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aufgefallen. Aber es war nicht nur seine Aussprache, die mich verstörte. Er war von hünenhafter Gestalt und sein schwarzer Vollbart verdeckte seine Züge fast vollständig, was ihm etwas Verschlagenes gab. Nur seine eisblauen Augen stachen wie zwei kalte Sterne aus dem Gesicht hervor. Und wie er das leidende Pferd mit seinen Fußtritten traktiert hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf. Plötzlich fiel mir ein, dass ich gestern Abend vergessen hatte, nach der Tränke zu sehen – es kam oft genug vor, dass die Pferde Stroh hineinstopften, dann waren die Tiere die ganze Nacht ohne Wasser. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Wassermangel ein Grund für Koliken sein konnte, wenn Nine anfällig für Bauchschmerzen wäre, dann hätte ich allen Grund zur Besorgnis.

      Gerson schlief noch, als ich mich anzog. Unter der dünnen Decke bildeten sich die Formen seines Körpers ab. Er lag mit angezogenen Beinen auf der Seite wie ein Kind, hatte die Finger zu einer Faust geballt und den Daumen über den Mund gelegt. Das Bild rührte mich, aber ich riss mich von diesem Anblick los – auf Zehenspitzen schlich ich in die Küche. Normalerweise frühstückten wir samstags zusammen. Frische Brötchen, Feigenmarmelade, Milchkaffee und Spiegeleier. Gerson holte die Zeitung aus dem Briefkasten, ich schnappte mir das Feuilleton, Gerson den Politikteil und wir lasen uns gegenseitig die Schlagzeilen vor. Doch dazu war heute Morgen keine Zeit.

      Als Gerson noch im Pyjama in die Küche kam und sich verdutzt die Augen rieb, stellte ich gerade meine Tasse in die Spülmaschine. „Ich bin schon seit einer Ewigkeit wach“, sagte ich. „Ich bin bestimmt wieder zurück, wenn du mit frühstücken fertig bist!“ Ohne seine Antwort abzuwarten, packte ich meine Reitstiefel und verließ das Haus. Ich hatte das dringende Bedürfnis, nach Nine zu sehen, schließlich hatte sie die erste Nacht in einer fremden Umgebung verbracht und wer weiß, was ihr da alles hatte zustoßen können.

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      Auf dem Leierhof traute ich meinen Augen kaum. Nines Stalltür war mit einem leuchtend gelben Kranz aus Löwenzahn geschmückt, davor stand ein Sack mit frischen Karotten, in dem ein Fähnchen mit der Aufschrift „Herzlich Willkommen“ steckte. Nine stand kauend vor einem riesigen Haufen duftenden Heus und lies es sich schmecken. Von mir nahm sie keine Notiz, auch dann nicht, als ich die Schiebetür öffnete und die Stute von oben bis unten musterte.

      „Stockmaß einssiebzig?“

      Ich sah mich um.

      „ Hi!“

      Vor mir stand Carmen in Reitstiefeln, engen Reithosen und einem kurzen T-Shirt, mit der Aufschrift „Leierhof“. Ihr blondes kurzgeschnittenes Haar und ihre schlanke, aber kräftige Figur wirkten knabenhaft, aber ihre Oberweite erinnerte mich an Marilyn Monroe in „Misfits“, wie sie hinter Clark Gable und den wilden Mustangs her war.

      „Mit Ihrer Stute habe ich mich inzwischen bekannt gemacht – es scheint ihr bei uns zu gefallen.“

      „Ein Meter achtundsechzig“, sagte ich erleichtert, „sie ist kein bisschen gewachsen.“

      Carmen, der die innere Logik meiner nächtlichen Gedankengänge verborgen blieb, sah mich erstaunt an. Ich entschuldigte mich bei ihr, dass ich mich gestern nicht richtig vorgestellt hatte.

      „Ich bin Vera Roth und das ist Nine-Days-Wonder, oder einfach Nine. Je nachdem.“

      „Doch nicht etwa eine Nerwa-Tochter?“

      „Genau.“

      „Sie hatten bestimmt schon Erfolge mit ihr?“

      Ich tätschelte Nine, die mir einen schrägen Blick zuwarf, den Hals und tat so, als ob ich sie nicht gehört hätte. Wahrscheinlich war es gar nicht so sehr ihre Frage, als das „Sie“. Warum duzte mich das Mädchen eigentlich nicht? Sah ich schon so alt aus, dass man mich siezen musste? Oder hatte ich mit meinem Uni-Job jetzt endgültig die Fronten gewechselt und gehörte zum Establishment? Ich siezte meine Chefin und ein paar ältere Respektspersonen, die ich an einer Hand abzählen konnte, aber auf dem Reitplatz gab es für mich kein „Oben“ und „Unten“. Uns verband doch alle die Liebe zu unseren Pferden, und das machte uns alle irgendwie gleich.

      Aber wenn Carmen mich unbedingt siezen wollte, bitteschön – dann musste ich es auch tun.

      „Und welches Pferd reiten Sie?“, fragte ich.

      Carmens Stirn verdüsterte sich. Ihr Pflegepferd sei leider eingegangen. Woran wusste sie nicht, die Besitzerin habe mit ihr nicht darüber gesprochen. Sie, Carmen, sei eines Tages in den Stall gekommen und habe das Pferd nicht mehr vorgefunden.

      „Das war schlimm“, sagte Carmen. „Aber jetzt kann ich eben wieder besser für die Schule lernen. Ich mache ja auch bald Abitur“, fügte sie hinzu und wollte offenbar noch mehr von sich erzählen, als wir unterbrochen wurden.

      „Hallo, ich bin Liberty.“

      „Ihr – ich meine dein – Name klingt amerikanisch, habe ich recht?“

      Liberty lachte. „Oh, ja, ich komme aus Laramie, Wyoming. Myboy und ich sind schon seit zwei Jahren hier.“ Das Auffälligste an Liberty waren ihre stahlblauen Augen, die sie wie Pfeile auf mich richtete.

      „Darf ich?“, fragte sie mit einem Blick auf Nine. Ohne meine Antwort abzuwarten, hielt sie der Stute eine Rübe hin.

      Plötzlich wirkte Liberty irgendwie abgelenkt. Ihr breites Grinsen verschwand und um ihren Mund zeigte sich ein bitterer Zug, der ihr etwas Strenges gab. „Ja, ich komme“, murmelte sie, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in Richtung Koppeln.

      Carmen verdrehte die Augen und atmete tief durch. „Wahrscheinlich hat Myboy gerufen!“ sagte sie mit einem ironischen Lächeln. „Liberty ist Tierschützerin.“

      Sie hielt unsere Stallgenossin für nicht ganz dicht, das merkte ich deutlich – aber warum? Eigentlich fand ich sie ganz sympathisch in ihrem karierten Hemd und ihrem roten Halstuch. Ihre blonden, von grauen Strähnen durchzogenen, kinnlangen Haare, die ihr in Ponyfransen in die Stirn fielen, gaben ihr etwas Verwegenes. Sie schien sich mit Pferden auszukennen und viel Zeit auf dem Hof zu verbringen, das zeigte mir ihr sonnengegerbtes Gesicht.

      „Ja“, sagte Carmen, „sie geht über Leichen, wenn sie glaubt, dass ein Pferd schlecht behandelt wird. Und sie kann mit Tieren sprechen – wenigstens behauptet sie es.“

      „Was es nicht alles gibt.“ Ich schaute zerstreut auf die Uhr. Gerson war natürlich schon mit dem Frühstück fertig. Wenn ich jetzt nicht anfinge, zu satteln, würde ich nicht einmal mehr rechtzeitig zum Mittagessen kommen. Und Gerson hatte bestimmt nicht daran gedacht, einzukaufen, also musste ich auf dem Weg nach Hause noch beim Supermarkt vorbeifahren.

      Doch Carmen wich mir nicht von der Seite. Sie zeigte mir die Sattelkammer und erklärte mir die wichtigsten Gebäude. Vom Putzplatz aus schaute man auf die Wohnung des Pferdepflegers Iwan. Der Reitlehrer wohnte nicht auf dem Hof, sagte Carmen, er benutzte dort nur ein Zimmer, um in der Mittagspause zu vespern.

      Das Mädchen hatte sich mindestens schon eine Stunde lang mit mir beschäftigt, obwohl sie doch betont hatte, dass sie viel für die Schule lernen müsse und kaum Zeit mehr für den Reitstall habe. Carmen schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie sagte plötzlich: „Okay – ich habe noch etwas zu tun – wenn Sie irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich ruhig an mich!“

      Erleichtert nickte ich. Endlich konnte ich mich in Ruhe meinem Pferd widmen. Doch gerade als ich Nine den Sattel aufgelegt hatte, sah ich mich von drei Reiterinnen umringt. Jede schwenkte ein Sektglas und auch mir wurde eines in die Hand gedrückt.

      „Willkommen auf dem Leierhof!“ Eine nach der anderen gab mir die Hand und nannte ihren Namen, den ich sofort wieder vergaß. Ich merkte mir nur, dass sie schon seit Ewigkeiten ihre Pferde auf dem Leierhof stehen hatten, auf dem Hof schienen sie den Ton anzugeben. Ich schätzte die drei auf Mitte vierzig, vielleicht sogar ein bisschen älter, ihre Reitwesten verdeckten vorteilhaft die ersten Fettpolster um

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