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von dem würde Leonie noch lange zehren, denn immerhin war es der erste Schulausflug ihres Lebens.

      Leonie rannte die Straße entlang, sie hatte es eilig.

      Verwundert bemerkte sie, dass Blacky, ihr schwarzer Kater, vor der Haustür hockte und kläglich miaute. Warum hörte Mami das denn nicht?

      Leonie bückte sich, nahm den Kater auf den Arm, der sofort begann, behaglich zu schnurren.

      »Bist der Mami wohl entwischt?«, fragte sie. »Ja, ja, das hat man davon, wenn man nicht hört.«

      Sie schloss die Haustür auf, trat ein, ließ den Kater vom Arm, der merkwürdigerweise nicht davonstob, sondern an ihrer Seite blieb.

      »Mami, ich bin wieder da, und es war ganz toll«, rief Leonie, »und wenn ich dir erzähle, was …«

      Leonie brach ihren Satz ab, ein unbehagliches Gefühl beschlich sie, das sie sich nicht erklären konnte. Auch der Kater war anders als sonst.

      »Mami …«

      Leonie wusste nicht, warum sie so beunruhigt war, ihre Mutter nicht sofort zu sehen. Sie stand nicht immer parat, wenn sie nach Hause kam, dafür war das Haus viel zu groß, und wenn man sich oben aufhielt, wusste man nicht, was unten los war.

      Leonie rannte ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Gästebad.

      Von ihrer Mutter keine Spur!

      Ihr Herz begann zu klopfen, als sie die Treppe hinaufrannte. Ihrer Mami war doch nichts passiert? Schließlich war sie den ganzen Tag weggewesen.

      Sie ging ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Da war nichts, nur der Kleiderschrank war ein wenig verrückt. Im Badezimmer war auch niemand, nicht im Gästezimmer.

      War ihre Mami wieder ein wenig sentimental und hielt sich in ihrem Prinzessinnenzimmer auf? Das tat sie manchmal, wenn sie Sehnsucht nach ihr hatte. Ja klar, nur da konnte sie sein.

      »Mami, da bin ich wieder.«

      Von ihrer Mutter gab es auch hier keine Spur, doch Leonie entdeckte sofort das kleine Babytäschchen und den dicken Umschlag.

      Was hatte das zu bedeuten?

      Sie blieb wie angewurzelt stehen, traute sich nicht, auf ihr Bett zuzugehen, weil sie wusste, dass das alles nichts Gutes zu bedeuten hatte.

      Ihr Herz schlug wie verrückt, sie merkte, wie sie zitterte, all ihre Freude war wie weggeblasen, Angst beschlich sie.

      Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so dagestanden hatte, irgendwann lief sie auf ihr Bett zu, öffnete zuerst einmal das kleine Täschchen. Darin fand sie eine winzige Babyrassel und eine goldene Kette, auf der ein Name eingraviert war, den sie noch nie zuvor gehört hatte – ›Claire‹.

      Was hatte das zu bedeuten?

      Warum hatte sie diese Dinge noch nie zuvor gesehen?

      Warum hatte die Mami niemals darüber gesprochen?

      Wo war dieses Täschchen mit dem unerklärlichen Inhalt aufbewahrt gewesen?

      Vor lauter Fragen wurde Leonie ganz schwindelig.

      Irgendwann griff sie nach dem Umschlag, öffnete ihn, begann zu lesen, und dann brach sie stöhnend zusammen. Es durfte alles nicht wahr sein. Man spielte ihr einen bösen Streich.

      Sie las den Brief wieder und wieder, es war kein böser Streich, es war die bittere Wahrheit, und Mami war nicht mehr da, um ihr eine Erklärung zu geben.

      Mami …

      Sie begann bitterlich zu weinen, denn ihre heile Welt war zusammengebrochen, war zusammengestürzt wie ein Kartenhaus.

      Was sollte sie jetzt tun?

      Ihre Tränen versiegten, sie war wie gelähmt, und nicht einmal Blacky konnte sie trösten, der um ihre Füße strich.

      So war es also, wenn man allein war, wenn die Welt in Scherben vor einem lag.

      Ganz allmählich begriff sie, dass ihre Mami nicht ihre Mami war, und sie war auch nicht Leonie, sie war Claire. Und es gab eine andere Frau, die ihre leibliche Mutter war.

      All das war mehr als ein Mensch aushalten konnte. Sie begann zu begreifen, dass es niemals mehr so sein würde, wie es gewesen war. Es war alles aus und vorbei. Und sie hatte keine Ahnung, was kommen würde.

      Ihre heile Welt gab es nicht mehr!

      Was sollte sie jetzt tun?

      Zu Manuel gehen?

      Nein, diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Der arme Manuel hatte seine eigenen Probleme. Was bei den Münsters geschehen war, das war ganz schrecklich.

      Aber immerhin hatte man Manuel nicht sein Leben weggenommen. Er war noch immer Manuel, sein Vater noch immer sein Vater, und seine Stiefmutter: Ja, die gab es wirklich, auch wenn die Ärmste jetzt im ­Krankenhaus lag nach diesem schrecklichen Autounfall, den sie durch ihre Raserei selbst verschuldet hatte. Sie hatte ihr ungeborenes Baby verloren, das war schlimm, ihr schnittiger Sportwagen war nur noch ein Haufen Schrott. Wenn man so reich war wie die Münsters, dann konnte man sich leicht einen neuen Sportwagen kaufen, die Verletzungen von Frau Münster würden wieder heilen. Doch ihre eigenen? Sie begann verzweifelt zu weinen, sie hatte niemanden mehr.

      Plötzlich richtete sie sich auf. Das stimmte nicht! Warum hatte sie denn nicht an die Frau gedacht, die wie eine Omi zu ihr war? Natürlich! Sie musste zu Hilda, ihrer großmütterlichen Freundin, zu der flüchtete sie sich doch immer, wenn sie Probleme hatte, und Hilda konnte so wunderbar trösten, und sie machte den allerbesten Kakao von der ganzen Welt.

      Sie packte das Täschchen und den Brief zusammen, stopfte beides in eine Umhängetasche, dann nahm sie Blacky auf den Arm, lief mit ihm hinunter. Als sie an der Küchentür vorbeikam, begann Blacky zu miauen, sprang von ihrem Arm, lief in die Küche, und da begriff sie, was er wollte. Er hatte Hunger.

      »Armer Blacky«, murmelte sie, »du sollst nicht darunter leiden, dass alles so anders ist, so schrecklich.«

      Automatisch bereitete sie sein Futter zu, sah, wie gierig er das hinunterschlang.

      Sie überlegte, dann fasste sie einen Entschluss. Sie würde niemals mehr in dieses Haus hier zurückkehren, auch nicht in ihr Prinzessinnenzimmer, das sie gekauft hatten, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Sie war so stolz und glücklich gewesen, doch jetzt spürte sie nichts mehr. Aber Blacky durfte nicht zurückbleiben.

      Sie griff nach dem Einkaufskorb, den sie sich immer auf den Gepäckträger klemmte, wenn sie einkaufen ging, weil Mami, nein, die war sie ja überhaupt nicht, nicht in der Lage dazu gewesen war.

      Es war schrecklich! Sie war durcheinander! Sie war unglücklich! Es war überhaupt nicht zu beschreiben, was sich in ihr abspielte. Aber Blacky, der konnte nichts dafür. Ahnte der Kater etwas?

      Er ließ sich in den Korb setzen, und aus dem sprang er auch nicht, als sie ihn auf den Gepäckträger klemmte. Tiere waren schlau. Blacky wusste, dass das seine einzige Chance war.

      Sie redete beruhigend auf ihn ein, und dann radelte sie los.

      Sie war den Weg nach Rottenburg so oft geradelt!

      Mit einem Gefühl der Vorfreude, wenn sie sich zu Hilda geschlichen hatte, um sich von ihr heimlich Klavierstunden geben zu lassen.

      Wenn sie traurig gewesen war, weil sie nicht verstehen konnte, was mit Mami los war, die ihre Mami nicht mehr war.

      Ihr Verstand begriff das, doch ein Herz ließ sich nicht einfach abstellen. Sie wusste nicht mit den Gefühlen umzugehen, die in ihr waren, die zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, aber auch Wut und Ärger schwankten.

      Sie radelte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Blacky gefiel das nicht, doch er sprang nicht aus dem Korb.

      Das machte sie froh, denn Blacky war zu ihnen gekommen, als sie in das wunderschöne Haus gezogen waren, und jetzt ging er mit ihr. Sie hätte ihn wirklich nicht zurücklassen dürfen. Es reichte, wenn man sie zurückgelassen hatte, einfach

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