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warf einen raschen Blick nach links zu seinem Freund und musste dabei fast losprusten.

      Wie immer ließ Bull sich nicht lange bitten, ihn aufzuheitern. Sein Kopf, den er in einen dicken Schal gewickelt hatte und mit einer unförmigen, zu großen Wollmütze warmhielt, sah mittlerweile aus wie eine gefrorene Schweineschwarte. Sein Bart, der schon seit vier Wochen wuchs, war nun vereist, und zu hellen Stalaktiten erstarrter Schleim hing aus seinen Nasenlöchern. Er hatte einen blassgrauen Teint, abgesehen von seiner Nase, die hellrot war, doch Marty fühlte sich nicht aufgrund seiner armseligen und abgehärmten Erscheinung zum Lachen geneigt, sondern wegen des Ausdrucks in Bulls Augen.

      Er war wehleidig, was seltsamerweise dazu beitrug, dass Marty sich besser fühlte. Allein zu wissen, dass jemand bei ihm war und sein Unbehagen teilte und genauso litt wie er, falls nicht sogar noch schlimmer, reichte aus, um sein Gemüt ein wenig zu heben.

      Die beiden kannten sich schon lange, hatten sogar im gleichen übergeordneten Regiment gedient, und es war Marty gewesen, der den anderen die geheimen Ursprünge des Spitznamens seines Freundes erklärt hatte.

      Marty entsprach vollkommen dem Typus des aufmüpfigen Schotten, wie man es allseits kannte. Der große, dunkelhaarige Kerl stammte gebürtig aus Glasgow und legte einen entsprechenden Akzent an den Tag, weshalb sich alles, was er sagte, wie vor Zorn geifernd anhörte. Er konnte versuchen, seiner Ansicht und Bewunderung Ausdruck zu verleihen, was ein großartiges, prachtvolles Kunstwerk oder Opernstück betraf, und es klang trotzdem so, als ob er es aus tiefstem Herzen hasste. Seine Wortwahl war stets grob, seine Mimik ungehobelt, und er vermittelte andauernd den Eindruck, drauf und dran zu sein, einer unglücklichen Seele in seiner Nähe Schläge zu verpassen.

      Allerdings wurde jedem, der sich die Mühe gab, Marty genauer kennenzulernen, schnell bewusst, dass der große Schotte unter dem Furcht einflößenden Äußeren aus bleicher Haut, krummer Nase und finster starrenden Augen ein erstaunlich geistreicher und freundlicher Mensch war. Mit seiner unentwegten Loyalität und einer überdurchschnittlichen Intelligenz hatte er sich gegenüber all seinen Kameraden als enger und verlässlicher Gefährte bewiesen.

      Marty drückte sein Auge nun wieder gegen den Gummirand seines Visiers. Im Zielbereich rührte sich weiterhin nichts, doch ein kurzer Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass sich das alles innerhalb der nächsten halben Stunde ändern würde.

      Unmittelbar vor ihnen – exakt dreihundertdreiundzwanzig Meter weit entfernt – stand ein kleines Gebäude ohne Obergeschoss aus sowohl orangefarbenen als auch grauen Ziegelsteinen mit einem dicken Strohdach. Drei kleinere Bauten aus Wellblech links und rechts vervollständigten das Bild des Bauernhofs.

      Marty und Bull konnten die Distanz so genau bestimmen, weil sie diese mit ihren Suchern gemessen und die Visiere ihrer Waffen demgemäß angepasst hatten.

      Das Gelände in der Umgebung der Hofanlage lag offen vor ihnen und war eben. Man hatte mehrere überschaubare Weideflächen mit Stacheldraht angelegt, auf denen ausgemergelt aussehende Kühe den Erdboden zu ihren Füßen beschnupperten.

      Die Enten und Gänse waren die schwierigsten Hürden gewesen, denn im Laufe der vergangenen Woche hatte der Kampfverband das Gebiet unterwandert, Abhörgeräte und winzige Kameras installiert, ja sogar Explosiva positioniert. Dass sie dabei an dem stets wachsamen Geflügel vorbeigekommen waren, stellte für sich genommen schon eine beachtliche Leistung dar.

      Denn Gänse galten seit jeher als gute Alternative zu Wachhunden oder ausgeklügelten und technisch fortgeschrittenen Frühwarnsystemen.

      Sie kosteten nicht viel und ließen sich ohne Aufwand einsetzen.

      Die letzte Phase der Operation stand nun kurz bevor. All die Anstrengung, das Sichten von Informationen und das gründliche Planen sollten jetzt auf einen endgültigen Höhepunkt hinauslaufen.

      Marty schaute wieder auf seine Uhr.

      »Fünfzehn Minuten«, murmelte er aus dem Mundwinkel heraus.

      Bull nickte, zog seine Wollmütze aus, wickelte sich den Schal vom Kopf und steckte beides in die Brusttasche seiner Jacke. Als Nächstes entledigte er sich seiner dicken Winterhandschuhe, sodass nur noch jene aus dünnem Leder, die für Piloten gedacht waren, zum Schutz seiner empfindlichen Haut vor dem harten, eiskalten Stahl seines Maschinengewehrs blieben.

      Er konzentrierte sich nun ganz auf die Waffe vor ihm. Ihm war klar, sie funktionierte klaglos, zumal er sie stets mit mehr Sorgfalt und Umsicht behandelte als sich selbst, aber er konnte es trotzdem nicht bleiben lassen, sie noch ein letztes Mal zu überprüfen. Diese Maxime war ihm einfach in Fleisch und Blut übergegangen: Erst mein Gewehr, dann ich selbst.

      Daraufhin begann er, seine Muskeln zu bewegen, um sicherzugehen, dass seine Glieder auch hinreichend durchblutet waren. Der Schmerz in seinen verfrorenen Füßen ließ sich nun kaum noch ertragen, während er versuchte wieder Leben in seine Zehen zu bringen. Er verzog sein Gesicht, als seine Fingerspitzen zu kribbeln begannen.

      Diese Routine – ein regelrechtes Ritual – hatte er schon tausend Mal zuvor durchexerziert, doch leichter wurde sie trotzdem nie. Bull gehörte nun fast schon länger zur Armee, als er zugeben wollte, doch es gab gewisse Unannehmlichkeiten, mit denen er sich wohl niemals anfreunden würde. Nichtsdestotrotz ließ er sich zu keiner Gelegenheit vom Ausüben seiner Pflichten abhalten und, was umso wichtiger war, er ließ es niemals zu, dass irgendjemand seine Beschwerden bemerkte.

      Als er sich vergewissert hatte, dass nun alles bereit war, hob er den Kolben des Gewehrs an und legte ihn an seine Schulter, wobei er es leicht auf sein Zweibeinstativ drückte, um einen festeren Halt zum Schießen zu haben. Danach trug er Sorge, dass der lange Patronengurt, der linksseitig in die Waffe eingezogen wurde, unbehindert blieb und ohne Ladehemmungen, durch die Zufuhr gleiten konnte.

      Während sein Daumen am hervorstehenden Sicherungshebel ruhte, der im Haltegriff angebracht war, ging Bull in Feuerstellung und wartete.

      Marty konnte die Sekunden geradezu ticken hören. Die letzten Augenblicke vor Beginn eines Einsatzes waren stets die schlimmsten. Während sein Körper dazu überging Adrenalin auszuschütten und seine Gedanken rasten, kam es ihm immer so vor, als stehe die Zeit still. Sein Magen verkrampfte sich unweigerlich und seine Sinne wurden schärfer. So entging seinen Augen nicht einmal kleinste Einzelheiten, und selbst das leiseste Geräusch klang laut in seinen Ohren.

      Er hatte sich noch nie vor dem Sterben gefürchtet. Es war ein Risiko, das sie alle bereits zu zahllosen Gelegenheiten auf sich genommen hatten, und sollte es irgendwann tatsächlich geschehen, hoffte er lediglich, dass es schnell und schmerzlos ablaufen würde.

      Seine größte Sorge bestand allerdings, genau wie bei allen anderen Mitgliedern des Verbandes darin, dass man womöglich etwas übersehen hatte. Er ging noch einmal seine Kontrollliste im Kopf durch und hakte danach jeden Punkt ab, um sich selbst zu bestätigen, dass alles in Ordnung war. Falls sie doch etwas vergessen hatten, konnten sie jetzt allerdings sowieso nichts mehr daran ändern.

      »Fünf Minuten«, erfuhren sie von einer heiseren Stimme in ihren Hörmuscheln.

      Es war die Stimme ihres Einsatzleiters Stan.

      Keiner der beiden musste ihn sehen, denn sie wussten genau, dass er nur fünfzig Meter weiter rechts positioniert war und das gesamte Areal von einer Stelle aus überblickte, die es ihm ermöglichte, angemessene Befehle zu erteilen, um die Kontrolle über die Operation zu wahren.

      Stan war deutlich älter als sie, doch sein Äußeres täuschte darüber hinweg. Er legte ungeheure Stärke und Fitness an den Tag, weshalb viele glaubten, er habe überhaupt keine Schwächen. Niemand kannte sein genaues Alter, doch die meisten gingen davon aus, dass er Anfang fünfzig sei. Unabhängig davon entzogen sich seine Gewandtheit und Kraft den Jahren, auf die man ihn schätzte. Seinem wachsamen Auge und gewitzten Verstand entging rein gar nichts.

      Gerüchten zufolge konnte er Lügen geradezu riechen und hatte einmal als Vernehmer des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 gearbeitet. Doch Stan zu einer wirklichen Lebensbeichte zu bewegen war fast genauso unwahrscheinlich wie die Quadratur eines Kreises. Stattdessen mussten sich die Angehörigen des Kampfverbands

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