Скачать книгу

mir sogar fast in die Hose, John!«

      Er streckte eine Hand aus und klopfte ihm so fest auf die Schulter, dass der Mann beinahe vornüber in den Schlamm zu seinen Füßen gefallen wäre.

      »Psst«, zischte der dürre Soldat. »Der Regen hat aufgehört.«

      Sie hielten inne und schauten zum Himmel hinauf. Die Wolken waren zwar immer noch grau, aber nicht mehr so dicht und brachen nun allmählich auf. Hoch oben über der Atmosphäre funkelte das Sternenzelt vor der Schwärze des Weltalls.

      Mit einem Mal stellten sie fest, dass sie ihre Stimmen gar nicht mehr erheben mussten, um sich gegen die hämmernden Tropfen verständlich machen zu können, die alle anderen Geräusche ausgeblendet hatten. Die Nacht war ruhig und beschaulich. Aber dann brach aus der Ferne das leise, fahrig machende Murmeln aus.

      »Das hört nie auf, oder?«, wisperte John, während er hinauf zu dem Rand der Mauer schaute, die ihnen Schutz bot und die Flut des Todes zurückhielt.

      Abertausende kummervolle Stimmen vereinten sich in ihrem Wehgeschrei. Der Chor der Toten, die am äußeren Rand des Geländes versammelt waren, dröhnte zu ihnen hinüber und gegen den Wall. Dieser Gleichklang stellte die eine Konstante dar, auf welche sich die Überlebenden verlassen konnten, aber sich daran zu gewöhnen? Niemals. Es verfolgte sie, zerrte an ihren Nerven und schürte immerzu ihre Ängste.

      Sie wussten, die Toten würden niemals von ihnen ablassen.

      Nachdem die beiden Männer den Tunnel betreten hatten, gingen sie nebeneinander her. Ein leichtes Gefälle führte sie zusehends tiefer unter die Erde. Diesen Gang auszuheben hatte neun Jahre gedauert und mehr als fünfzig Männern und Frauen das Leben gekostet. Nun da ihre Festung von der Masse schwärender Leiber umgeben war, markierte er ihren einzigen Verkehrsweg.

      Der eine Hubschrauber, den sie besessen hatten, war vor sieben Jahren hinfällig geworden, ohne dass die Mechaniker, obwohl sie ihr Handwerk beherrschten und sich wirklich ins Zeug gelegt hatten, in der Lage gewesen wären, ihn zu reparieren. Jetzt stand er rostend da und ließ die Monate an sich vorbeiziehen, während er sich langsam in ein weiteres Relikt der Menschheit, eine überkommene Errungenschaft der Zivilisation verwandelte.

      Auch die drei Panzer vom Typ Challenger-II die eine wesentliche Rolle für ihr Überleben gespielt hatten, waren dem Zahn der Zeit und den Gefahren der neuen Welt anheimgefallen. Einer stand nun vierhundert Meter vor der Mauer, nachdem ihm sechs Jahre zuvor eine Kette abgesprungen war.

      Die Toten hatten ihn rasch umzingelt, sodass die Insassen eingeschlossen und außerstande gewesen waren, zu fliehen. Länger als zwei Wochen hatten die Menschen in der Festung den Funkkontakt zur Besatzung des Panzers aufrechterhalten und ihr Möglichstes getan, um eine Rettung zu lancieren. Letztendlich war ihr Versuch aber gescheitert, die gefangenen Männer zu bergen, die bald darauf nichts mehr zu essen und trinken hatten, weshalb sie Selbstmord begangen hatten – und bis heute dortgeblieben waren.

      Der rostende Panzer war auf ewig ihr Grab geworden.

      Die zwei übrigen Fahrzeuge hatten die zahlreichen Konfrontationen mit lebenden Angreifern nicht überstanden, also konnten Sammler nur noch den Tunnel benutzen, um das Lager zu verlassen und es später wieder zu betreten.

      Zum Glück hatte kein verfeindeter Zusammenschluss von Menschen überlebt, um sich ihnen weiterhin entgegenzustellen.

      Die beiden setzten ihren Weg durch den düsteren Gang, den nur ein paar Glühbirnen erhellten fort, weil man woanders kaum auf sie verzichten konnte. Ratten quiekten und huschten an den Wänden entlang. Man hörte ihre Krallen am Lehmboden scharren sowie Wasser, das von oben durch die Erde sickerte und von den dicken Stützbalken des Tunnels rann, und dann auf den Boden tropfte, sodass es in der engen Umgebung widerhallte.

      Der Schacht war breit genug für eine Person, die darin aufrecht stehen und die Arme nach den Seiten ausstrecken konnte, und sehr lang – 2,9 Kilometer, um genau zu sein. Alle fünfhundert Meter versperrte eine Tür aus dicken Stahlgittern den Weg, die jeweils entriegelt, dann von der Wand zurückgeschoben und wieder geschlossen werden musste. An zwei Stellen hatte man den Tunnel mit Sprengstoff bestückt, der sich sofort zünden ließ, falls die Toten den Geheimgang entdecken sollten.

      Nachdem sie eine Weile unterwegs waren, stellten die Männer plötzlich fest – es war ihnen bisher gar nicht aufgefallen –, dass sie während ihres Abstiegs durch das schummerige Licht an die Decke des Tunnels starrten. Keiner der beiden musste auch nur ein Wort sagen, denn sie wussten genau, was der jeweils andere dachte.

      Nicht weit über uns steht eine ganze Armee mit verfaulten Füßen.

      Der Gang endete an einer letzten Tür. Bei ihr handelte es sich um eine Luke, die man aus einem Kriegsschiff entnommen hatte. Sie bestand aus vier Zentimeter dickem Stahl und ließ sich noch nicht einmal mit Gewalt öffnen, weshalb sie die abschließende Barriere war, welche die Menschen von der Gefahr draußen trennte.

      Den Bau des Tunnels konnte man einen Geniestreich nennen, für den sich ein Ingenieur namens Michael verantwortlich zeichnete. Er hatte Monate, nein, Jahre damit verbracht, die Arbeit unter hohem Risiko für sich und sein Team zu beaufsichtigen und dabei leider auch viele Helfer verloren. Mit umfassender Sachkenntnis und Geduld hatte er über jeder Karte, jeder Luftaufnahme und jedem Stadtplan gebrütet, um sie zu verinnerlichen – alles, was ihnen bei ihrer bevorstehenden Aufgabe hätte helfen können. Unter diesen Umständen war es ein technisches Kunststück gewesen, dem die Überlebenden eine höhere Bedeutung zumaßen als jedem architektonischen Meisterwerk aus der alten Welt.

      Michael hatte den Tunnel so angelegt, dass er hinter dem Fundament eines Wasserhebewerks aus der viktorianischen Zeit endete. Das Gebäude war noch bis zu den Tagen in Gebrauch gewesen, als die Menschheit dem Sturm der Toten nachgegeben hatte; jetzt trugen das starke Gemäuer und die schwere Tür dazu bei, dass der Geheimgang verborgen und unversehrt blieb.

      Die Arbeit war mit vollkommener Genauigkeit abgeschlossen worden, der Tunnel exakt dort hervorgetreten, wo Michael es beabsichtigt hatte.

      Leider war er selbst ein Jahr zuvor an Krebs gestorben. Die Krankheit hatte bis in seine Knochen gestreut, und niemand hatte etwas zu seiner Hilfe unternehmen können. Am Ende hatte er eine Überdosis Morphium genommen, um seine Qualen zu lindern.

      Die beiden Soldaten blieben vor der Luke stehen und lasen leise eine Inschrift, die man in die Wand geritzt hatte.

      Für Michael,

      den Mann, der mit Schaufel und Hacke für unseren Fortbestand kämpfte, seine persönliche Schlacht jedoch nicht gewinnen konnte.

      Im ewigen Gedächtnis.

      Ruhe sanft.

      Am Boden darunter lag ein Strauß welker Blumen neben einer Kerze, die vollkommen abgebrannt war, sodass nur noch eine erstarrte Wachspfütze zurückgeblieben war.

      Die Zwei traten von der Tür zurück, hoben ihre Gewehre und spannten die Hähne ein wenig, aber nur so weit, dass sie die Messinghülse in der Lücke glänzen sehen konnten. Im Wissen darum, dass ihre Waffen schussbereit waren, entspannten sie die Mechanik wieder und prüften ihre Ausrüstung ein letztes Mal, die Gewehre und ihre Reservemunition ebenfalls.

      Der Größere zielte dann auf die Tür, während sich der Schmächtige langsam anschickte, die versenkte Verschlussvorrichtung aus der festen Steinwand zu ziehen. Das Schloss ließ sich nur schwer bewegen, weshalb er sich sehr anstrengen musste und sein Gesicht verzog, weil er befürchtete, es mit zu viel Kraft zu lösen und an sich zu reißen, was einen ohrenbetäubenden Lärm verursacht und alle an der Oberfläche hellhörig gemacht hätte.

      Nachdem er es mit großer Mühe geschafft hatte, war die Tür endlich entsichert.

      Der große Soldat hörte sein Herz klopfen, während er sich das Gewehr fest gegen die Schulter stemmte und spürte, wie ihm der Schweiß von der Stirn ins Gesicht lief. Er nickte seinem Freund kurz zu, der die sperrige Luke daraufhin zurückzog.

      Sie ging leise quietschend auf, und beide Männer machten sich darauf gefasst, dem entgegenzutreten, was in welcher Form auch immer dahinter auf sie warten

Скачать книгу