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konnte nichts dafür, die Tränen verschleierten ihren Blick, und sie riss sich erst ein wenig zusammen, als ein Auto sie anhupte, weil sie urplötzlich bis zur Mitte der Fahrbahn gefahren war.

      *

      Hilda Hellwig freute sich auf einen gemütlichen Fernsehabend. Sie war ein Krimi-Fan, und heute gab es einen Film der Serie, die sie besonders liebte.

      Sie stellte schon mal eine Schale mit Chips zurecht, legte eine Tafel Schokolade in die Nähe, man konnte ja nie wissen. Und dann stellte sie ein Glas bereit und eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche Rhabarbersaft, den hatte sie für sich entdeckt. Er war köstlich, und am besten schmeckte er, wenn sie ihn als Schorle mit Mineralwasser verdünnt trank. So war er ihr zu süß.

      Es würde ein schöner Abend werden, auf den sie sich freute. Hilda überlegte, ob sie sich nicht schon ihren Schlafanzug anziehen sollte, dann wurde es noch gemütlicher.

      Mitten in ihre Gedanken hinein läutete es Sturm.

      Sie zuckte zusammen.

      Hoffentlich war das nicht ihre Tochter Cornelia, die wieder Geld von ihr haben wollte. Cornelia war ihr einziges Kind, doch manchmal dachte Hilda schon, ob man sie im Krankenhaus damals vertauscht hatte. Dieser Meinung war auch ihr verstorbener Mann, Gott hab ihn selig, gewesen. Cornelia war an nichts weiter als an Geld interessiert, und wenn Hilda daran dachte, sie ihre eigene Tochter sie sogar bestohlen hatte, wurde ihr noch ganz anders zumute.

      Nein, Cornelia sollte es jetzt nicht sein. Sie fühlte sich schlecht, jetzt solche Gedanken zu haben, doch Cornelia hatte dafür gesorgt, dass alle Gefühle für sie gestorben waren. Natürlich würde sie immer für sie sorgen, und Cornelia war auch versorgt, wenn sie mal nicht mehr war. Aber wünschte man sich als Mutter nicht etwas anderes, als nur als Versorgungsanstalt da zu sein?

      Es klingelte erneut, diesmal noch heftiger. Es hatte keinen Sinn, sie konnte nicht so tun als sei sie nicht zu Hause. Es brannte überall Licht.

      Hilda ging zur Tür öffnete. Sie prallte beinahe zurück, als sie Leonie bemerkte, die völlig verstört vor ihr stand, und es war nicht zu übersehen, dass das Mädchen geweint hatte.

      Es musste etwas ganz Schreckliches geschehen sein, es war nicht zu übersehen, dass Leonie geweint hatte, sie war ja vollkommen aufgelöst. Ob etwas mit ihrer Mutter passiert war?, schoss es Hilda durch den Kopf. Das arme Mädchen!

      So, wie Leonie augenblicklich drauf war, das war schlimm, das ließ sich nicht mit einem heißen Kakao beheben.

      Es war eine Situation, mit der Hilda nur schlecht umgehen konnte. Sie liebte Leonie, und es war für sie unerträglich, die Ärmste so leiden zu sehen.

      »Leonie …«, stammelte Hilda, mehr brachte sie nicht über ihre Lippen.

      Der Kater sprang von Leonies Arm, huschte blitzschnell ins Haus hinein.

      Eigentlich mochte Hilda keine Katzen, als Haustiere waren ihr Hunde lieber, wenn überhaupt. Wenn man sich ein Tier anschaffte, dann musste man sich klar darüber sein, dass es kein Spielzeug war, das man irgendwann einfach in die Ecke stellen oder entsorgen konnte. Ihr war die Verantwortung zu groß.

      Hilda sagte jedoch nichts. Leonie hatte gewiss ihre Gründe dafür, warum sie ihre Katze mitgebracht hatte. Blacky hieß er wohl, erinnerte Hilda sich, und Leonie liebte den ihr zugelaufenen Kater.

      Leonie sagte auch nichts, sondern warf sich wie eine Ertrinkende in Hildas Arme, klammerte sich verzweifelt an ihr fest und begann, hemmungslos zu schluchzen.

      Um Gottes willen!

      Leonies emotionaler Ausbruch machte Hilda Angst. Sie hatte das Mädchen schon traurig, betrübt, unglücklich erlebt, so jedoch noch nie.

      Hilda streichelte ein wenig hilflos beruhigend den Rücken des verzweifelten Mädchens, doch es dauerte eine ganze Weile, ehe das Schluchzen verebbte.

      Endlich konnte Hilda eine Frage stellen. »Leonie, was ist geschehen?«

      Hätte sie das bloß nicht getan. Sofort löste diese Frage bei Leonie einen erneuten Tränenschwall aus, der zarte Mädchenkörper wurde vor Erregung geschüttelt.

      Hier draußen konnten sie nicht bleiben. Hilda führte die willenlose Leonie ins Wohnzimmer, drückte sie aufs Sofa, setzte sich daneben, und dann ergriff sie Leonies kalte, schlaffe Hand, streichelte sie behutsam und wartete, bis das Schluchzen verstummt war.

      Hilda überlegte kurz, dann erkundigte sie sich leise: »Leonie, Liebes, willst du jetzt mit mir reden über das, was dich so aus der Bahn geworfen hat?«

      Leonie zitterte, schluchzte kurz auf, riss sich zusammen, dann nahm sie wortlos die Babytasche aus ihrem Beutel, reichte sie Hilda, die ein wenig verwundert war. Was sollte sie damit? Dieses kleine, unscheinbare Täschchen konnte unmöglich an Leonies Ausbruch die Schuld tragen.

      »Hilda, sieh bitte hinein.«

      Das tat Hilda.

      Sie fand in dem Täschchen eine kleine Babyrassel und eine goldene Kette. Auf dem Anhänger stand der Name ›Claire‹. Es war ein wunderschöner Name, weich und klangvoll, kein Grund, sich deswegen zu erregen.

      »Ich weiß damit nichts anzufangen«, Hilda war verunsichert, »was bedeutet das?«

      Es folgte ein tiefer Seufzer, dann kam ein: »Claire, das bin ich.«

      »Ach so, Claire ist dein zweiter Name, du heißt also Leonie-Claire. Das klingt wunderschön, doch deswegen bist du ja wohl nicht so aufgeregt, oder?«

      Leonie weinte erneut, Hilda nahm sie wieder in die Arme, drückte sie fest an sich, sprach beruhigend auf sie ein.

      Allmählich hörte das Weinen auf, Leonie-Claire griff erneut in die Tasche und reichte Hilda einen dicken Briefumschlag, der bereits sehr mitgenommen aussah, er war zerknautscht, die Tränenspuren darauf waren nicht zu verkennen.

      »Lies das bitte«, sagte das Mädchen dumpf, »dann wirst du alles verstehen.«

      Hilda Hellwig zögerte, den Brief aus dem Umschlag zu ziehen, sie ahnte, dass in diesem Umschlag des Rätsels Lösung lag, und das war etwas, was das arme Ding in allen Grundfesten erschüttert hatte.

      Sie spürte den Blick des Mädchens auf sich gerichtet, da gab sie sich einen Ruck, zog die eng beschriebenen Blätter aus dem Umschlag. Dabei zitterte ihre Hand.

      Sie holte tief Luft, dann begann sie zu lesen. Das ging nicht an einem Streifen, sie musste zwischendurch eine Pause einlegen, denn es war ungeheuerlich, es war erschütternd, was sie da lesen musste. Manche Passagen musste sie ein zweites Mal lesen, weil sie glaubte, dass sie da etwas missverstanden hatte. Sie hatte es nicht.

      Der Text des Briefes verschlug einem den Atem.

      Sie war außer sich, sie merkte, wie ihr Herz stärker schlug, sie merkte, dass sie feuchte Hände bekam.

      Sie war außer sich, wie musste es da in dem armen, armen Mädchen aussah. Hilda wollte etwas Tröstendes sagen, doch sie bekam kein einziges Wort heraus. Welche Worte sollte man denn auch finden? Ihr fielen keine ein.

      Hilda legte mit zitternden Fingern den Brief auf den Tisch, dann wandte sie sich ihrer Besucherin zu, nahm sie ganz fest in ihre Arme, hielt sie liebevoll umfasst, eine ganze Weile.

      Es war Leonie, die eigentlich Claire hieß, die zuerst anfing zu sprechen.

      »Hilda, ich habe eine solche Angst. Man wird mich in ein Heim sperren, vielleicht komme ich auch in ein Gefängnis, denn wir haben ja illegal gelebt.«

      Sie musste jetzt die richtigen, die überzeugenden Worte finden, damit das Mädchen nicht wieder anfing zu weinen.

      Hilda schickte ein Stoßgebet gen Himmel, jetzt bloß die richtigen Worte finden!

      »Du kommst nirgendwo hin, mein Herz, du bleibst bei mir, und ich regele alles für dich. Ich bleibe bei dir, solange du es haben möchtest, ich bleibe bei dir, wohin du auch gehst.«

      »Versprochen?«, wisperte Leonie-Claire.

      »Versprochen,

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