Скачать книгу

Carmen hatte sich angeboten, sich um Nine zu kümmern – aber würde sie mit der Stute zurecht kommen? Ich kannte das Mädchen ja überhaupt nicht – war sie wirklich so kompetent, wie sie vorgab? Aber andererseits – was hätte ich sonst tun können? Wie ich es auch drehte und wendete, mir blieb nur eines übrig – ich musste Carmen vertrauen. Es würde schon alles gut gehen, dachte ich.

      Am ersten Tag wühlte ich mich durch einen Berg Geburtsurkunden von Berliner Kindern. Die Forscher saßen an langen, altmodischen Bänken, die in Zweierreihen hintereinander aufgestellt waren. Auf den Pulten lagen Stapel von Akten. Blatt für Blatt wurde in die Hand genommen, mit den Augen abgetastet und zur Seite gelegt. Hin und wieder steckten sie einen schwarzen „Reiter“ zwischen die vergilbten Blätter und notierten sich die Paginierung für den Kopierauftrag. Alle Leute arbeiteten konzentriert und schnell, die Luft war staubig und verbraucht. Niemand hob den Blick über die Aktenberge, niemand sprach, nicht einmal ein Wispern war zu hören. Es war, als laufe die Zeit rückwärts. Nach getaner Arbeit verließen die meisten grußlos den Raum, so als wollten sie die Spuren der Vergangenheit so schnell wie möglich von sich abschütteln.

      Wie aus einer anderen Welt hörte ich plötzlich die Melodie meines Handys. Wieder mal vergessen abzustellen! Blicke so scharf wie Pfeilspitzen trafen mich von allen Seiten, aber es waren ja keine echten und Blicke können eben doch nicht töten. Ich spürte eine angenehme Erregung und erwischte mich bei dem Gedanken, es sei der Kollege mit der gestylten Igelfrisur, der mir vorhin so aufmunternd zugelächelt hatte. Schnell stand ich auf und verließ den Saal. Auf dem Flur drückte ich die grüne Taste und hielt mir den Apparat ans Ohr. Natürlich war er es nicht – woher sollte er auch meine Handynummer haben? Alles, was ich hörte, war Pferdegewieher, nichts weiter. Auf einmal war die Leitung unterbrochen. Ich ging zurück in den Lesesaal, um meine Akten wegzuräumen und um neues Material für morgen zu bestellen. Dann machte ich mich auf den Weg zu Sven. Unterwegs versuchte ich, Gerson zu erreichen. Vielleicht konnte er sich auf das Pferdegewieher in der Telefonleitung einen Reim machen. Aber ich erreichte nur die Mail Box. Wenn er unterwegs auf Phototour war, stellte er sein Handy ab.

      „Ich habe schon angefangen zu kochen“, sagte er. „Es dauert nicht mehr lange.“ Die Tortellini köchelten vor sich hin, ich schnitt Tomaten für den Salat und sah Sven zu, wie er eine Flasche gut gekühlten Prosecco entkorkte. Svens Freundin Bina entspannte sich für drei Tage auf einem Workshop in Heiligengrabe, einem ehemaligen Stift für adlige Fräulein, das nach der Wende zu einem spirituellen Tagungszentrum umgebaut worden war, und wir hatten den ganzen Abend für uns.

      Sven wirkte ausgeglichen und liebenswürdig, so wie ich ihn in Erinnerung hatte und er sah zufrieden aus. Er stellte zwei Gläser auf seinen blanken Buchenholztisch und goss ein.

      „Auf deine Adoptivkinder und alle anderen Kinder und natürlich auf Nine-Days-Wonder.“

      Weil ich es kaum erwarten konnte, von meinem neuen Leben zu berichten, achtete ich nicht so genau auf Svens Trinkspruch, denn sonst wäre mir gleich aufgefallen, dass Sven irgendetwas von Kindern gesagt hatte – es hatte fremd geklungen, schien nicht zu Sven zu passen, Kinder hatten in Svens Leben noch nie eine Rolle gespielt. Vielleicht wollte ich nicht, dass sich an meinem Bild, das ich von ihm hatte, etwas änderte. Sven hörte mir zu, er hatte schon immer die Fähigkeit besessen, anderen zuzuhören und doch kam es mir vor, als ob er an etwas anderes dachte. Vielleicht interessierten ihn meine Pferdegeschichten nicht besonders, da wäre er nicht der einzige. Während wir aßen, trafen sich unsere Blicke. Es hatte nichts mit mir zu tun, dachte ich und ich fühlte mich wohl und geborgen. Da hob Sven sein Glas. „Ich will dir etwas verraten, obwohl Bina meint, es sei noch zu früh – wir bekommen ein Kind – ein Mädchen!“

Fotolia_16677407_M

      „Sorry, habe bis heute Abend zu tun“. Als ich Montagfrüh nach Hause kam, lag der Zettel auf dem Küchentisch. Ich hatte den Nachtzug genommen, weil ich noch vor der Arbeit zu Nine hinausfahren wollte. Der mysteriöse Anruf mit dem Pferdewiehern klang mir immer noch im Ohr, ich musste einfach so schnell wie möglich nach dem Rechten sehen.

      Vor kurzem noch wäre ich enttäuscht gewesen, dass er bei meiner Ankunft nicht zuhause war, aber jetzt spürte ich so etwas wie Erleichterung, ich brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen und konnte gleich in den Stall fahren. Das Büro konnte warten bis heute Nachmittag, dachte ich, schließlich hatte ich in Berlin einige Überstunden im Archiv abgesessen.

      Es war kurz vor 10 Uhr, der morgendliche Stau auf der Berliner Straße und der Ernst-Walzbrücke hatte sich schon lange aufgelöst. Es war, als hätten alle Ampeln für mich eine grüne Welle eingestellt, nirgendwo musste ich anhalten. Für die touristischen Attraktionen unserer Stadt hatte ich keinen Blick, das Schloss lag ohnehin breit und behäbig wie immer auf seinem Hügel über dem Neckar und würde auch morgen nichts an seiner Lage verändert haben. Ich wollte nur eines – so schnell wie möglich zum Leierhof kommen, um Nine zu begrüßen.

      Doch die Erste, die gleich, als ich aus dem Auto stieg, auf mich zukam, war Carmen

      „Alles ist gut gegangen“, sagte sie strahlend. „Nine-Days-Wonder“ – sie betonte jedes einzelne Wort und bemühte sich um eine korrekte Aussprache – „ist richtig lieb gewesen. Echt! Du kannst öfter mal verreisen. Nine ist ein Schatz, eine süße Maus, ach Quatsch – ein Goldpferd.“

      Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr wundern sollte – darüber, dass Nine angeblich so brav war, oder darüber, dass Carmen ohne irgendwelche Umstände zum „Du“ übergegangen war.

      „Und Nine hat mich wirklich nicht vermisst?“ fragte ich vorsichtig.

      „Nein“, sagte sie. „Soll ich Nine gleich nach deiner Reitstunde absatteln?“

      Ich schaute sie wortlos an und schüttelte den Kopf. Was sollte diese Frage? Hilfe beim Absatteln? Wofür hielt sie mich eigentlich? Da gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder für total vergreist oder für eine Anfängerin.

      „Absatteln kann ich allein.“

      Gleich darauf bereute ich meinen unfreundlichen Ton – was hatte Carmen mir eigentlich getan? Sie hatte mir doch nur geholfen, und geleistete Hilfe erforderte Dank.

      „Ich melde mich wieder bei dir“, sagte ich, aber Carmen hatte sich schon umgedreht.

      Nine stand gleichgültig in ihrer Box und kaute beharrlich an ihrem Heu. Kaum hatte ich sie am Putzplatz angebunden, ließ sie beide Ohren schlapp herunterhängen, entlastete den rechten Hinterfuß und fing an zu dösen. Ich striegelte ihr Fell, es kam mir merkwürdig matt vor. Aber was war das? In der Mitte des Halses entdeckte ich ein kleines kahlgeschorenes Viereck, als hätte da einer die Schärfe seines Rasiermessers ausprobiert. Vor meiner Abreise hatte Nine diese Stelle noch nicht gehabt. Ich schaute mich nach Carmen um, aber ich sah nur ihre beiden Freundinnen Penny und Mascha rauchend in der Sonne stehen. Als ich ihnen die Stelle zeigte, schauten sich die beiden vielsagend an und zuckten die Achseln. Immerhin ließ sich Penny dazu herab, mit dem Zeigefinger über das kleine Viereck zu streichen.

      „Mindestens fünf Tage alt“, sagte sie mit einem unbewegten Gesichtsausdruck, der sehr professionell wirkte.

      „Wir müssen los!“ Die beiden Mädchen drehten sich um und flöteten mir ein zuckersüßes ‚Tschü-üü-ss’ zu. Ich kam mir ziemlich blöde vor, weil ich mir sicher war, dass die beiden etwas vor mir verbargen. Was es war, würde ich nicht herausbekommen, sie hielten doch zusammen wie Pech und Schwefel. Wo steckte eigentlich Carmen? Sie war wie vom Erdboden verschwunden, wenn ich sie einmal brauchte, war sie nicht zu finden! Ich schaute auf die Uhr und bekam einen Schreck – es war zehn Minuten vor 12 Uhr. Um 12 hatte ich eine Reitstunde mit Roberto Kraus verabredet.

      Schon von weitem hörte ich die Kommandos. Ich erkannte die Reiterin sofort wieder. Sie übte die gleiche Dressuraufgabe wie bei meinem ersten Besuch auf dem Leierhof. Und genau wie damals verspannte sich das Pferd bei den fliegenden Galoppwechseln vor dem Umspringen auf die linke Seite. Auch an die

Скачать книгу