ganze Provinz Tschili, eine wunderbare Grenze. Und dies ist nur die „kleine“ Große Mauer. Es gibt noch eine andere, die große, die „Wan-li-tschang-tscheng“, die „Mauer der zehntausend Li“, die wir im Norden von Kalgan antreffen werden; diese erstreckt sich 2400 Kilometer weit längs der Grenzen des eigentlichen China. Aber es gibt nicht nur diese zwei Mauern. Als wir das auf einer kleinen Hochebene liegende Tscha-tau-tschung hinter uns hatten, bemerkten wir neue Türme, neue Bastionen, wie wir solche im Tale von Nankou gesehen hatten. Das chinesische Volk hat mehr als 2000 Jahre darauf verwandt, Mauern gegen den Westen aufzutürmen. Es ist aber nicht länger als drei Jahrhunderte her, daß es den eigenen Thron gerade von jenen Tataren eingenommen sah, die es mit Hilfe von Backsteinen und Kalk fernhalten wollte.
Unserem modernen Geiste erscheint die Große Mauer als ein staunenerregendes Denkmal chinesischer Furcht, unermeßlich und unlogisch, großartig und lächerlich; der Fremde bewundert und verlacht sie. Aber wir vergessen, daß auch die Römer die Grenzen Britanniens durch eine doppelte Große Mauer verteidigten, um dieses Reichsland vor den noch ungebändigten Kaledoniern zu schützen. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Lebensbedingungen das Vorhandensein unübersteiglicher Mauern zwischen Land und Land, zwischen Rasse und Rasse, zwischen Kultur und Barbarei als logisch, natürlich, als notwendig erscheinen ließen. Genau wie wir heute eine nichtendenwollende Arbeit logisch und natürlich finden, die unseren Enkeln vielleicht eines Tages großartiger, lächerlicher und chinesischer vorkommen wird als uns die Große Mauer, nämlich um die Welt Hunderttausende von Kilometern Stahl in Gestalt von Schienen zu legen, die Wälder der Erde niederzuschlagen, um den Schienen Unterlagen zu schaffen, und die Gebirge zu durchbohren, um Geleise mitten hindurchzuführen!
Das Dorf Tscha-tau-tschung betraten wir nicht; es ist von einer quadratischen Mauer mit starken Türmen in den Ecken umgeben. Alle chinesischen Dörfer und Städte sind in ein regelmäßiges Quadrat eingeschlossen, das vielleicht die Form eines früher bestehenden verschanzten Lagers beibehält. Wir zogen im freien Felde rings um den Ort herum auf einer Straße, die zum Teil überschwemmt, aber sicherlich besser war als die durch das Dorf führende, und fanden Unterkunft in einem kleinen chinesischen Gasthause vor dem nördlichen Tore, in einer erbärmlichen Karawanserei. Seit dem Morgen hatten wir 25 Kilometer zurückgelegt.