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vergönnt, Sie vor dem Hinabgleiten von dem Polstersitze zu bewahren. – Bitte, verhalten Sie sich noch einen Augenblick still, bis Sie sich ganz erholt haben. Gestatten: Baron von Blendel.“

      Sie machte sich sanft aus seiner Umschlingung los.

      „Ich danke Ihnen“, sagte sie einfach. Sie rückte etwas von ihm ab und fügte erklärend hinzu: „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Mein Vater ist seit gestern früh verschwunden. Ich habe ihn in Berlin gesucht.“

      Sie lehnte sich matt in ihre Ecke zurück, und neue Tränen perlten über ihr blasses, übernächtigtes Gesicht.

      Eginhard fühlte sich mit einemmal zu der jungen Frau ganz seltsam hingezogen. Ihre zwanglose Aufrichtigkeit gefiel ihm. Dieses Mädchen war offenbar eine Vollnatur, ein energischer, gefestigter Charakter.

      „Seit gestern früh?“ fragte er daher unter Vermeidung jeder Phrase von Beileid, Bedauern oder dergleichen.

      Sie trocknete schnell die Tränen.

      „Ja. – Vielleicht werden Sie nun denken, ich mache mir unnötige Sorgen, weil mein Vater doch vielleicht von selbst zurückkehren könnte. Aber …“

      Sie beendete den Satz nicht, da wieder ein trostloses Schluchzen ihre Stimme erstickte.

      Eginhard hatte tiefes Mitleid mit der Ärmsten. Er witterte hier sozusagen ein düsteres Geheimnis, und er war auch bereits entschlossen, ihr um jeden Preis beizustehen.

      „Beruhigen Sie sich, meine Gnädige“, sagte er herzlich. „Der Zufall hat uns hier zusammengeführt. Vielleicht ist es also auch des Schicksals Wille, daß ich Ihren Helfer spielen soll. Ich dränge mich niemandem auf, am wenigsten Damen. Aber es gibt Fälle im Leben, in denen mir eine innere Stimme sagt, daß hier höhere Fügung mitspielt. Weisen Sie meine Hilfe nicht zurück. Ich kann ein treuer Freund sein.“

      Sie hatte ihn, während er sprach, forschend gemustert. Sein gebräuntes, mageres Gesicht mit dem blonden, kurzen Schnurrbart und den grauen, klaren Augen flößte ihr Vertrauen ein. Mehr aber noch seine Worte. So hätte kein Herr geredet, der nur ein Abenteuer suchte. Hier kam alles aus ehrlich mitfühlendem Herzen.

      „Sie sind Offizier?“ fragte sie leise. Unwillkürlich war ihr der Satz über die Lippen geschlüpft.

      Eginhard ahnte, weshalb sie diese Frage tat. Er lächelte kaum merklich.

      „Allerdings. Aber trotzdem kein Mann, der selbst den Seelenschmerz einer Frau als Anknüpfungspunkt benutzt.“

      Sie wurde sehr rot.

      „So war das nicht gemeint“, sagte sie verlegen. Und fuhr hastig fort: „Ich bin ganz ohne Bekannte oder Verwandte, obwohl wir bereits acht Jahre in Wannsee wohnen. Wenn Sie mir also wirklich raten wollten …“

      Der Zug hielt plötzlich auf offener Strecke. Ein Schaffner lief aufgeregt nach der Lokomotive hin.

      Eginhard ließ das Fenster herab und beugte sich hinaus, da die junge Dame durch die Fahrtunterbrechung sichtlich beunruhigt schien.

      Da wand der Baron sich ihr wieder zu:

      „Eine Kiefer ist beim Fällen über die Geleise gestürzt. Das dürfte einige Minuten Aufenthalt geben. – Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Gnädigste? Wollen wir aussteigen und zu Fuß nach Wannsee gehen. Weit haben wir’s nicht mehr. Unterwegs ließe sich leichter besprechen, was ich in Ihrem Interesse tun könnte.“

      Sie zauderte, griff dann aber nach ihrem Regenschirm und erklärte:

      „Gut – ich bin einverstanden.“

      Das Paar, das so ohne weiteres den Weg zu Fuß fortsetzte, erregte natürlich Aufsehen, zumal Blendel bei seiner Größe ohnehin auffiel.

      Im nächsten Wagen zweiter Klasse hatte ein Herr gesessen, der, als er die beiden bemerkte, schnell aufstand und ihnen gespannt nachblickte. Er lehnte sich jetzt sogar zum Fenster hinaus und murmelte irgendetwas vor sich hin.

      Die Beiden schritten auf dem Waldpfade dicht am Bahndamm entlang, und als sie nun hinter einer Biegung verschwanden, machte der Herr Miene, gleichfalls auszusteigen. Aber es war zu spät. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

      Inzwischen hatte die Begleiterin Eginhards mit derselben charaktervollen Offenheit das Gespräch begonnen.

      „Ich glaube kaum, Herr Oberleutnant, daß Sie als Offizier mir bei allem guten Willen werden helfen können. Oder aber, Sie müßten über Dinge unterrichtet sein, die ganz außerhalb Ihres Berufes liegen. Was ich brauche, ist ein Anwalt, dem man unbeschränktes Vertrauen entgegenbringen kann, der absolut verschwiegen ist und dabei für seine Bemühungen nicht gerade ein fürstliches Honorar fordert. Könnten Sie mir einen solchen Herrn empfehlen?“

      Der Baron antwortete nicht gleich. Dann sagte er nachdenklich:

      „Es ist wirklich seltsam: vor kaum zwölf Stunden habe ich einen alten Freund nach Jahren wieder getroffen, dem in seiner Lage auch nur mit einem Manne von besonderen Fähigkeiten gedient war. Es handelt sich um einen Unglücklichen, der zu Unrecht verurteilt worden ist und der natürlich schnellsten seinen ehrlichen Namen wiedererhalten soll. Also eine ziemlich dunkle Geschichte! Und nun bringt uns das Schicksal zusammen, und alsbald merke ich, daß auch Ihr Herzeleid ähnlicher Natur ist, – ich meine, mit einem Geheimnis oder dergleichen zusammenhängt. Meinem Freunde konnte ich schnell den richtigen Arzt nennen. Bei Ihnen, Gnädigste, versage ich leider. Einen Anwalt, wie Sie ihn wünschen, kenne ich wirklich nicht.“

      Die junge Dame hatte wie erstaunt den Kopf gehoben, als ihr Begleiter seinen Freund Werner Lossen erwähnte, ohne allerdings dessen Namen zu nennen.

      „Sie vermuten ganz richtig“, meinte sie dann leise. „Es handelt sich bei dem Verschwinden meines Vaters tatsächlich um eine Verkettung von Ereignissen, die ich in ihrer wahren Bedeutung bisher nicht durchschaut habe, von denen ich aber weiß, daß sie das Leben meines Vaters vergiftet haben, mich zur Einsamkeit verdammten und unser Haus zur Stätte aller möglichen unheimlichen Geschehnisse machten.“

      Jetzt war es Blendel, der die Damen halb erschreckt musterte.

      „Ihre Andeutungen lassen die weitgehendsten Schlüsse zu“, sagte er nach kurzer Pause. „Seien Sie aufrichtig, meine Gnädige: Sie fürchten für das Leben Ihres Vaters?“

      Sie nickte unter Tränen.

      „Ja – ja!“ sagte sie erregt, während sie den Blick über die Baumwipfel hinweg wie hilfeflehend in den klaren, tiefblauen Himmel richtete. „– Ja, ich fürchte das Schlimmste …! Oh mein Gott – wenn ich nur wüßte, was ich tun soll …?! Mein Vater hat mir ja so streng verboten, mich je um seine Angelegenheiten zu kümmern – was auch kommen mag! So und so oft hat er mir das gesagt … Und er war doch sonst so zärtlich, so besorgt, wir waren ja wie zwei gute Kameraden … Nur in diesem Punkte blieb er stets verschlossen. Und dabei war’s ja gerade das, was mir nie Ruhe ließ, – nie … nie …, eben das Geheimnis, das Unaufgeklärte, Dunkle, das wie ein Gespenst in unserem Hause umherschlich …“

      Der Zug brauste an ihnen vorüber. Dann sprach sie weiter:

      „Sie sollen wissen, wer ich bin. Ich muß mich mit jemandem aussprechen … Sonst vergehe ich vor Angst und Gram. Ich heiße Charlotte Oltendorf. Mein Vater …“

      Der Baron war plötzlich stehen geblieben.

      „Oltendorf – Oltendorf?“ sagte er überlaut. „Habe ich mich verhört?“

      Sie schaute ihn voll steigender Unruhe an.

      „Ja, – Charlotte Oltendorf“, erklärte sie. „Aber – kennen Sie etwa meinen Vater, oder …“

      Eginhard Blendel hob wie beschwörend den Arm.

      „Höhere Fügung!!“ sagte er mit Nachdruck. „Und all das binnen zwölf Stunden – all das!! – Denken Sie, gnädiges Fräulein: mein Freund heißt … Werner Lossen!!“

      Das junge Mädchen zuckte zusammen.

      „Werner

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