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quand on a à peindre

      la vie de certains hommes.

       Baudelaire 1

      Raconter un peu de cette histoire

      individuelle, qui, dans

      l’histoire, n’a pas d’historien.

       Edmond de Goncourt 2

      MEIN TELEFON-TAGEBUCH

      Ich saß bei Arthur Schnitzler1.

      »Warum schreiben Sie eigentlich kein ausführliches Tagebuch?«, fragte er mit einem Mal. »Was Sie mir jetzt in einer halben Stunde erzählten und andeuteten, was Sie mich erraten ließen, wäre schon Stoff zu einem hochinteressanten Buch. Selbst wenn Sie nur registrieren, was Sie erlebt haben, bietet das eine solche Fülle von Abenteuern des Geistes, der Kunst, der Gefühle, die in Ihrer Nähe gewachsen sind und ihr Spiel getrieben haben, dass es einfach unerlaubt ist, diesen Spiegel einer Epoche allgemeiner Einsicht vorzuenthalten.«

      Mein Blick fiel auf Schnitzlers Bibliothek: In dicken Manuskriptbänden ruhten dort wohlverschlossen seine kostbaren Tagebücher. Keinen Tag hatte er vorübergehen lassen, ohne ihn im Extrakt festzuhalten.

      »Wie könnte ich es wagen«, erwiderte ich, »ärmliche Aufzeichnungen zu Tagebüchern zu stempeln? Ich hätte nie die Geduld zu so minuziöser Arbeit. Einiges habe ich wohl notiert, meist Politisches, aber nur anfallsweise.«

      »Gerade Sie als Frau begreifen näher und intimer, aus welchen Elementen eine Epoche geworden ist, die im Rückblick gewiss als einheitliches und bedeutendes Ganzes zu erkennen sein wird.«

      »Um Sie versöhnlicher zu stimmen, will ich ein Bekenntnis ablegen. Ich bin süchtig. Telefonsüchtig. Wenn Hofmannsthal das Telefon das ›indiskreteste Instrument‹ genannt hat, so nenne ich es das unmittelbarste und umfassendste. Viele Stunden meines Lebens verbringe und verbrachte ich am Telefon. Sie wissen, dass mir vieles anvertraut wird, und oft hat ein Anruf, ein Gespräch, eine Nachricht, eine Bitte den Anfang, den Höhepunkt oder das Ende schicksalhafter Wendung bedeutet. Diese Telefongespräche, soweit sie mir interessant erschienen, sind mir gegenwärtig. Einzelne Worte erwecken in mir Erinnerungen an Gespräche, Begegnungen, Briefe, die dem Anruf folgten.«

      »Bravo! Ich erwarte also ein Telefontagebuch von Ihnen.«

      Viele Jahre sind seitdem verflossen. Arthur Schnitzler ist tot. Dank der entschlossenen Obsorge seiner Frau sind seine Tagebücher gerettet worden.2 Freilich hatte ich in den Sorgen der letzten Jahre vor Österreichs Untergang jenes nachmittägliche Gespräch bei Schnitzler lange vergessen.

      Wenn man die Flucht ergreift, vergisst man ja meist die notwendigen Dinge und nimmt die überflüssigsten mit; so erging es auch mir. Beim Abschied von Wien ließ ich Wertvolles zurück. Als ich aber in Paris die wenigen mitgeführten Manuskripte und Bücher auspackte, fiel mir als Erstes mein Wiener Telefonbüchel in die Hand. Wer hatte die stupide Idee gehabt, dieses nun toteste aller Bücher einzupacken?

      Zufall? Gibt es das? War es nicht vielmehr das Spiel geheimnisvoller Kräfte, deren Willkür wir unbewusst gehorchen? Wenn, dann war es eine mitleidige Kraft gewesen, die mir mein Telefonbüchel ins Flüchtlingsgepäck geschoben hatte.

      Heimatlos irrt Erinnerung zur Heimat zurück. Hier, an diesen Namen und Zahlen, rankt sie sich empor. Und sanft führt sie mich zu jenem Einst, drückt mir die Feder in die Hand und flüstert mir zu …:

      HERMANN BAHR – DER ERWECKER

       Wien 1892

      »Hallo … Habe ich Sie aufgerüttelt?«

      »Ja. Leider.«

      »Bravo. Das war meine Absicht. Sie sind die Erste, der einzige Mensch – den ich …«

      »Bahr …1 Endlich zurück! Wie konnten Sie sich von Paris losreißen? Drei Jahre waren Sie fort!«

      »Herrlich ist es gewesen. Aber: Wenn man ein Gefäß lange unter den sprudelnden Quell hält, so läuft es über. Ich hab die großartigsten Dinge erlebt. Zola, die Impressionisten, Dostojewski, Stendhal … Das alles erzähle ich Ihnen noch. Man kann nicht stundenlang telefonieren.«

      »Warum nicht? Spricht man je ungestörter? Hat man dann genug, so hängt man auf, ohne das übliche Zeremoniell … Also sprechen wir ruhig weiter. Wie finden Sie Wien?«

      »Deshalb rufe ich Sie doch in aller Frühe an. Das ist ein Friedhof … Nein, ein Friedhof ist etwas Ehrfurchtgebietendes; da war einmal etwas. Aber in Wien spürt man ja nicht einmal mehr das!«

      »Ein Dornröschenschlaf …«

      »Was? Sie reden von Schlaf? Haben Sie je eine Stadt schnarchen gehört? Wien schnarcht.«

      »Na, jetzt sind Sie ja da. Sie werden es schon wachrütteln.«

      »Beuteln werd’ ich’s, das schwöre ich bei Gott! Obwohl Gott diesen Schwur wahrscheinlich nicht zur Kenntnis nimmt, denn er schnarcht ja auch …«

      »Ah, noch immer Ihre atheistischen Scherze? Ich sehe Sie noch als Heiligen enden.«

      »Wenn Sie anfangen, mir den Hermann Bahr zu erklären, dann hänge ich auf … Darf ich mir aber für einen Nachmittag meinen Kaffee ausbitten? Ich brauche nämlich, ehe ich mit dem Beuteln anfang, gewisse Auskünfte. Sie müssen mir da ein paar Marksteine zeigen …«

      »Gern. Ich erwarte Sie also morgen um fünf Uhr.«

      Die Locke in der Stirn, mit den spähenden braunen Augen keck in die Welt blickend, ein zynisches Lächeln um den wohlgeformten Mund, hochgewachsen, selbstbewusst und unbekümmert stand Hermann Bahr vor mir.

      »Das Beste ist, ich schildere Ihnen, was mir heute Kopfschmerzen macht«, begann ich. »Da werden Sie unsere Probleme sofort verstehen. Ich habe Besuch von Pariser Freunden, die ich mit Wiener Kunst und Kultur bekannt machen soll. Damit steht es aber so schlecht, dass ich mich frage: Wie fang’ ich’s an? Die einst berühmte Oper – heute ist sie vernachlässigt, rückständig, auf abgeleierte Belcanto-Opern eingestellt. Das Burgtheater? Wo ist die Zeit, da es für die deutsche Literatur führend war?2 Jetzt besteht das Repertoire aus Epigonen-Dramen und aus Lustspielen für höhere Töchterschulen … Kunstausstellungen? Die Vereinigung ›Künstlerhaus‹3 ist eine Versicherungsanstalt für Tatenlosigkeit.«

      »Da fahre ich lieber gleich wieder weg.«

      »Warten Sie. Einen Markstein – nein, zwei Marksteine kann ich Ihnen zeigen. Die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaften, die Medizin, und, es ist komisch, gleichzeitig davon zu sprechen – die Wiener Operette.«

      »Warum finden Sie das komisch? Da kann ein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen. Aber da Sie Ihre Pariser Freunde weder in die Anatomie noch ins Irrenhaus führen können …«

      »Ich führe Sie heute Abend ins Theater an der Wien4. Dort ereignet sich ein österreichisches Wunder. Es gibt Johann Strauß5, und es gibt Alexander Girardi6, der – in seiner Art – Österreich beinahe mystisch verkörpert. Der hinreißendste, volkshafteste Darsteller seit Nestroy.«

      »Verzeihen Sie, das ist nicht die richtige Charakteristik. Ich bin lange fort gewesen, aber so wie Girardi in mir lebendig ist, sehe ich ihn als Dämon des österreichischen Wesens in seiner gewaltigen Vielfarbigkeit.«

      »Ja, seine Heiterkeit reicht vom weisesten Humor bis zur beißenden Ironie. Eine Einsicht und ein Erkennen, und die verschämte Träne.«

      »Sie sind mit ihm befreundet?«

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